Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige

Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige werden international als „Young Carers“ bezeichnet. Was versteht man unter diesem Begriff?

Young Carers sind Kinder und Jugendliche im Alter von 5 bis 18 Jahren, die regelmäßig oder über einen längeren Zeitraum besondere Pflegetätigkeiten für ein chronisch krankes Familienmitglied durchführen − Tätigkeiten, die sonst nur von Erwachsenen durchgeführt oder mit Erwachsenen assoziiert werden, da sie häufig für das Alter der Kinder unangemessen sind. Diese Kinder und Jugendlichen erfahren dadurch teilweise Einschränkungen in ihrem Leben. Es handelt sich um direkte Pflege, oder sie unterstützen die Person, welche die Hauptlast der Pflege trägt. Die Pflege eines kranken Familienmitglieds endet für diese Young Carers zumeist nicht mit dem 18. Lebensjahr, sondern geht darüber hinaus.

Wie groß ist die Gruppe dieser Young Carers in Österreich?

Man weiß nach einer Fragebogenerhebung und Hochrechnung im Rahmen der Studie vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien von 42.700 Kindern, das ist allerdings die unterste anzunehmende Anzahl − die Dunkelziffer ist höher. Das Durchschnittsalter dieser Young Carers beträgt 12,5 Jahre, etwa 70 % sind weiblich. Herkunftsland bzw. ein Migrationshintergrund haben keinen Einfluss darauf, ob es zu einer Pflegesituation für Kinder kommt. Bemerkenswert ist auch, dass sich pflegende Kinder und Jugendliche oft nicht selbst als solche erkennen.

Soll man bzw. wie kann man Kinder erreichen, wenn sie gar nicht wissen, dass sie pflegende Angehörige sind?

Das ist tatsächlich sehr wichtig für diese Kinder und auch für deren Eltern, Young Carers müssen sichtbar gemacht werden. Sie müssen erfahren, dass ihre Pflegetätigkeit eine großartige Leistung darstellt und dass es wichtig ist, darin unterstützt und gleichzeitig entlastet zu werden. Den Young Carers fällt es schwer, eine unbeschwerte Kindheit zu erleben. Allerdings hat die pflegende Tätigkeit nicht nur negative Auswirkungen, sondern auch positive Aspekte. Diese Kinder und Jugendliche sind empathisch, sie fühlen sich erwachsener. Sie erwerben Kompetenzen, die ihnen unter Umständen im eigenen Erwachsenenalter nützlich sein können. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, zu helfen. Eine typische Aussage ist: „Ich habe schon immer geholfen“ − für sie ist das normal. 81 % der Kinder sagen, sie helfen der Mutter. Das ist auffallend. Die naheliegende Erklärung ist, dass die Mutter traditionell die Person ist, die die Pflege zu Hause ausführt, aber die auch andere Arbeiten hat, wie zum Beispiel den Haushalt führen, kleine Kinder zum Kindergarten bringen, bei den Hausaufgaben helfen, Essen zubereiten, Einkaufen. Young Carers übernehmen einen Teil dieser Aufgaben. Oft helfen mehrere Kinder gemeinsam. Selten erfahren sie Unterstützung durch Freunde oder durch professionelle Pflegedienste.

Bezüglich „Sichtbar machen“ − wie würde man Young Carers in der allgemeinmedizinischen Praxis erkennen?

Der Ordinationsassistenz würden Kinder und Jugendliche auffallen, die immer wieder Rezepte holen, der dazugehörige Patient oder die Patientin selbst kommt aber nicht.Werden Young Carers beim Arzt vorstellig, zeigen sie Belastungen in vielen Bereichen: Müdigkeit, Schlafprobleme oder Rückenschmerzen sowie Kopfschmerzen sind häufig. Sie sagen, dass sie oft Sorgen haben oder traurig sind.

Wie kommuniziert man mit einem Kind oder den Angehörigen über dieses Thema?

Sehr, sehr vorsichtig. Es ist immer noch ein Tabuthema. Man darf die Kinder nicht isoliert sehen, sondern muss die Familie in ihrer Gesamtheit betrachten. Oft gibt es da ein gewisses Schamgefühl, Erwachsene wünschen eher keinen Einblick in die privaten Familienangelegenheiten. Handelt es sich um psychische Erkrankungen oder Suchterkrankungen, darf man annehmen, dass gerade dort Vorbehalte bestehen, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen oder, falls die Voraussetzungen vorliegen, Pflegegeld zu beantragen.

Wer sind die zu pflegenden Personen, gibt es da Statistiken?

Laut einer Auswertung 2012 hatten 82 % der Familienmitglieder vor allem eine körperliche Behinderung, 14 % eine psychische Erkrankung, 4 % waren kognitiv oder sensorisch beeinträchtigt (z. B. Blindheit, Taubheit). Viele der Young Carers können die genaue Erkrankung nicht benennen.

Wie kann man als Hausarzt helfen?

Wichtig ist, dass die Erkrankung erklärt wird – das wäre eine Aufgabe für den Hausarzt. Die Situation „die Mutter ist wieder gestürzt und am Boden gelegen“ ist angstbesetzt. Wenn der Hausarzt informiert, warum das so ist, ob diese Situation gefährlich ist und wie man als Kind am besten darauf reagiert, wird viel Druck genommen.

Welche Rolle spielt die Schule?

Schulen haben eine besondere Bedeutung für die Identifikation und auch in der Unterstützung von Young Carers. Die Betreuungstätigkeit zu Hause kann sich negativ auswirken, vor allem auf Zeit und Konzentration. Die Kinder kommen zu spät, sind nicht ausgeschlafen, haben hohe Fehlzeiten. Manchmal, aber nicht immer, gibt es Vertrauenslehrer, die eingeweiht sind, die Schulärztin oder einen schulpsychologischen Dienst. Das Österreichische Jugendrotkreuz stellt viele pädagogische Materialien für Lehrer und Fachkräfte zur Verfügung, es gibt ganze Unterrichtseinheiten zum Thema, was insgesamt zur Entstigmatisierung beiträgt.

Als Informationstool wurde die Young Carers App zur Verfügung gestellt − warum gerade eine App, und was stellt sie dar?

Vorangegangen sind Plakataktionen in Schulen, Supermärkten, man verteilte Flyer. Es hat sich herausgestellt, dass das noch nicht das richtige Medium war, um die Zielgruppe der Young Carers, aber auch der Angehörigen und Multiplikator:innen im Sozial- und Gesundheitswesen zu erreichen. Eine App entspricht eher der Neigung der Kinder und jungen Erwachsenen. Entwickelt wurde die App im Rahmen einer Bachelorarbeit, die technische Umsetzung erfolgte durch die Fachhochschule Oberösterreich/Campus Hagenberg, Mobile Computing. Die Inhalte kommen von uns, das Herzstück ist das Young-Carers-ABC. Testläufe gab es mit 18-jährigen Betroffenen, darüber hinaus wurden angehende Pflegekräfte um ein Feedback gebeten. Die App wird laufend weiterentwickelt. Ziel ist es, dass sich die Kinder und Jugendlichen selbst an die passende Adresse wenden können. Es gibt Querverweise zu Organisationen wie den Superhands, einem Projekt der Johanniter, zu Rat auf Draht, zum Jugendrotkreuz, zur HPE Österreich (Hilfe für Angehörige Psychisch Erkrankter) mit deren Informationsbroschüre veRRückte Kindheit. Der Download der Young Carers Austria App funktioniert über den Playstore, den App-store oder auch über die Website des Sozialministeriums. Es ist keine Anmeldung erforderlich, es werden auch keine Daten erhoben, da es eine reine Info-Plattform darstellt.

Welche Art der Unterstützung für die Kinder/Jugendlichen bzw. indirekt der Erwachsenen wäre besonders wichtig?

Der zweite Teil der Studie „Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige“ hat genau diese Unterstützungsmöglichkeiten zum Inhalt. Wir müssen pflegende Kinder als soziale Realität in unserer Gesellschaft wahrnehmen und gleichzeitig das Thema „pflegende Kinder“ enttabuisieren. Ein Kind muss einen Freiraum für Freizeit haben. Wertvoll sind auch Austausch mit Gleichgesinnten sowie die altersgerechte Information und Beratung. Es ist wichtig, umfeldbezogene und soziale Ressourcen aufzuzeigen. Auch die körperliche Entlastung bei der Pflegearbeit ist ein Thema. Allgemein wird eine nachhaltige Verbesserung nur dann möglich sein, wenn man die Gesamtsituation berücksichtigt: Die Young Carers muss man immer in ihrem jeweiligen familiären Kontext wahrnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch!