Multimodale Schmerztherapie ökonomisch relevant?

Einzug der Behandlung chronischer Schmerzpatienten auch in Österreich

Obwohl die multimodale Schmerztherapie (MMSTh) als wesentliche Bereicherung in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten nun auch in Österreich Einzug gehalten hat, werden Fragen nach Kosten und Finanzierbarkeit chronischer Erkrankungen weiter auf der Tagesordnung stehen. Wenn man die Karriere vieler Schmerzpatienten durchleuchtet, muss es oberstes Ziel sein, bei Personen im erwerbsfähigen Alter eine Chronifizierung zu vermeiden, um sie im Erwerbsleben halten zu können.
Im Klinikum Klagenfurt am Wörthersee werden seit Mai 2012, basierend auf dem biopsychosozialen Schmerzmodell, Patienten mit chronischen Schmerzen des Muskuloskelettal­systems und chronischen Kopfschmerzen behandelt. Zweimal jährlich besteht ein Gruppenangebot für Personen mit komplexen somatoformen Schmerzstörungen.

Patientenkarriere: Weltweit absolvieren Schmerzpatienten monate- bis jahrelange Odysseen, bevor sie entsprechende Diagnosestellung und Behandlung erfahren.1 Das Positionspapier der Fit for Work Europe Coalition von Juli 20122 stuft das Risiko, durch Erkrankungen im Muskuloskelettalbereich in der Arbeitslosigkeit zu enden, dreifach höher als in der Normalbevölkerung ein.

Österreich: 2011 litten 1,76 Mio. Österreicher (21 % von 8,4 Mio.) unter chronischen und davon 528.000 (30 %) unter Rückenschmerzen. 246.000 (50 %) werden im Verlauf ihres Arbeitslebens aufgrund von chronischen Rückenschmerzen vorzeitig pensioniert. 2011 wurden 8.777 (31,07 %) unselbstständig Erwerbstätige wegen Erkrankungen des Muskuloskelettalsystems vorzeitig pensioniert (Quellen: Statistik Austria, Pensionsversicherungsanstalt). Dramatisch waren die Neuzugänge bei den Selbstständigen: 55,80 % (2.431) der 4.380 Neuzugänge bei den Erwerbsunfähigkeitspensionen erfolgten aufgrund von Muskuloskelettalerkrankungen. Im Jahresdurchschnitt 2011 wurden lt. Mikrozensus* 4.143.900 Erwerbstätige erfasst, davon waren 3.574.000 unselbstständig Erwerbstätige, 482.600 selbstständig Erwerbstätige und 87.000 mithelfende Personen.

Gefährlicher Zeitverlust

Laut dem Pain Proposal Patient Survey (Juli–September 2010)3 dauert es im europäischen Schnitt (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien) 2,2 Jahre, bis Schmerzpatienten eine adäquate Diagnosestellung erfahren. 16 % der Patienten erfahren keinerlei Diagnostik, bei 11 % vergehen bis zu einer Diagnosestellung 5–10 Jahre und mehr. Chronische Schmerzpatienten frequentieren daher auch häufiger Gesundheitseinrichtungen.4 Ein Schmerzpatient hat bis zu sieben (6,8) Arztkontakte, 22 % sogar zehn und mehr. In Österreich werden Arztpraxen durchschnittlich acht Mal pro Jahr frequentiert. Nach der Diagnosestellung erhalten nur 15 % der Patienten innerhalb von 3 Monaten eine entsprechende Therapie, jeweils 20 % innerhalb eines Zeitraumes von 3 Monaten und einem Jahr bzw. einem und fünf Jahren. 38 % der Betroffenen erhalten keine adäquate Behandlung.
In Österreich dauert es bis zur Diagnosestellung durchschnittlich 1,7 Jahre und weitere 1,9 Jahre bis zu einer entsprechenden Behandlung. 18 % der Patienten erfahren keine Diagnosestellung, 23 % keine adäquate Behandlung. Durchschnittlich stufen Schmerzpatienten ihre Beeinträchtigung beim Verrichten alltäglicher Dinge bei 6,4 (Referenzwerte 1–10), in Österreich bei 5,9 ein.5

Die Folgen: Durch wiederholte Krankenstände sinken die Chancen einer Wiedereingliederung ins Erwerbsleben, wobei 80 % der von chronischen Schmerzen dominierten Patienten aktiv zum Gesellschafts- und Erwerbsleben beitragen wollen.5
Die Neigung zu katastrophisieren, schwindende Selbstwirksamkeitserwartung und Rückzugs­tendenzen sowie eine verstärkte Prädisposition zu depressiven Erkrankungen verschärfen zusätzlich die Problematik. Das Gefühl, den chronischen Schmerzen hilflos ausgeliefert zu sein und unter anhaltenden Schlafstörungen zu leiden, erhöht zusätzlich das Selbstmord­risiko chronischer Schmerzpatienten im Vergleich zu Nichtbetroffenen.3, 6 Der nicht zu unterschätzende Motivationsfaktor, am Status quo etwas zu ändern, ist vor allem bei Personen mit laufendem Pensionsverfahren zu berücksichtigen. Obwohl im einzelnen Fall offene und kritische Gespräche geführt werden, scheint der Wert des latenten oder manifesten sekundären Krankheitsgewinnes zu überwiegen. Daher sind solche Patienten kaum zu beeinflussen und nur bedingt für eine multimodale Schmerztherapie geeignet.7 Erfahrungsgemäß kommt es auch nach einer befristeten Pensionierung zu keiner Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit, wobei Alter und Qualifikationsgrad nicht unwesentlich daran beteiligt sind. Unrealistisch hohe Patientenerwartungen können auf das Behandlungsergebnis zusätzlich erschwerend einwirken. Diese müssen entsprechend empathisch pariert werden.3, 1 Schlussendlich gipfelt ein chronifizierter Prozess im Erreichen einer Erwerbsunfähigkeits-, Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension, häufig mit anhaltender sowohl psychischer als auch sozialer Notlage.8

Die Kosten

Die Abb.9 zeigt den eklatanten Anstieg der direkten und indirekten Kosten bei Rückenschmerzpatienten in den USA. Amerikanische Studien ergaben auch, dass jeder zwischen 1980 und 2000 in das Gesundheitswesen investierte Dollar in Form von höherer Lebenserwartung und verbesserter Gesundheit einen Ertrag von 1,5 bis 2 Dollar erwirtschaftete.10

 

 

Für Erkrankungen des Muskuloskelettalsystems werden bis zu 2 % des BIP aufgewendet. In Österreich würde dies bei einem Jahres-BIP von 237 Mrd. Euro einer Ausgabenhöhe von 5,5 Mrd. Euro entsprechen. Dieses Krankheitsbild zeichnet ursächlich für den Verlust von 660.000 Jahresarbeitstagen, die der Hälfte an Fehltagen entsprechen. Die Kosten der bei chronisch nicht spezifischen Rückenschmerzen anfallenden Krankenstandstage werden somit mit etwa 400 Mio. Euro veranschlagt.11 Bei nur 5 % zur Chronifizierung neigender Schmerzpatienten beläuft sich die Schätzung der direkten Kosten in Österreich zwischen 1,4 und 1,8 Mrd. Euro.
Die rein ökonomische Betrachtung chronischer Erkrankungen belegt zwar, dass sowohl die direkten als auch die indirekten Krankheitskosten bei Erwerbsfähigen erheblich in die Höhe schnellen, allerdings ist eine exakte Kalkulation der gesamteuropäischen und österreichischen Kosten in Ermangelung umfassender Daten nicht möglich. Interessens- und Finanzierungskonflikte in voneinander getrennt agierenden Ressorts lassen trotz gegenseitiger Auswirkungen eine Gesamtsicht auf alle Kostenkomponenten von Erkrankungen vermissen. Dies schreit förmlich nach einem auf Gemeinsamkeit bedachten System.

An direkten Kostentreibern, die etwa ein Drittel betragen, sind auszumachen: Medikation, inadäquate Selbstmedikation und Fehlbehandlungen, (wiederholte) Arztkonsultationen, Spitalsaufenthalte, Kosten für Physiotherapie und rehabilitative Verfahren, Folgekosten durch ineffiziente Behandlungsverfahren und daraus resultierende Komplikationen (Ulcera, GI-Blutungen …), zusätzliche Aufwendungen für Patienten und Angehörige (Umbaukosten, Hilfsmittel, Haushaltshilfen, Transportkosten).

Wesentlich gravierender schlagen mit zwei Dritteln die indirekten Kosten zu Buche, die sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft betreffen: Belastung sowohl der Sozialversicherungsträger durch Krankenstand und Arbeitsunfähigkeit als auch der Arbeitgeber durch Produktivitätsverlust („presenteeism“, „absenteeism“) und vorzeitige Pensionierung bzw. vorzeitiger Tod, Kosten für soziale Betreuung, Hauskrankenhilfe, Betreuung durch Familienangehörige oder Freunde/Bekannte mit für diese daraus resultierenden Einkommenseinbußen und eine Reduktion der Lebensqualität sowohl der Patienten als auch der ihnen nahestehenden Personen. Die beiden letzten Punkte werden auch unter dem Begriff intangible Kosten angeführt und haben wesentliche gesellschaftliche Auswirkungen. Da deren Höhe und Ausmaß nicht exakt berechenbar ist, finden sie in der Regel in ökonomischen Kalkulationen keine Berücksichtigung.10, 12

Ein isoliertes Betrachten der Gesundheitsausgaben ist insofern nicht zielführend, als daraus Fehlentscheidungen resultieren können: Kurzfristig reduzierte Gesundheitsausgaben ziehen längerfristig betrachtet unter Umständen höhere Gesamtkosten nach sich und belasten folglich die gesamte Bevölkerung. Leistungserbringer und Innovatoren fokussieren darauf, den Gesundheitszustand der Patienten zu verbessern und bewirken somit eine Reduktion der indirekten und intangiblen Kosten, während das Hauptaugenmerk der Sozialversicherungsträger auf reduzierten Gesundheitsausgaben liegt.10

Bewährtes rechtzeitig einsetzen

Die Effizienz multidisziplinär getragener und wenigstens 100 Therapiestunden umfassender Behandlungen, etwa bei unspezifisch chronischen Rückenschmerzen, ist belegt.13, 14
Eine Verbesserung subjektiver Schmerzparameter wie Numerische Ratingskala (NRS), Schmerzempfindungsskala (SES), Pain Disability Index (PDI), Anxiety and Depression Scale (ADS) sowie die Rückkehr ins Erwerbsleben (RTW, „return to work“) ergaben eine signifikante Reduktion direkter und indirekter Krankheitskosten.15 Auch bei einer Gruppenstärke von 12 Patienten führte die MMSTh sowohl kurz- als auch langfristig zu signifikanter und klinisch relevanter Verbesserung von Schmerz­intensität, Lebensqualität und psychischen Faktoren. Bei chronischen Schmerzpatienten konnten stabile Behandlungsergebnisse, unabhängig davon, unter welcher Schmerzlokalisation die Patienten litten, erreicht werden.16 Die Erfolge multimodaler interdisziplinärer Therapieansätze scheinen sowohl mit der an das Bildungsniveau der Patienten adaptierten Informationsübermittlung als auch einer vorbestehenden Arbeitsplatzzufriedenheit assoziiert zu sein.17 Ein geringes Bildungsniveau gepaart mit beruflicher Minderqualifizierung sowie emotionaler Belastung kann allerdings zu einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit führen und damit das Risiko der Schmerzchronifizierung steigern.18, 19
Frymoyer führt an, dass sich die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr an den Arbeitsplatz nach über 6 Monaten Arbeitsausfall auf 50 %, nach 1 Jahr auf 20 % reduziert und in der weiteren Folge gegen null geht, so nicht entsprechend intensive Therapiemaßnahmen eingeleitet werden.18 Anreize für den beruflichen Wiedereinstieg nach einem 3–4-monatigen Krankenstand sind bei Männern neben der subjektiv verbesserten Gesundheit sowohl in sozioökonomischer Hinsicht als auch einer vorbestehenden Arbeitsplatzzufriedenheit zu finden.20
Folgende Kriterien sind ebenfalls als eindeutige Prädiktoren der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit anzusehen: Personen im Alter bis 44 Jahren mit einer geringen Anzahl vorausgegangener Krankenstände und dem klaren Vorsatz, in den Beruf zurückzukehren.21
So sind 6 Monate nach Therapieende Rückkehrraten an den Arbeitsplatz von über 70 % (17 von 23) bei Rückenschmerzpatienten dokumentiert.22 Langfristig verbesserte Ergebnisse sind erstrebenswert und entsprechend zu bahnen, wobei besonders minderqualifizierte Personen um die magische Altergrenze von 50 Jahren und darüber Perspektiven und Anreize zum Verbleib im Erwerbsleben brauchen (Zugangsmöglichkeiten zu beruflicher Rehabilitation auch ohne Berufsschutz), da bei dieser Altersgruppe, so sie einmal arbeitslos ist, die Reintegrationsrate faktisch bei null steht.

Schlussfolgerung: Das Erkennen einer Chronifizierung bereits bei der Erstversorgung oder nach längstens zweiwöchiger Erkrankungsdauer hat als Konsequenz eine multimodale, interdisziplinäre Therapie nach sich zu ziehen. Patienten mit einem erhöhten Chronifizierungsrisiko müssen rechtzeitig identifiziert und weitergeleitet werden. Psychosoziale Risikofaktoren („yellow flags“; Tab.) sind prognostisch wesentlich aussagekräftiger als körperliche Faktoren, werden allerdings in der aktuellen Versorgungspraxis nach wie vor in noch nicht ausreichendem Maße gewürdigt.

 

 

Zudem gilt es, gesundheits-, wirtschafts- und sozialpolitisch an einem Strang zu ziehen und mit einem gemeinsamen Ziel vor Augen bereit zu sein, auch in den Mokassins der Anderen zu gehen. Es ist an der Zeit, Schmerzpatienten frühzeitig eine effiziente Therapie angedeihen zu lassen, ihre Eigenverantwortlichkeit und das verbesserte Selbstmanagement wach zu halten, Perspektiven zum Verbleib bzw. beim Wiedereinstieg ins Erwerbsleben aufzuzeigen, umsetzbar zu gestalten und somit die Nachhaltigkeit der erzielten Therapieerfolge zu garantieren. Gerade dies ist in Anbetracht der internationalen Menschenrechte von Seiten der Verantwortungsträger zu berücksichtigen.23

 

1 Dewar AL et al., Chronic diseases in Canada 2009; 29:162–168
2 EU Reflection Process on Chronic Diseases: Supporting National Plans on Musculoskeletal Disorders. Ref. Ares(2012)288180; 12. 03. 2012
3 Baker M et al., Improving the current and future management of chronic pain. A European Consensus Report 2010
4 Blyth FM et al., Pain 2004; 111:51–58
5 InSites Consulting. Pain Proposal Patient Survey. July–September 2010
6 Tang NKY, Crane C, Suicidality in chronic pain: a review of the prevalence, risk factors and psychological links. Psychol Med 2006; 36:575–586
7 Arnold B et al., Schmerz 2009; 23:112–120
8 EFIC. Costs of Chronic Pain 2009; last accessed 13. 09. 2010
9 Göbel H, Schmerz 2001; 15:92–98
10 Telser H et al., Gesundheitsausgaben und Krankheitskosten, Interpharma/Polynomics Basel 2011
11 Vavrovsky A for the Academy for Value in Health GmbH, Impulsreferat vom 04. 12.2012: Die Auswirkungen von chronischem Schmerz in Österreich
12 Phillips CJ, Anesthesia 2001; 56:1031–1033
13 Guzmán J et al., The Cochrane Database of Systematic Reviews 2002; Issue 1, Art. No.: CD000963
14 Bertelsmann-Stiftung, Expertenpanel Rückenschmerz 2007
15 Grunt-Göschl C, Habelsberger W, SCHMERZ
nachrichten Nr. 3/12, ISSN 2076-7625 Nr. 3
16 Schütze A et al., Schmerz 2009; 23:609–617
17 Haase I et al., Schmerz 2012; 26:61–68
18 Frymoyer JW, Clin Orthop Relat Res 1992; 279:101–107
19 Grossi G et al., Pain 1999; 80:607–619
20 Giezen van der AM et al., Pain 2000; 87:285–294
21 Lindell O et al., BMC Family Practice 2010; 11:53
22 Pöhlmann K et al., Schmerz 2009; 23:40–46
23 Lohman D et al., BMC Med 2010; 8:8
* Der Mikrozensus ist eine Stichprobe mit Fünftelrotation, d. h. quartalsweise beendet ein Fünftel der Haushalte den Befragungszyklus und ein Fünftel neuer Haushalte beginnt damit. Die Basis zur Stichprobenziehung bildet das Zentrale Melderegister (ZMR), aus dem per Zufallsauswahl die Haushalte ausgewählt werden. Definition: Beim ILO-Konzept (International Labour Organisation) gilt eine Person als erwerbstätig, wenn sie in der Re­ferenzwoche mindestens eine Stunde gearbeitet oder wegen Urlaub, Krankheit usw. nicht gearbeitet hat, aber normalerweise einer Beschäftigung nachgeht. Personen mit aufrechtem Dienstverhältnis, die Karenz- bzw. Kindergeld beziehen, sind bei den Erwerbstätigen inkludiert. Als arbeitslos gilt, wer in diesem Sinne nicht erwerbstätig ist, aktive Schritte zur Arbeitssuche tätigt und kurzfristig zu arbeiten beginnen kann. Beim Lebensunterhaltskonzept geben die Respondenten ihren soziale Status selbst an. Nach diesem Konzept zählen bis 2003 Personen mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von mindestens 12 Stunden als erwerbstätig, ebenso Personen in Elternkarenz mit aufrechtem Dienstverhältnis; ab 2004 gilt ausschließlich Selbstzuordnung. Grundsätzlich beziehen sich die Daten auf die Wohnbevölkerung in Privathaushalten. Quelle: Statistik Austria, vom 13. 12. 2012