„Man soll die Lage nicht schönreden“

„Es ist ein großes Thema und es ist zu befürchten, dass es uns erhalten bleiben wird, weil die Ursachen komplex sind.“ Günter Waxenecker weiß, wovon er redet, wenn er über Lieferengpässe bei Medikamenten spricht. Die Materie ist ihm nicht neu. Wohl aber die Funktion, denn seit Anfang April dieses ­Jahres ist er auch in zentraler Verantwortung: Der 53-jährige studierte Lebensmittel- und Biotechnologe ist neuer Chef der AGES Medizinmarktaufsicht. Diese ist mit über 380 Mitarbeiter:innen das größte Geschäftsfeld in der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit. Drei Institute sorgen dafür, dass der Bevölkerung nur hochqualitative, sichere und wirksame Arzneimittel sowie Medizinprodukte zur Verfügung stehen. Waxen­ecker ist seit 2007 in der AGES, ab 2019 leitete er die Abteilung Biologika, Präklinik und Statistik, wo er für die wissenschaftlich-fachliche Bewertung der Qualität von Biologika, der Präklinik sowie der Statistik bzw. die Methodologie von Humanarzneimitteln in zentralen Zulassungs- und Life-Cycle-Verfahren zuständig und zudem als Prozessverantwortlicher speziell für die wissenschaftliche Beratung sowie in verschiedenen europäischen und internationalen Gremien als Fachexperte tätig war.

Günter Waxenecker ist neuer Chef der AGES Medizinmarktaufsicht und hat die Verfahrensleitung des BASG übernommen.; ©OLIVER MILLER-AICHHOLZ photography

Es gäbe trotz zahlreicher Medienberichte über Engpässe „momentan“ keine Versorgungsengpässe, versichert er im Gespräch mit PHARMAustria. Nachsatz: „Man soll deshalb aber die Lage auch nicht schönreden.“ Die Ursachen seien nämlich vielfältig. „Es geht nicht nur um fehlende Wirkstoffe oder die Produktion in Asien, auch bei der Herstellung in Europa fehlen Hilfsstoffe oder es gibt bei Verpackungsmaterialien Engpässe. Wir haben wie in vielen anderen Wirtschaftsbranchen auch im Arzneimittelbereich eine sehr ausgefeilte Logistik und Just-in-time-Produktion. Es macht aber einen Unterschied, ob ich sechs Monate auf ein neues Auto oder auf ein Arzneimittel warte.“ Dazu komme, dass man es mit einem globalen Markt zu tun habe. „Deshalb gibt es bereits seit 2018 die Taskforce Lieferengpässe. Und wir haben das Vertriebseinschränkungsregister, durch das auch ein Parallelexportverbot möglich gemacht wird. Der Zulassungsinhaber ist verpflichtet mitzuteilen, wenn mehr als 14 Tage nicht geliefert werden kann oder die Verfügbarkeit mehr als vier Wochen eingeschränkt ist. Das hilft deshalb, weil ja dazwischen der Großhandel und die Apotheken sind, die teilweise noch Lager haben.“

EU als zentrale Schnittstelle

Die Fachexpert:innen seines Teams beschäftigen sich laufend damit, bearbeiten aber auch eine Vielzahl von Auf­gaben im Zusammenhang mit der Arzneimittelzulassung, der klinischen Prüfung von Arzneimitteln und Medizinprodukten, der Pharmakovigilanz, der Vigilanz im Bereich der Medizinprodukte und mit dem Inspektionswesen. Mit dem Vollzug der hoheitlichen Aufgaben ist das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) betraut, eine nachgeordnete Behörde des Gesundheitsministeriums. Ganz entscheidend ist die Mitwirkung von AGES-­Medizinmarktaufsicht-Fachleuten im Rahmen der EU-Institutionen (Europäische Arzneimittel-Agentur – EMA etc.). Mehr als 180 Mitarbeiter:innen sind regelmäßig in Gremien der EMA tätig, wo u.a. Verfahren, Leitlinien und Strategien für die Arzneimittel- und Medizinproduktesicherheit für die gesamte EU ausgearbeitet werden bzw. auch zentrale Arzneimittelzulassungen für die EU ­erfolgen. Als Berichterstatter oder Co-Berichterstatter (Rapporteur) für die Zulassung von Arzneimitteln in Europa befinden sich AGES-Expert:innen seit 2009 unter den Top 10, ebenso auf den vordersten Plätzen bei den europäischen gegenseitigen Anerkennungsverfahren von nationalen Arzneimittelzulassungen. „Wir sind sicher unter den fünf besten und aktivsten Zulassungsbehörden in Europa – auch damit wir das hohe europäische Niveau auf österreichischem Boden garantieren können. Die Begutachtungsqualität ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil wir sehen, dass die Indikationsbereiche, für die Zulassungen angestrebt werden, immer kleiner und spezieller werden – das spiegelt sich auch stark in der Zielsetzung für die neuen geplanten Gesetzgebungen für Orphan Drugs und pädiatrische Arzneimittel wider.“

„Wir sind sicher unter den fünf besten und aktivsten ­Zulassungsbehörden in Europa.“; ©OLIVER MILLER-AICHHOLZ photography

Nicht zuletzt aufgrund der europäischen Erfahrungen sieht Waxenecker die EU als zentrale Schnittstelle, um Auswege zu finden. „Wir hoffen hier auf Änderungen in der Gesetzgebung, die sich eine bessere Versorgungssicherheit zum Ziel gesetzt hat. Wir benötigen jedenfalls eine breite Lösung.“ Gerade bei Generika gebe es auch großen Druck am Markt, wo man auch Lösungen finden müsse, während bei innovativen Produkten die Versorgungslage generell gut sei. „Für die europäische Gesetzgebung ist es gewissermaßen die Quadratur des Kreises, hier die Versorgungssicherheit über die ganze Bandbreite an Arzneimitteln zu gewährleisten. Wir sehen hier ja auch einen Wendepunkt bei uns als ­Zulassungsbehörde, wo wir bislang ­lediglich die Verfahrenszahl – also die Anzahl der Zulassungen – zählen. Um vorsorglich Gegenmaßnahmen bei Lieferengpässen wahrnehmen zu können, benötigen wir aber Informationen über Marktanteile bzw. über die dahinter ­liegenden Mengen an umgesetzten ­Packungen“, sagt Waxenecker.

Dialog über Nutzenbewertung

Im Hinblick auf die in Europa diskutierten Änderungen in Sachen Nutzenbewertung wolle die AGES Medizinmarktaufsicht in jedem Fall mit dabei sein, „wie in anderen Bereichen, auch schon in einem frühen Dialog in der wissenschaftlichen Beratung mit den Entwicklern“. Damit können klinische Studiendesigns diskutiert werden, die nicht nur die Nutzen-Risiko-Bewertung der Zulassung beantworten, sondern auch um die Nutzenbewertung der HTAs erweitert werden. Aber nicht alle werden davon profitieren können, betont der Experte: „Am Weg bis zur Nutzenbewertung scheitern leider auch viele Entwicklungen. Daher hat sich das Konzept der stufenweisen Risikoreduktion entwickelt, weil das ja auch finanziert werden muss.“

Informationsfluss verbessern

In Österreich will sich Waxenecker vor allem um den Informationsfluss kümmern. „Wir als Medizinmarktaufsicht können ja keinen Wirkstoff herstellen, sondern nur den Informationsfluss verbessern und Schnittstellen zur Verfügung stellen, mit denen die Gesundheitsdienstanbieter arbeiten können. Ärzt:innen können direkt an unser ­Register über die Lieferengpässe und Liefereinschränkungen angebunden werden.“ Die AGES stelle bereits die EDV-Schnittstellen dafür zur Verfügung. Es wäre Sache der Ordinations-EDV-Programmhersteller, dies in ihre Software zu integrieren, meint der neue Chef der AGES Medizinmarktaufsicht. „Dann könnten die Ärzt:innen in die Lage versetzt werden, passende Präparate auch gemäß der Erhältlichkeit in den Apotheken zu verschreiben.“ Für die Industrie bestehe ein gesetzlicher Versorgungsauftrag und hier könne man auch nachschärfen – etwa wenn es in Richtung Bevorratung geht. „Man kann beispielsweise schauen, was in anderen EU-Mitgliedsstaaten passiert. Dort gibt es teilweise bereits Bevorratungsverpflichtungen für Hersteller“, erläutert er.

Im Hinblick auf Lieferengpässe sieht Waxenecker vor allem die EU gefordert. Die AGES will insbesondere den Informationsfluss verbessern.; ©OLIVER MILLER-AICHHOLZ photography

Niederschwelliger Zugang zum ­Arzneimittelmarkt

Von Preiserhöhungen, wie sie von Herstellern gefordert werden und in Deutschland kommen, hält Waxenecker wenig. „Als Zulassungsbehörde haben wir eine Abgrenzung zur Erstattung. Wir müssen uns um die Wirksamkeit, die ­Sicherheit und die Qualität von Arzneimitteln kümmern. Wir beobachten, dass zentrale Zulassungen mehr werden, und engagieren uns deshalb hier sehr stark.“ Dass in Österreich mittelständische, heimische Produzenten mit ­weniger und oft etablierten Produkten darunter stöhnen, dass die Zulassungshürden für sie schwer zu stemmen sind, sieht Waxenecker sehr wohl, räumt aber ein: „Als nationale Zulassungsbehörde können und wollen wir den Zugang zum Arzneimittelmarkt so niederschwellig wie möglich halten und können hier schneller und flexibler agieren als eine zentrale europäische Behörde. In der Prozessqualität kommen wir somit den Unternehmen sehr entgegen; in der inhaltlichen Qualität, die bei den Patient:innen ankommt, können wir aber keine Abstriche machen.“ Unternehmen würden es schätzen, wenn sie hoch qualifizierte Gutachter:innen und Prüfer:innen vorfinden. „Das ist der Beitrag, den wir leisten können, damit Unternehmen in Österreich bleiben oder ­hierher kommen. Wir haben hier den Vorteil, dass alles über die Medizinmarktaufsicht läuft und nicht föderalisiert woanders abgewickelt werden muss.“