Erstes “Europäisches Jahr gegen den Schmerz”

„Chronische Schmerzen haben in Europa eine häufig unterschätzte Dimension. Jeder Fünfte in Europa leidet an Schmerzen, die schon drei Monate oder länger regelmäßig auftreten, jeder Elfte leidet sogar täglich. Rund 100 Millionen von chronischen Schmerzen Betroffene gibt es in den 27 EU-Staaten, was mehr ist als Herz-, Diabetes- und Krebspatienten zusammengerechnet“, so Univ.-Prof. DDr. Hans Georg Kress, MedUni, AKH Wien, Präsident des Dachverbandes der Europäischen Schmerzgesellschaften (EFIC). „Rund 500 Millionen Arbeitstage gehen in der EU jährlich aufgrund von chronischen Schmerzen verloren, das bedeutet einen wirtschaftlichen Verlust von 34 Milliarden Euro im Jahr.“

Um für dieses häufig unterschätzte Gesundheitsproblem mehr Bewusstsein zu schaffen, organisierte der Dachverband EFIC, der Schmerzspezialisten aus 36 Ländern vertritt, jährlich im Oktober die Europäische Schmerzwoche. „Die österreichische Mitgliedsgesellschaft ÖSG gehört mit ihren bereits zum zwölften Mal durchgeführten Schmerzwochen zu den traditionell besonders aktiven Fachgesellschaften in Europa, was die Umsetzung der Kampagne auf nationaler Ebene betrifft“, so Kress. Auf europäischer Ebene geht EFIC jetzt in Sachen Mobilisierung und Bewusstseinsbildung einen Schritt weiter: Mit dem ab Mitte Oktober laufenden „Europäischen Jahr gegen den Schmerz“ (European Year against Pain, EYAP, www.efic.org) werden die Informationsaktivitäten ausgeweitet. Im Rahmen des EYAP soll nach den Plänen der EFIC künftig jeweils von Oktober bis Oktober ein anderes wichtiges Syndrom oder Thema des chronischen Schmerzes ins Rampenlicht gerückt werden.

„Entscheidend ist das richtige Management von chronischem Schmerz, das jedoch häufig verabsäumt wird“, kritisierte Kress. „Viele Schmerzpatienten werden inadäquat oder gar nicht behandelt.“ Nur zwei Prozent der Betroffenen wurden einer großen Erhebung zufolge von einem Schmerzspezialisten behandelt, ein Drittel gar nicht. Kress: „Die wohl wichtigste Ursache für diese Defizite ist, dass Schmerz weiterhin bloß als Symptom einer Grunderkrankung gesehen wird. Was wir brauchen, ist eine neue Sichtweise des chronischen Schmerzes und eine Anerkennung als eigenständiges Krankheitsbild.“

 

“Stille Epidemie” viszeraler Schmerz

Das erste „Europäischen Jahr gegen den Schmerz“ legt – ebenso wie die 12. Österreichischen Schmerzwochen – einen thematischen Schwerpunkt auf einen Schmerz, den in der Akutform praktisch jeder Mensch kennt und der in seiner Chronifizierung unterschätzt wird. Es geht um den von inneren Organen ausgehenden viszeralen Schmerz. Unter viszeralen Schmerzen fasst man all jene weit verbreiteten Schmerzformen zusammen, die von inneren Organen wie Herz, Gefäßen, Atemwegen, dem Urogenitaltrakt oder dem Verdauungstrakt ausgehen, und die nachweisbare organische, aber auch funktionelle Ursachen ohne erkennbare Schädigung des betroffenen Organs haben können. „Akute viszerale Schmerzen können sehr unangenehm und mitunter lebensbedrohlich sein, doch auch chronische viszerale Schmerzen sorgen für eine hohe Krankheitslast. Nach unfallbedingten Verletzungen oder Beschwerden sind akute viszerale Schmerzen der zweithäufigste Grund, warum Patienten eine Notaufnahme aufsuchen“, so Kress. „Trotz dieser schon zahlenmäßigen Bedeutung ist diese Gruppe von Schmerzen viel weniger erforscht als jene, die etwa auf Beschädigungen des Gewebes oder von Nerven zurückgehen.“

Dies steht in einem Widerspruch zur Verbreitung viszeraler Schmerzen. Einige Beispiele:

20–30% der Bevölkerung leiden unter dyspeptischen Beschwerden, wobei davon nur bei jedem Zweiten eine organische Ursache nachgewiesen werden kann.

Vom Reizdarm-Syndrom sind – je nach Studie – zwischen 6 und 25% der Bevölkerung betroffen, abhängig auch vom Geschlecht: In Deutschland etwa tritt das Syndrom bei etwa 16% der Frauen, jedoch bei nur acht Prozent der Männer auf.

Auch Blasenschmerzen betreffen Frauen häufiger als Männer, Erhebungen gehen von 900 Betroffenen pro 100.000 Frauen aus.

Regelschmerzen betreffen jede zweite Frau mit Regelblutung, bei 10% von ihnen fallen die Bauchschmerzen so stark aus, dass sie deshalb jeden Monat in den Krankenstand gehen müssen.

Insgesamt sind Frauen dreimal häufiger von viszeralen Schmerzen betroffen als Männer.

„Für chronischen viszeralen Schmerz gibt es, im Gegensatz zu den akuten Formen, in vielen Fällen keine adäquate Behandlung“, betonte Kress. „Auch deshalb ist dieses Leiden oft mit einer tiefgehenden Stressbelastung verbunden, die ihrerseits häufig unzureichend berücksichtigt wird.“

 

Plexus-coeliacus-Blockade: Gute Wirkung, weniger Nebenwirkungen

„Die Plexus-coeliacus-Blockade ist ein sehr bewährtes schmerztherapeutisches Vorgehen. Heute wird sie vor allem dann eingesetzt, wenn Patienten aufgrund von Tumoren im Bauchraum an unerträglich starken Schmerzen leiden oder andere sehr starke viszerale Schmerzen bei Erkrankungen wie Magenausgangsstenosen, chronischer Pankreatitis oder Hämangiomen der Leber vorliegen“, so Univ.-Prof. Dr. Wilfried Ilias, Past-Präsident der ÖSG.

Bei der Plexus-coeliacus-Blockade wird das dem Schmerz zugrunde liegende sympathische Nervengeflecht im Bauchraum ausgeschaltet, indem man unter Bildgebung ventral durch Bauchraum und Magen hindurch in das die Aorta umgebende Nervengeflecht sticht und dort ein Depot aus reinem Alkohol injiziert. Eine zweite Möglichkeit ist der dorsale Zugang, bei dem vom Rücken aus, an der Wirbelsäule und der Aorta vorbei, das Depot in das Geflecht des Plexus coeliacus gesetzt wird. Ilias: „Eine neuere, sehr elegante Methode ist der Zugang mittels eines mit Ultraschall ausgestatteten Gastroskops, mit dem durch die Magenhinterwand das Alkoholdepot injiziert wird.“

Darm und innere Organe sind zwar schmerzunempfindlich, nicht jedoch die sie umgebenden Blutgefäße. Werden nun der Darm oder die inneren Organe z.B. durch das Wachstum eines Tumors gequetscht oder gedehnt bzw. werden die sie umgebenden Blutgefäße verletzt, kommt es zu mitunter sehr starken Schmerzen. „In vielen Fällen ist eine medikamentöse Schmerztherapie nach dem WHO-Stufenschema inklusive Ausschöpfung der Co-Analgetika nicht ausreichend, um die Schmerzen auszuschalten. Hier kann die Plexus-coeliacus-Blockade Abhilfe schaffen“, so Ilias.

Die Wirkdauer des Eingriffs ist zeitlich auf sechs Monate bis drei Jahre begrenzt, dann muss er wiederholt werden. Da der Plexus coeliacus nicht einfach zugänglich ist, sollte seine Blockade von erfahrenen Anästhesisten oder Gastroenterologen durchgeführt werden. Ein großer Vorteil dieses Verfahrens ist, dass es ambulant durchgeführt werden kann.

Der Erfolg dieser Methode wurde auch in einer großen Metaanalyse von 59 Studien mit insgesamt 1.145 Patienten belegt. Ilias: „Bei 89% der Patienten zeigte sich eine gute bis ausreichende Schmerzreduktion bereits in den ersten zwei Wochen nach dem Eingriff. Bei 90% der Studienteilnehmer konnte nach drei Monaten eine partielle bis komplette Schmerzlinderung festgestellt werden. Bei 70–90% der Patienten blieb diese Schmerzlinderung über die drei Monate hinaus bis zu ihrem Tod aufrecht.“ Bei 96% der Patienten traten als Nebenwirkungen lokale Schmerzen auf, 44% litten an Durchfall, weil durch die Blockade die Darmperistaltik beeinflusst wird, und bei 38% war Bluthochdruck zu verzeichnen.

 

Beispiele aus der 
Praxis

In der Praxis hat sich die Plexus-coeliacus-Blockade bestens bewährt. Ilias: „So hatte ich vor einiger Zeit eine Patientin mit subtotaler Magenresektion, die nach ihrer Operation keine Nahrung oder Flüssigkeit mehr zu sich nehmen konnte, weil sie bei jedem Schluck oder Bissen unerträgliche Schmerzen im Bauchraum hatte. Nach der Blockade des Plexus coeliacus war die Patientin schmerzfrei und konnte wieder normal Nahrung zu sich nehmen.“

Ein Patient litt an einem Hämangiom der Leber, das aufgrund seiner Lage durch mehrere Gewebeschichten nicht entfernt werden konnte. Wegen seiner starken Schmerzen wurde bei ihm eine Plexus-coeliacus-Blockade du
rchgeführt. Ilias: „Nach dem Eingriff war er schmerzfrei.“

 

Arzt-Patient-Kommunikation enorm wichtig

„Eine gute Kommunikation zwischen Schmerzpatienten und behandelnden Ärzten kann für den Erfolg der gewählten Schmerztherapie mit den verwendeten Schmerzmedikamenten und für das Schmerz-management insgesamt von zentraler Bedeutung sein. Folgen guter Arzt-Patient-Gespräche sind Verbesserungen in der Lebensqualität der Patienten und ein hohes Einsparungspotenzial für das Gesundheitssystem“, so Univ.-Prof. Dr. Günther Bernatzky, Präsident der ÖSG; NAWI Universität Salzburg, Leiter des Salzburger Schmerzinstituts.

Die Bedeutung einer guten, an die Bedürfnisse der Schmerzpatienten angepassten Arzt-Patienten-Kommunikation wird in der modernen Schmerzmedizin im Gesamtkonzept der multimodalen Schmerztherapie zunehmend erkannt und zum Thema medizinischer Fachkongresse.

Rund ein Drittel aller chronischen Schmerzpatienten, das zeigte eine große europäische Studie, sind nicht behandelt. „In der Schmerzforschung beobachten wir eine Reihe verbreiteter Hürden auf dem Weg zu einer adäquaten Schmerztherapie, wie sie heute möglich ist“, so Bernatzky. „Das sind zum einen institutionelle Hemmnisse wie unzureichende schmerzmedizinische Infrastruktur oder ein eingeschränkter Zugang zu wirksamen Schmerzmedikamenten. Eine andere Art von Barriere hat mit persönlichen Einstellungen, Mentalitäten, Vorurteilen und Klischees zu tun.“

 

Schmerztherapie: induviduelle und mentalitätsbedingte Hürden

Dass Compliance und Adherance in der Schmerztherapie oft so schlecht sind, hängt auch davon ab, wie Schmerzpatienten über ihre Schmerztherapie denken, welche emotionalen Zugänge sie zum Thema Schmerz und Schmerztherapie haben, und wie es ihnen bei der Anwendung von Schmerzmitteln körperlich geht. Viele stehen Medikamenten kritisch gegenüber, sie fürchten Nebenwirkungen und manchmal Abhängigkeit. Oder sie sehen Schmerzen als etwas, das „zum Leben dazugehört“. Dazu können Vorstellungen kommen, die den Schmerz „von Gott gegeben“ begreifen. Manche fürchten, dass Schmerzen zuzugeben als „Charakterschwäche“ gesehen wird.

Bedeutsam kann sein, wie sich Patienten ihre Erkrankung erklären und die weitere Therapie vorstellen. Denken sie z.B., dass die Beschwerden rein körperlich bedingt sind, oder ist ihnen bewusst, dass sie Gesundheitszustand und Wohlbefinden durch ihr eigenes Verhalten beeinflussen können? Viele Patienten nehmen ihre Medikamente nicht ein, sagen aber ihrem Arzt nichts davon, um diese nicht zu beleidigen und um sich Diskussionen zu ersparen. Ärzte sollten auch über verwendete nichtmedikamentöse Methoden informiert werden. Bernatzky: „All das zu wissen, ist der Schlüssel für eine individuell angepasste und erfolgreiche Schmerzbehandlung.“