Positionspapier der Österreichischen Diabetes Gesellschaft: Therapie der Hyperglykämie bei erwachsenen, kritisch kranken Patienten


Bei akut kranken Patienten kommt es häufig zum Auftreten einer Hyperglykämie, welche die Mortalitätsrate unabhängig von einem vorbekannten Diabetes mellitus erhöht. Eine Unterscheidung der verschiedenen Ätiologien (bereits bekannter Diabetes, neu diagnostizierter Diabetes, krankheitsassoziierte Hyperglykämie) kann mit Hilfe der Anamnese bzw. des HbA1c-Wertes erfolgen, wobei bei einem HbA1c-Wert > 6,5 % mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem primär unerkannten Diabetes auszugehen ist. Nach Entlassung ist in jedem Fall eine exakte Evaluierung des Diabetesstatus notwendig.


Wann ist Insulin erforderlich?

In Analogie zu den aktuellen Konsensus-Statements der American Diabetes Association und der Endocrine Society sollte eine Insulintherapie bei kritisch kranken Patienten ab Blutglukosewerten von ≥ 180 mg/dl initiiert werden. Nach Beginn der Insulintherapie liegt der Glukosezielbereich zwischen 140 mg/dl und 180 mg/dl. Basierend auf der heute verfügbaren Datenlage gilt die kontinuierliche Insulininfusion nach wie vor als Mittel der Wahl für die optimale Blutzuckertherapie (Tab.).

 

Widersprüchliche Evidenz

Die wissenschaftliche Evidenz für diese Empfehlungen wurde innerhalb der letzten Jahre durch zahlreiche große Studien und Metaanalysen geschaffen. Dennoch wird die Qualität der Daten, darunter auch die der NICE-SUGAR-Studie1 und der „Van den Berghe“-Studien2, in einer Empfehlung des American College of Physicians als mittelmäßig eingestuft.3 Dieser Empfehlung zufolge existiert bis heute keine einzige Arbeit, deren Evidenz als hochwertig zu beurteilen wäre.
Im Rahmen der NICE-SUGAR-Studie1 (6.104 Patienten), welche zu den aktuellsten und auch größten Studien zählt, wurden die Effekte unterschiedlicher Blutzuckerzielwerte auf Mortalität untersucht. Am Beginn der Studie wurden die Patienten in eine intensivierte Therapiegruppe (81–108 mg/dl), und eine Standardtherapiegruppe (144–180 mg/dl) randomisiert. Die Patienten der intensivierten Therapiegruppe hatten, verglichen mit den Patienten der Standardgruppe, eine signifikant höhere 90-Tage-Mortalitätsrate (27,5 % vs. 24,9 %). Dieser Effekt war unabhängig von der Art der Intensivstation (Interne oder Chirurgie). Die Frequenz schwerer Hypoglykämien war in der intensivierten Therapiegruppe mit 6,8 % signifikant höher als in der Vergleichsgruppe mit 0,5 %. Eine aktuelle Publikation der Studiengruppe4 zeigt, dass die intensivierte Therapie mit mehr moderaten und schweren Hypoglykämien einherging, die wiederum mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko assoziiert waren. Allerdings ist aus diesen Daten kein Kausalzusammenhang ableitbar, sodass die genauen Ursachen für die gesteigerte Mortalität in der intensivierten Therapiegruppe weiterhin unklar bleiben.
Entgegen diesen Ergebnissen konnte eine Studie von Van den Berghe und Kollegen2 eine Reduktion der Mortalität durch eine intensivierte Blutzuckertherapie bei Patienten einer chirurgischen Intensivstation darstellen. In dieser Studie wurde Blutzuckerwerte von 80–110 mg/dl angestrebt.
Eine rezent durchgeführte Metaanalyse von Griesdale und Kollegen, welche die Daten aller wichtigen Studien beinhaltet, konnte eine relative Mortalitätsreduktion von 7 % zeigen, bewirkt durch eine intensivierte Insulintherapie.5 Entsprechend dieser Metaanalyse und den Daten von Van den Berghe et al. profitieren gerade Patienten chirurgischer Intensivstationen am meisten von einer strikten Blutglukosekontrolle (relatives Risiko = 0,63). Bei Patienten internistischer Intensivstationen lag das relative Risiko bei 1,0. Somit konnten weder vorteilhafte noch negative Effekte dargestellt werden.

Zu strenge Einstellung kontraproduktiv

In jedem Fall sollte ein Blutzuckerwert von 110 mg/dl nicht unterschritten werden. Dies gilt besonders deshalb, weil gerade bei intensivpflichtigen Patienten zahlreiche Risikofaktoren für das Auftreten von Hypoglykämien vorliegen. Zu diesen Faktoren gehören ein reduzierter Ernährungszustand, Komorbiditäten wie Herzinsuffizienz, Leber- und Niereninsuffizienz, Malignome, Infektionen oder Sepsis. Weiters können Hypoglykämien durch plötzliche Reduktion von hohen Glukokortikoiddosen, Übelkeit und Erbrechen sowie durch Modifikationen der enteralen und parenteralen Therapie getriggert werden. Anstatt nur behandelt, sollten Hypoglykämien bereits vor ihrem Auftreten antizipiert werden und eine Modifikation der Therapie sollte noch vor Beginn der Episode erfolgen.
Regelmäßige Blutglukosekontrollen sollten bei oraler Ernährung alle 4–6 Stunden erfolgen. Wird ein Patient mittels kontinuierlicher Insulinsubstitution behandelt, sollte die Blutglukose – je nach Blutzuckerspiegel, Insulindosis und Stabilität des Verlaufs – alle 30 Minuten bis 3 Stunden gemessen werden.

 

NICE-SUGAR Study Investigators, N Engl J Med 2009; 360:1283
Van den Berghe G., Clin Cornerstone 2003; 5:56
Qaseem A. et al., Ann Intern Med 2011; 154:260
NICE-SUGAR Study Investigators, N Engl J Med 2012;367:1108
Griesdale D.E. et al., CMAJ 2009; 80:821

Clodi M., Resl M., Abrahamian H., Föger B., Weitgasser R.

Positionspapier Therapie der Hyperglykämie bei erwachsenen, kritisch kranken Patienten.


Die Vollversion des Positionspapier ist auf der Internetseite der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) unter http://oedg.org/pdf/POS_Intensiv_Clodi_2011.pdf abrufbar und ist außerdem Teil der aktualisierten Praxisleitlinien der ÖDG (Wien Klin Wochenschr 2012; 124 (Suppl. 2).