ADA Scientific Sessions 2012 – Viel neue Evidenz für die Diabetestherapie

Rund 16.000 „Diabetes professionals“ aus aller Welt versammelten sich Anfang Juni in Philadelphia zur diesjährigen Wissenschaftlichen Jahrestagung der Amerikanischen Diabetesgesellschaft (ADA). In über 2.000 Beiträgen wurde ein Überblick über die aktuellen Möglichkeiten in Prävention, Diagnose und Therapie des Diabetes mellitus und seiner Komplikationen gegeben. Österreichische Autoren waren an 18 Abstracts (3 „Oral Presentations“, 15 Poster, 6 „Published-only“) beteiligt.

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Insulin kardiovaskulär „neutral“

Highlight des ADA-Kongresses war zweifellos die Erstpräsentation der ORIGIN-Studie, die klären sollte, ob eine früh eingeleitete Insulintherapie in der Lage ist, die kardiovaskuläre Morbidität zu reduzieren. Dazu wurden weltweit (darunter an 9 Zentren in Österreich) 12.537 Personen mit gestörter Glukosetoleranz (IGT) oder Typ-2-Diabetes und erhöhtem kardiovaskulären Risiko (vorangegangenes kardiovaskuläres Ereignis, manifeste koronare, zerebrale oder periphere Gefäßerkrankung oder Albuminurie) rekrutiert. Die Studienteilnehmer erhielten randomisiert Insulin glargin (mit dem Titrationsziel eines Nüchternblutzuckers von ≤ 95 mg/dl) oder eine orale „Standardtherapie“ (überwiegend Metformin oder einen Sulfonylharnstoff).

Im Verlauf von median 6,2 Jahren traten die beiden primären Kompositendpunkte (nicht-fataler Myokardinfarkt/Insult oder kardiovaskulärer Tod; die genannten plus koronare Revaskularisierung oder Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz) unter Insulintherapie gleich häufig auf wie in der Kontrollgruppe (Abb. 1). Einzeln ausgewertete makrovaskuläre Endpunkte, mikrovaskuläre Ereignisse und Gesamtmortalität waren ebenfalls nicht signifikant reduziert. Positiv wurde vermerkt, dass in der Insulingruppe bei Teilnehmern mit IGT zu Studienbeginn um 28 % weniger neue Diabetesfälle auftraten als in der Vergleichsgruppe. Hypoglykämien waren unter Insulintherapie erwartungsgemäß häufiger, schwere Ereignisse mit 1,0 vs. 0,3 pro 100 Patientenjahre aber niedrig. Die Gewichtsdifferenz war mit 2,1 kg nach 6 Jahren ebenfalls gering.

Zusätzlich zum Vergleich von Insulin glargin und oraler Standardtherapie sah das 2×2-faktorielle Design der ORIGIN-Studie die Verabreichung von Omega-3-Fettsäuren (1 g/Tag) versus Placebo vor. Mit Ausnahme einer leichten Triglyzeridsenkung hatte dies aber keine Auswirkung auf den Stoffwechsel und ebenso nicht auf die primären oder sekundären vaskulären Endpunkte der Studie.

Keine Häufung von Brustkrebs durch Glargin

ORIGIN war aber auch deshalb mit großem Interesse erwartet worden, weil in den vergangenen Jahren immer wieder eine mögliche Häufung von Krebsfällen (insbesondere von Mammakarzinomen) unter Therapie mit Insulin glargin thematisiert wurde. In diesem Punkt kann nach den ORIGIN-Daten vorsichtige Entwarnung gegeben werden, wobei anzumerken ist, dass die in der Studie eingesetzten Insulindosen im Vergleich zur klinischen Praxis niedrig waren. Bestätigt werden die ORIGIN-Ergebnisse im Wesentlichen aber durch drei Observationsstudien, die im Zuge der Debatte um die Krebssicherheit von Insulin glargin initiiert wurden, darunter vor allem durch eine große nordeuropäische Datenbankstudie mit einer Insulinexpositionszeit von 1,5 Millionen Patientenjahren, die für Glargin im Vergleich zu anderen Basalinsulinen weder insgesamt noch für einzelne Entitäten (darunter Brustkrebs bei Frauen) ein erhöhtes Krebsrisiko ergab.

Der Präsentator der Studie (Peter Boyle, Lyon, Frankreich) resümierte, dass mittlerweile eine beeindruckende Datenfülle (21 Analysen, 1 Million Diabetespatienten; 3 Millionen Personenjahre) für die Sicherheit von Insulin glargin spreche. Um einen Kausalzusammenhang zwischen antidiabetischen Therapien und vermehrten Krebserkrankungen etablieren zu können, seien allerdings deutlich längere Follow-up-Zeiten nötig.

Neue antidiabetische Wirkstoffklassen

Einen Schwerpunkt der Abstract-Präsentationen beim heurigen ADA-Kongress stellten die Ergebnisse neuer Arzneimittelstudien dar. Hier tut sich insbesondere auf dem Gebiet der GLP-1-Rezeptoragonisten einiges Neues:

Als Referenzsubstanz im Head-to-Head-Vergleich wird für die meisten neuen GLP-1-Präparate das 1-mal täglich zu verabreichende Liraglutid verwendet, so auch für Albiglutid, ein in Entwicklung befindliches GLP-1-Mimetikum (GlaxoSmithKline), welches 1-mal wöchentlich gespritzt werden muss. Nach den in Philadelphia präsentierten Daten fällt die HbA1c-senkende und gewichtsreduzierende Wirkung von Albiglutid geringfügig schwächer aus, womöglich sind aber der erhöhte Patientenkomfort und die verbesserte Compliance in der klinischen Anwendung des lang wirksamen GLP-1-Mimetikums in Zukunft zu berücksichtigen.

Einen gegensätzlichen Trend vertritt das dem Exenatid chemisch verwandte GLP-1-Präparat Lixisenatid (Sanofi), das für die 1-mal tägliche Verabreichung zugelassen werden soll und in erster Linie auf die postprandialen Glukoseexkursionen wirkt. Damit eignet ich das Präparat ideal für eine allfällige Kombination mit Basalinsulinen. Eine Zulassung in Europa wird für Lixisenatid für etwa Anfang 2013 erwartet. Eine Kombination von kurz und lang wirksamen GLP-1-Mimetika erscheint nicht sinnvoll, da durch die erzielten chronischen GLP-1-Konzentrationen die entsprechenden Rezeptoren bei lang wirksamen Präparaten permanent besetzt bzw. stimuliert sind.

Ebenfalls großen Raum nahmen Studienresultate zu der neuen Substanzklasse der SGLT-2-Blocker ein, welche bei Hyperglykämie eine Glukosurie durch Hemmung der Glukoseresorptionen der Niere erzielen. Prinzipiell sind bei aufrechter Nierenfunktion diese Substanzen mit allen gängigen Diabetesmedikamenten kombinierbar und führen zusätzlich zu der HbA1c-Senkung von mindestens 0,5 Prozentpunkten zu einer Reduktion des Körpergewichts und des Blutdrucks.

Entzündungsmodulation zur Diabetestherapie

Einen interessanten neuen Therapieansatz zur Behandlung von Diabetes und seinen Komplikationen stellen auch immunmodulatorische Substanzen dar. Aufgrund der großen Dichte von Interleukin-1 β-Rezeptoren in den Betazellen scheint die Blockade dieses Rezeptors ein vielversprechendes therapeutisches Ziel zu sein. So konnte mit dem IL-1 β-Antikörper Canakinumab bei Personen mit Typ-2-Diabetes eine HbA1c-Reduktion von 0,45 % erzielt werden. Diese Substanz wird bereits in einer großen kardiovaskulären Endpunktstudie (CANTOS) bei mehr als 17.000 Patientinnen und Patienten nach Myokardinfarkt untersucht. Mit dem monoklonalen IL-β-Antikörper Gevokizumab konnte nach einer einmaligen Injektion innerhalb von 3 Monaten sogar eine placebokontrollierte HbA1c-Reduktion von 0,85 Prozentpunkten, eine verbesserte C-Peptid-Sekretion und eine Reduktion der Insulinresistenz erzielt werden.

Paul Ridker (Boston/MA, USA) präsentierte die geplante CIRT-Studie, die den Effekt von Methotrexat auf kardiovaskuläre Ereignisse bei 7.000 Patientinnen und Patienten mit Diabetes oder metabolischen Syndrom untersuchen soll.

Auch beim Typ-1-Diabetes ist die Immunmodulation möglicherweise eine Therapieoption. Der aus der Rheumatologie bekannte T-Zell-Costimulationsmodulator Abatacept wurde über 2 Jahre im Rahmen von 27 Infusionen an neu diagnostizierte Patientinnen und Patienten mit Typ-1-Diabetes verabreicht. Dies führte zur signifikanten HbA1c-Reduktion vs. Placebo bei gleichbleibendem Insulinbedarf und zu einer Zunahme der C-Peptid-Sekretion um 65 %. Diese Effekte blieben auch 1 Jahr nach Beendigung der Infusionen in gleichem Ausmaß bestehen.

Head-to-Head-Trials zur Kombinationstherapie

Vor allem für die Substanzklassen der GLP-1-Mimetika und der DPP-4-Inhibitoren werden zunehmend auch Vergleichsstudien mit etablierten Antidiabetika verfügbar, sodass die Frage nach der Intensivierung der antidiabetischen Therapie nach Metformin-Versagen sukzessive „evidenzbasierter“ beantwortet werden kann. Weiterhin gilt, dass die Therapieentscheidung primär anhand von klinischen Kriterien (HbA1c-Senkung, Gewichtsbeeinflussung, Hypoglykämierisiko, Gewichtseffekte, Nebenwirkungen) und Kosten zu treffen sein wird, weil die Ergebnisse von Outcome-Studien wie ORIGIN für die neuen Substanzen (CAROLINA, EXSCEL, LEADER, SAVOR-TIMI 53, TECOS und andere) erst in einigen Jahren zu erwarten sind.

In der EASIE-Studie wurden Patienten mit inadäquat kontrolliertem Typ-2-Diabetes unter Metformin-Monotherapie offen randomisiert mit Sitagliptin oder mit Insulin glargin behandelt; das Insulin wurde mit einem Ziel eines Nüchternblutzuckers von 70–100 mg/dl titriert. Im Verlauf von 24 Wochen sanken die HbA1c-Werte mit Insulin glargin um 1,7 Prozentpunkte und mit Sitagliptin um 1,1 Prozentpunkten ab, unter Insulintherapie erreichten deutlich mehr Patienten (68 % vs. 48 %) das HbA1c-Ziel von < 7 %. Hypoglykämien waren mit 4,2 vs. 0,5 Ereignissen pro Patient und Jahr in der Insulingruppe aber deutlich häufiger als unter inkretinbasierter Therapie.

EUREXA verglich Glimepirid mit Exenatid (jeweils 2-mal täglich) bei einem ähnlichen Patientenkollektiv. Im Beobachtungszeitraum von 48 Monaten kam es bei 54 % (Glimepirid) vs. 41 % der Patienten (Exenatid) zum Versagen der Add-on-Therapie (Hazard Ratio = 0,78). Bei HbA1c-Ausgangswerten bis 7,3 % schnitt Glimepirid aber ebenso gut ab wie Exenatid, während das GLP-1-Analogon bei höheren Baseline-Werten deutlich länger eine adäquate Blutzuckerkontrolle ermöglichte (Abb. 2). Gewichtsverläufe und Hypoglykämieraten entsprachen den bekannten Profilen der Wirksubstanzen.

RESÜMEE:

Eine Überlegenheit von Insulin über Metformin bzw. Sulfonylharnstoffe war unter den Bedingungen der ORIGIN-Studie (Patienten mit Prädiabetes oder frühem Diabetes, Studiendauer kürzer als in der UKPDS, antihypertensive und lipidsenkende Hintergrundmedikation) nicht wirklich zu erwarten. Der zentrale Befund der Studie ist, dass in der Insulingruppe keine Häufung von Brustkrebs beobachtet wurde.

Inwieweit sich immunmodulatorische Therapien als effektiv und sicher erweisen, wird die Zukunft zeigen. Sie stellen auf jeden Fall einen interessanten Ansatz dar, der direkt in die Pathogenese von Insulinresistenz und Diabetes eingreift und somit die Betazellfunktion verbessern bzw. ein Versagen der Betazellen hinauszögern kann.

Die Pharmakotherapie des Diabetes wird immer vielfältiger und komplexer. Die zunehmende Verfügbarkeit von Head-to-Head-Trials ist daher wichtig und zu begrüßen. Die Gefahr ist aber groß, dass Österreich von internationalen Therapieentwicklungen abgekoppelt wird, wenn man die derzeitige völlig unbefriedigende Refundierungssituation für zugelassene GLP-1-Mimetika in Österreich in Betracht zieht.