„Kostenfaktor Angst“ in Zeiten der Unsicherheit

Am Beginn der Pandemie wurde mir bewusst, wie sehr die meisten Menschen verlernt haben, mit Unsicherheit umzugehen und diese als solche zu akzeptieren.
Die Erkenntnis, dass Wissenschaft für neue Ergebnisse Zeit braucht, dass sich diese dann auch immer wieder verändern können, dass es selten endgültige Wahrheiten gibt, war für viele vollkommen neu.
Die Erkenntnis, dass unser von Protektoren, Helmen und Versicherungen beschütztes Dasein plötzlich durch ein Virus, einen Krieg existenziell bedroht werden kann, ist für viele ein Schock. Die Unmöglichkeit, Termine über Monate hinweg zu planen, ist für unsere Gesellschaft vollkommenes Neuland. Diese Ungewissheit und Unsicherheit lösen bei Menschen Ängste aus. Sie werden häufig mit kompletter Negierung der Bedrohung abgewehrt oder mit Hilfe irrealer Konstrukte (Chips von Bill Gates, Verschwörung der Pharmaindustrie oder vermeintlich autoritäre Tendenzen in unserer Demokratie) uminterpretiert. Das Thema Angst und der inadäquate Umgang damit ist derzeit sehr präsent.

Verdeckter sind die Angst und die daraus entstehenden Kosten im Bereich der Gesundheitsversorgung, sowohl von Patient:innen- als auch von Ärzt:innenseite her. Patient:innen sind durch kleinere Veränderungen in der Befindlichkeit verunsichert, oft getriggert von ernsten Erkrankungen im Umfeld, oder „Awareness-Kampagnen“, gesponsert von der Pharmaindustrie. Der Wunsch nach extensiver kostenintensiver Abklärung, das Streben nach Sicherheit ist groß.

Ärzt:innen haben gelernt, sich durch eine teure „Defensivmedizin“ mit zahlreichen Untersuchungen abzusichern. Die subjektive Angst, als Behandler:in etwas zu übersehen, ist präsent. Dazu kommt die Sorge, verklagt zu werden. Dieser „Kostenfaktor Angst“ wird selten angesprochen und auch nicht systemisch wahrgenommen.

Der sehr häufige Beratungsanlass „Angst vor …“ – sei es Herzinfarkt, Krebs oder Ähnliches – wird im ICPC-2, das ist in Österreich das für die Allgemeinmedizin vorgesehene Codierungssystem, als eigenständiger Code geführt. Dieser Beratungsanlass wird von uns selbst gar nicht in dieser Prägnanz wahrgenommen. Ein beträchtlicher Teil unserer Arbeit besteht darin, Patient:innen zu entängstigen, zu beruhigen, ohne Wesentliches zu übersehen und Patient:innen vor zu intensiven Kontakten mit dem Gesundheitssystem zu schützen. Die Filterfunktion, die wir wahrnehmen, ist ein Schutz für die nachgeordneten Strukturen, schont Ressourcen, spart Kosten, vermindert überflüssige Untersuchungen. Wir ersparen damit oft den Patient:innen Stress und Belastung.
Diese Tätigkeit wird von den Stakeholdern im Gesundheitssystem selten wahrgenommen, weil sie zu wenig sichtbar ist, weil sie zu wenig von uns dokumentiert wird. Daher wird sie nicht wertgeschätzt.

Die Stärke der hausärztlichen Primärversorgung (= Allgemein- und Familienmedizin = Hausarztmedizin) ist die kontinuierliche Betreuung über Monate und Jahre hinweg. Das schafft Beziehung, schafft Vertrauen, lässt eine „therapeutische Partnerschaft“ entstehen.
Ganz im Sinne der EBM wird im Idealfall mit der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz, der Erfahrung der Ärztin/des Arztes und den Möglichkeiten, Bedürfnissen und Erfordernissen der Patientin/des Patienten entsprechend ein gemeinsamer Diagnose- und Therapiepfad entwickelt. Er kann je nach prozesshaftem Verlauf der Erkrankung/Befindlichkeitsstörung immer wieder neu adaptiert werden. Vertrauen und eine funktionierende Kommunikation ist angstmindernd und ressourcensparend. Nicht nur das, es ist auch klagsmindernd. Die Patientenanwaltschaft hatte 2020 ca. 13.000 Geschäftsfälle, davon betrafen 154 niedergelassene Allgemeinmediziner:innen. Eine geringe Zahl im Verhältnis zu den Behandlungsfällen.

Fazit: Angst ist mächtig, es gibt den Kostenfaktor Angst, das Heilmittel dagegen ist Vertrauen und Beziehungsmedizin.