Dachverbandschef Brunninger sieht Digitalisierung als Chance für Allgemeinmediziner

Was wird sich nach der Zusammenlegung der Sozialversicherungen für Versicherte und für Ärzte ändern?

Martin Brunninger: Mit Jahresbeginn sind 21 Sozialversicherungsträger und zwei Betriebskrankenkassen in fünf Träger übergegangen. Dadurch ergibt sich eine vereinfachte Struktur, die auch Prozessoptimierungen mit sich bringt. Für Vertragspartner, die bisher mit dem Hauptverband zu tun hatten, wird sich nichts ändern. Die Aufgaben gehen direkt auf den Dachverband über, der künftig Verhandlungen zu Medikamenten führt, Entscheidungen zur Datenverwaltung trifft, internationale Bereiche koordiniert und die Statistik führt. Niemand muss zudem Angst haben, dass er nicht mehr versichert ist. Mittelfristig führt das aber dazu, dass Kosten gedämpft werden, was im System mehr Mittel frei macht.

Es kommt also zu Einsparungen?

Es geht um Kostendämpfungen. Einsparungen werden dort vorgenommen, wo sie den Versicherten keine Mehrleistungen bieten. Eingespart werden Mehrkosten, die aufgrund der fragmentierten Trägerlandschaft angefallen sind – etwa im Gebäudemanagement, im zentralen Einkauf und durch Produktevaluierung in allen Bereichen; wie wir es schon bei Medikamenten machen. Die Sozialversicherung muss nicht alle Dinge in höchster Qualität selbst machen. Selbstverständlich sucht man sich Partner, die das besser und günstiger können. Im Detail muss man sich das dann aber ansehen.

Ein Gutachten für das Sozialministerium hat vor dem Sommer der Reform und Fusion ein großes Risiko zu scheitern bescheinigt – wie sehen Sie die Erfolgschancen?

Der dort gezogene Vergleich zur Industrie hinkt etwas. Fusionen oder Übernahmen geschehen in der Privatwirtschaft meist aus zwei Gründen: aus Schwäche heraus, um Kosten zu senken und ein Unternehmen kurzfristig attraktiv zu machen; oder um Produkte zu ergänzen und neue Märkte dazuzubekommen. Das kann man mit der Sozialversicherung nicht vergleichen. Hier geht es um bessere Einkaufsmöglichkeiten, bessere Strukturen und Ressourcen und mittelfristig um eine starke Vereinfachung. Kurzfristig wird es keine Einsparungen geben. Ich habe noch nie eine Fusion gesehen, wo es rasch geht. Manche der Eingriffe zeigen schnellere Resultate, und manche, wie der Personalbereich, benötigen mehr Zeit, wenn Stellen durch Abgänge nur noch selektiv nachbesetzt werden. Aus meiner jahrelangen Erfahrung als Fusionsberater kann ich aber auch hier sagen, dass die neue Struktur mittelfristig große Erfolge bringen wird. Es gibt zwei große Einsparungs-möglichkeiten: klassische betriebs-wirtschaftliche und andere gesundheitsökonomische Verbesserungen. Das sind Anpassungen von Leistungen und medizinischen Unter- und Überversorgungen, die Einbindung medizinischer Berufe sowie die Zuhilfenahme von Digitalisierungsmaßnahmen, um die Qualität der Angebote zu verbessern.

Sie haben unter anderem als Analyst und als internationaler Unternehmensberater gearbeitet. Kritiker fürchten, dass es Ihr Ziel oder Ihr Auftrag ist, die Sozialversicherung für eine Privatisierung und die Interessen privater Konzerne umzubauen. Sie selbst sprechen viel von Strukturen und Prozessen. Was treibt Sie an?

Ursprünglich komme ich aus der Grundlagenforschung und habe in Wien beim Institut für molekulare Pathologie einen guten Einblick in physiologische Prozesse bekommen. Im Ausland habe ich dann Erfahrungen zu verschiedenen Gesundheitssystemen und deren Finanzierungen gesammelt. An der London School of Economics, die ja auch die große Sozialversicherungsstudie in Österreich gemacht hat, konnte ich auch sehen, wie Reformen auf die Systeme wirken. Jetzt kann ich alle Bereiche, in denen ich Erfahrungen gesammelt habe, zusammenbringen. Die Stärken des österreichischen Systems sind die Fülle an sehr gut ausgebildeten Ärzten, die hohe Qualität der Medizin und dass auch Spitzenmedizin der gesamten Bevölkerung zur Verfügung steht. Es gibt im internationalen Vergleich einige Möglichkeiten zur Strukturverbesserung, um das Geld der Sozialversicherung besser einsetzen zu können. Ein Beispiel: Bei der Anzahl der gesunden Lebensjahre liegt Österreich eher im OECD-Mittelfeld. Da müssen wir uns bemühen, mehr gesunde Lebensjahre zu erhalten, und das geht vor allem über Strukturen. Ich bin angetreten, um Strukturen zu verbessern. Wir müssen etwa ältere Menschen bei medizinischen Interventionen frühzeitig mobilisieren, um zu verhindern, dass sie früh zu Pflegefällen werden. Die Frage ist, was messbare strukturelle Veränderungen sind, die man ergreifen kann, um die Zahl der gesunden Jahre zu erhöhen. Das geht etwa durch die Erhöhung der Durchimpfungsraten oder indem man evidenzbasierte Vorsorgeuntersuchungen einführt. Hier wird künftig viel über neue Technologien erfolgen. Die Frage wird sein: Wie bekommen wir diese Dinge in die Regelversorgung? Das zu verstärken ist auch Teil meiner Vision und meiner Aufgabe. Es gibt viele gute Initiativen in Österreich, die aber schwach mit Daten unterlegt werden und dann versanden. Das mit Daten aufzusetzen und in die Regelversorgung zu bringen, wenn es einen Nutzen für Patienten bringt, wäre ein wesentlicher Gewinn für die Patienten.

Welche Pläne haben Sie für den Dachverband und Ihre Arbeit?

Meine großen Themen sind Digitalisierung, Innovation und Transparenz. Im Vergleich zu Skandinavien, den Benelux-Ländern oder auch Spanien hinkt Österreich in Sachen Transparenz im Gesundheitswesen hinterher. Diese Transparenz brauchen wir aber, um Maßnahmen für die Versorgung besser einsetzen und die evidenzbasierte Medizin stärken zu können. Beim Thema Digitalisierung muss nicht alles aus der Sozialversicherung heraus kommen. Man darf sich nicht der Innovation, die um Österreich herum passiert, verschließen. Wir müssen uns auch verstärkt mit den Themen Daten von Patienten und Daten für Patienten auseinandersetzen. Verwenden wir diese Daten doch für bessere Therapien oder auch zur Planung! Die größte Innovation im Gesundheitswesen wird nicht vom Arzneimittelbereich kommen, sondern von der Frage, wie man mit Daten umgeht und Datenhürden überwindet. Wie schafft man es etwa, Ärzten Daten in hoher Qualität zur Verfügung zu stellen, damit sie damit besser arbeiten können? Es ist unethisch, Daten nicht zu verwenden, weil sie heute integraler Bestandteil der Medizin sind. Künstliche Intelligenz wird ein Thema, das sich in zehn Jahren nicht mehr stellt. Wenn wir uns als Sozialversicherung nicht jetzt damit beschäftigen, wird die Privatwirtschaft aufspringen und wir können das nicht mehr steuern. Wir müssen KI aber nicht einsetzen, um Topmediziner zu überflügeln, sondern das Mittel der Versorgung in der Masse zu heben. Das bedeutet, dass wir die Dinge so einsetzen müssen, dass etwa die Allgemeinmediziner unterstützt und entlastet werden.

Die Ärzte fordern eine rasche Harmonisierung der Leistungen. ÖGK-Generaldirektor Bernhard Wurzer hat zuletzt eingeräumt, dass das wohl noch Jahre dauern wird. Wie sehen Sie das?

Wie schon gesagt: Das geht nicht von heute auf morgen, sondern wird wohl zwischen drei und fünf Jahre dauern. Mit Beginn 2020 gehen durch die Leistungsharmonisierung Kosten nach oben. Strukturmaßnahmen sollen dann den Kostenpfad dämpfen. Nur auf die Kosten allein zu sehen wird aber nicht ausreichen. Das Ziel ist ja auch, die Zahl der gesunden Lebensjahre zu erhöhen – das steht auf der anderen Seite der Gleichung. Es ist aber auch eine Illusion, wenn man denkt, dass Gesundheit billiger wird. Man muss sich darauf einstellen, Kosten zu sparen, wo es nicht nötig ist, um sich darauf vorzubereiten, was nötig ist, um Patienten besser zu versorgen und die gesunden Lebensjahre zu verlängern. Das kann ja nur im Sinne der Sozialversicherten sein.

Kritiker fürchten steigende Selbstbehalte, Privatisierungen von Einrichtungen und längere Wartezeiten – was antworten Sie darauf?

Es gibt genügend Studien, die festgestellt haben, dass Selbsthalte nicht zwingend einen gesundheitsökonomischen Nutzen bringen. Leistungen werden durch Selbstbehalte nicht in Anspruch genommen, das vergrößert das Problem. Das ergibt also aus gesundheitsökonomischer Sicht keinen Sinn. Im Hinblick auf Privatpatienten ist zu sagen, dass Wahlärzte schon versorgungspolitisch relevant sind. Wir müssen uns bemühen, noch mehr Anreize für mehr Kassenärzte zu schaffen. Primärversorgungseinheiten müssen etwa stärker in die gesundheitsökonomische Struktur eingebunden werden. Man muss damit die Versorgung verbessern und nicht Kosten verschieben.

 

 

Zur Person

Dipl.-Ing. Martin Brunninger (47) studierte Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur Wien und Gesundheitsökonomie an der London School of Economics. Nach Tätigkeiten in der medizinischen Forschung war er 20 Jahre in diversen Banken für den internationalen Gesundheitssektor verantwortlich. Zuletzt war er Managing Director mit Schwerpunkt Gesundheitswesen eines international tätigen Beratungsunternehmens.