Bipolar: Vielschichtige Diagnose

Die derzeit wichtigsten gängigen Diagnosesysteme sind einerseits das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV-TR 1994) der amerikanischen Psychiatervereinigung sowie das der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10).
Bei den Bemühungen der modernen Diagnostik geht es immer um eine möglichst präzise Beschreibung eines Krankheitsbildes. Die dabei stattfindende Kategorisierung ist für Forschung, Verwaltung und die Kommunikation zwischen Ärzten und Therapeuten zugegebenermaßen auch sehr wichtig, kann jedoch die Realität des individuellen Krankheitsbildes manchmal nur ungenau abbilden. Das Erfassen der Beweggründe eines Menschen und die wertschätzende Anteilnahme eines Psychiaters/Therapeuten stehen in keinem Widerspruch zur ICD-10- oder DSM-5-Diagnostik!

 

 

Anamnese und Diagnostik

Die Diagnostik wird zu einem Großteil von den Symptomen der letzten Tage oder Wochen bestimmt. Patienten und deren Angehörige nehmen jedoch oftmals nicht wahr, dass einer derzeit herrschenden depressiven Episode ein Stimmungshoch mit Schlafverkürzung vorangegangen ist. Doch genau dieser Umstand würde dem Arzt helfen, eine bipolare Depression zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Daher ist gezieltes Fragen in der Anamnese (siehe Kasten „Die ersten Schritte der Diagnostik“) notwendig, um die Verlaufsgestalt zu eruieren und somit die exakte Diagnose zu ermöglichen.

Klinische Ausprägungen

Bei den klinisch schweren Ausprägungsformen unterscheidet man einerseits die Manie (kann in rein euphorischer, aber auch dysphorischer Form auftreten und mit oder ohne psychotische Symptome einhergehen), andererseits die depressive Episode (kann eine typische Major Depression darstellen, aber auch agitiert oder atypisch verlaufen, so dass bei einer agitierten Form ein Mischzustand in Betracht zu ziehen ist). Grundsätzlich kann jede Form der Depression mit psychotischen Zeichen (nihilistischer Wahn, Verarmungswahn) einhergehen. Klinische Besonderheiten der bipolaren Erkrankung sind das „Kippen“ von einer Stimmungslage in die andere (tritt bei ca. 12–15% der Betroffenen auf) sowie das sogenannte „Rapid Cycling“. Darunter versteht man das Auftreten von verschiedenen Stimmungsepisoden häufiger als viermal im Jahr, wovon mindestens eine hypomanisch oder manisch ist. Die raschen Zyklen können über mehrere Wochen, Tage oder in einem 48-Stunden-Rhythmus ablaufen.
Die bisher angeführten Formen werden unter der Bipolar-I-Erkrankung zusammengefasst, wenn das Vollbild einer Manie und einer Depression vorherrscht. Bei geringerer Ausprägung der Manie (Hypomanie, Bipolar II) gestaltet sich die Diagnose etwas schwieriger, da hypomanische Episoden häufig von Betroffenen und Angehörigen nicht als Krankheit erkannt werden. Hier bringt die Betrachtung des gesamten Verlaufs, das Erfassen der Abfolgen von Hoch und Tief Aufschluss. Die Bipolar-II-Gruppe ist im ICD-10 nur als Restgruppe erfasst, obwohl sie wahrscheinlich die weitaus größere ist. Weiters finden sich in der Literatur einige weitere Bipolar-Gruppen (siehe Kasten „Bipolar I bis VI), bei denen besondere Aspekte zum Tragen kommen, die in der Diagnose zu beachten sind.

Differenzialdiagnosen

Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43): Die Bedeutung dieser diagnostischen Kategorie liegt in einem außergewöhnlichen Lebensereignis und dass dieses Ereignis „einzig und allein“ die Ursache ist. Gab es bislang noch keine psychischen Auffälligkeiten, so ist diese Diagnose in Betracht zu ziehen. Gab es bereits wiederholt Verstimmungen mit „Hochs und Tiefs“, so ist eine bipolare Erkrankung zu erwägen.

Spezifische Persönlichkeitsstörungen (F60): Ein wichtiger Definitionspunkt dieser Diagnose ist: „Das auffällige Verhaltensmuster ist andauernd und gleichförmig und nicht auf Episoden psychischer Krankheiten begrenzt.“ Vor dem 17. Lebensjahr ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlich unangemessen.

Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60:30 impulsiver Typus, F60:31 Borderline-Typus): Persönlichkeitsstörungen sind per definitionem meist in der Adoleszenz beginnende und relativ gleichmäßig verlaufende psychische Erkrankungen. Handelt es sich um abgesetzte Episoden oder Phasen, so ist auch ein Bipolar-II½-Verlauf oder, wenn Alkohol oder Drogen eine Rolle spielen, ein Bipolar-III½-Verlauf möglich.

Schizoaffektive Störungen (F25): Diese diagnostische Gruppe wird immer wieder in die Nähe der bipolaren Erkrankung gerückt, da sie einerseits einen günstigeren Vergleich zur schizophrenen Erkrankung zeigt und andererseits die davon Betroffenen von Stimmungsstabilisierern relativ gut profitieren.

Fazit

Das Schlafverhalten (gesteigertes oder reduziertes Schlafbedürfnis) kann bei der Diagnose wichtige Hinweise liefern.
Klinische Besonderheiten der bipolaren Erkrankung sind das „Kippen“ von einer Stimmungslage in die andere (tritt bei ca. 12–15% der Betroffenen auf) sowie das sogenannte „Rapid Cycling“.
Für die Zukunft ist eine genaue und gezielte Forschung bezüglich der verschiedenen Ausprägungen der bipolaren Erkrankung (Bipolar I bis VI) wünschenswert, um die Untergruppierungen genauer beschreiben und validieren zu können. Dies würde auch hinsichtlich der jeweiligen Medikamentenempfehlung wichtige Hinweise liefern.
Bei Verdacht auf bipolare Erkrankung entsprechend den angeführten Anzeichen sollte ein Facharzt für Psychiatrie hinzugezogen werden, der eine entsprechende medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung einleiten und längerfristig begleiten wird.

Literatur beim Verfasser

Die ersten Schritte der Diagnostik

1. Exaktes Erfragen gewisser Erlebnissymptome (das subjektive Erleben des Patienten)

2. Genaues Beobachten (Ausdrucks-symptome)

3. Befragung von Angehörigen

4. Genaue Erhebung des Verlaufs (Außen- und Fremdanamnese)

5. Ausschluss körperlicher Erkrankungen durch somatische und neurologische Untersuchung

Bipolar I bis VI

Bipolar I (früher als manisch-depressives Krankheitsgeschehen bezeichnet): Manie in ihrem Vollbild im Wechsel mit mittelschweren und schweren depressiven Episoden.

Bipolar II: Auftreten von zumindest einer hypomanen Episode und depressiven Episoden. Die Depression macht sich vor allem durch Energielosigkeit bemerkbar, die hypomanen Episoden können vorher oder direkt im Anschluss daran auftreten.

Bipolar II ½: Deutliche Depressionen und leichte Hypomanien mit Irritierbarkeit, jedoch ist das sogenannte „freie Intervall“ nicht wirklich „frei“ von Symptomen oder Beschwerden.

Bipolar III: Hypomanie tritt erst dann auf, wenn es im Rahmen der Depressionsbehandlung mit Antidepressiva, Elektroheilkrampftherapie, Schlafentzugsbehandlung oder Lichttherapie zu kurzen hypomanen „Nachschwankungen“ kommt.

Bipolar III ½: Erregtheit und leichte Depression wechseln einander ab, besonderes Merkmal ist gehäufter Alkohol- und Drogenmissbrauch.

Bipolar IV: Depressive Episoden wechseln sich mit einem hyperthymen Temperament ab. Der Krankheitsbeginn ist oft relativ spät (= nach dem 50. Lebensjahr).

Bipolar V: Krankheitsbild unipolar, jedoch gibt es in der Familie gehäuft bipolar Erkrankte. Besonderes Kennzeichen: häufiges Wiederkehren depressiver Episoden trotz medikamentöser Therapie mit Antidepressiva.

Bipolar VI: bipolare Patienten, die frühzeitig eine Demenz entwickeln.