Stellungnahmen der ÖGAM und JAMÖ zur Novelle des PrimVG

Stellungnahme der ÖGAM zum Ministerialentwurf Primärversorgungsgesetz und allg. Sozialversicherungsgesetz

Die österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) begrüßt den Impuls und den Willen zum Aufbau einer funktionierenden, gerechten Primärversorgung in Österreich sowie die Errichtung und Förderung von Primärversorgungseinheiten im Sinne des Gesetzes als Beitrag auf dem Weg dorthin.

Die ÖGAM begrüßt ausdrücklich die Stärkung und Weiterentwicklung des multiprofessionellen Ansatzes, ohne den moderne Primärversorgung nicht denkbar ist. Die wirksame Stärkung der solidarischen Gesundheitsversorgung in Österreich für alle (nach dem Prinzip „Equity in Health“) ist zentrales Ziel der ÖGAM.

Die ÖGAM teilt die Ansicht, dass eine verlässliche, gut sichtbare und als Versorgungsebene (nicht als Strukturform) definierte Primärversorgung die Aufgaben im Gesundheitssystem wahrnehmen kann, die die Versorgungssicherheit in der nötigen Qualität und im erforderlichen Umfang sicherstellen. Dazu müssen die definierten Kriterien der Primärversorgung erfüllt sein: erster Punkt des Kontaktes, umfassende Versorgung (alle Gesundheitsanliegen), Kontinuität der Betreuung, Koordinationsfunktion.

Primärversorgung ist laut gültigen Definitionen per se gerecht und gleich, muss also für die gesamte Bevölkerung in gleichem Maße zugänglich sein, siehe dazu auch die Definition der Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit, der sich die ÖGAM vollinhaltlich anschließt: „Primärversorgung ist die erste Anlaufstelle für alle Menschen mit gesundheitsbezogenen Anliegen und damit der Schlüssel zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung“ (www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Gesundheitssystem/Gesundheitsreform-(Zielsteuerung-Gesundheit)/Mehr-Gesundheit-durch-eine-gestaerkte-Primaerversorgung.html) (Hervorhebung ÖGAM).

Der Gestaltungswille muss daher auf die Schaffung einer flächendeckenden Primärversorgungsebene erweitert und ausgerichtet werden, die der gesamten Bevölkerung zur Verfügung stehen kann. Dazu wird die Förderung und Attraktivierung einer Vielfalt von Organisationsformen unausweichlich sein.

Stellungnahme zur Gesetzesnovelle

§2 (2): Die ÖGAM begrüßt die Senkung der Schwellen für die Gründung einer PVE und die vorgesehene Integration in bestehende Bereitschaftsdienstsysteme. Die Wirksamkeit dieser Änderung wird nach Ansicht der ÖGAM jedoch davon abhängen, ob ein Gesamtvertrag für Österreich zustande kommt, der Rahmenbedingungen enthält, die die Attraktivität von Gründung und Betrieb erhöhen.
Die Zahl der allgemeinmedizinischen Stellen darf durch die Ausweitung auf Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde als Teil des Kernteams nicht reduziert werden.

§9 (1a): Die ÖGAM begrüßt eine Ausweitung des Konzepts der Multiprofessionalität im vorgesehenen Ausmaß.

§ 14 a: Es muss klargestellt werden, dass für die hausärztlich tätige Allgemeinmedizin vorgesehene Stellen nicht durch Ambulatorien oder ambulatoriumsähnliche Strukturen ersetzt werden dürfen. Solche Einrichtungen erfüllen nur einen kleinen Teil der Anforderungen an eine Primärversorgung nach international anerkannter Definition. Das würde die genannten Absichten konterkarieren und die Versorgung der Bevölkerung verschlechtern, statt sie zu optimieren.

Stellungnahme der Jungen Allgemeinmedizin Österreich (JAMÖ) zur Novelle des Primärversorgungsgesetzes (PrimVG), allgemeine Stellungnahme zum PrimVG und zur Primärversorgung in Österreich

Sehr geehrte Leser:innen, als Fachgesellschaft und Interessengemeinschaft der jungen und angehenden Allgemeinmediziner:innen möchten wir, die Junge Allgemeinmedizin Österreich (JAMÖ), zu dieser Gesetzesänderung Stellung beziehen. Das PrimVG betrifft die Grundlage unser aller Gesundheitsversorgung und muss somit langfristig eine Struktur ermöglichen, die eine gleichberechtigende medizinische Versorgung in einem gerechten und evidenzbasierten Ausmaß ermöglicht. In Anbetracht des zunehmenden Mangels an Allgemeinmediziner:innen im Kassensektor muss die Attraktivität dieses Bereichs so weit gewährleistet sein, dass wir eine ausreichende Zahl an versorgungswirksamen Hausärzt:innen auch langfristig sicherstellen können. In der nachfolgenden Stellungnahme finden Sie deshalb zuerst eine allgemeine Bewertung des Primärversorgungsgesetzes und der Primärversorgung sowie nachfolgend konkrete Anmerkungen zum Gesetzestext.

Allgemeines zum PrimVG

Das PrimVG regelt die Angelegenheiten der in § 3 des Gesundheits-Zielsteuerungsgesetzes definierten Primärversorgung in Bezug auf multiprofessionelle und interdisziplinäre Primärversorgungseinheiten (PVE). Wir freuen uns, dass es die Möglichkeit der Primärversorgungszentren und -netzwerke in Österreich gibt. Je mehr Arbeitsmodelle wir in Österreich für Allgemeinmediziner:innen haben, desto höher ist die Attraktivität auf Grund der Wahlmöglichkeiten für die individuellen Arbeitsbedürfnisse und somit auch die Versorgung der Bevölkerung durch Allgemeinmediziner:innen. Die große Vielfalt an Arbeitsmodellen ist das, was wir in Österreich benötigen, um die regionalen Notwendigkeiten in der Gesundheitsversorgung abdecken zu können. Wir sehen die Gesundheitsversorgung durch Primärversorgungseinheiten auch als Aufwertung der Patient:innenversorgung durch die Erweiterung des interdisziplinären Teams. Dadurch stellen sie eine große Bereicherung der Versorgung dar.

Wir begrüßen die Möglichkeit zu einer schnelleren und öffentlich finanzierten Versorgung durch weitere nichtärztliche Gesundheitsberufe in den Primärversorgungseinheiten. Dies stellt einen deutlichen Mehrwert für die Patient:innen dar und schafft ein größeres Versorgungsangebot, auch mit Gesundheitsberufen, die derzeit kaum oder gar nicht im niedergelassenen Kassenbereich vertreten sind. Jedoch sollte bedacht werden, dass mit dem geplanten Ziel nur ca. 12 %1 der österreichischen Bevölkerung von den PVE versorgt werden können. Die anderen Versorgungsformen der Primärversorgung, wie zum Beispiel hausärztliche Praxen, können aber derzeit nicht routinemäßig auf ein interdisziplinäres Team zurückgreifen. Somit entsteht für einen Großteil der Bevölkerung eine de facto Benachteiligung in der Gesundheitsversorgung, da sie nicht auf dieses Versorgungsangebot durch Gesundheitsberufe zurückgreifen können. In der Erläuterung heißt es, dass dieses Gesetz zur „flächendeckenden“ Gesundheitsversorgung „ohne Unterscheidung“ beitragen soll. Somit muss der Zugriff auf eine flächendeckende Versorgung durch weitere Gesundheitsberufe innerhalb einer zumutbaren Wartezeit für alle Österreicher:innen gleich gewährleistet werden.
Wir begrüßen die Einführung und Erleichterung von Primärversorgungseinheiten sowie die neuen Änderungen des Primärversorgungsgesetzes. Nachfolgend finden Sie unsere konkrete Stellungnahme zu den Gesetzestexten und Ergänzungsvorschläge, um die Gesundheitsversorgung Österreichs nachhaltig zu verbessern.

Konkreter Bezug zum Gesetzestext

Bisher nicht einbezogene Aspekte:

  • Innerhalb Österreichs sind die Bedingungen zur Gründung einer PVE bundeslandspezifisch individuell. Dies macht eine simple und attraktive Kommunikation über die Arbeits- und Gründungsbedingungen unmöglich. Es ist notwendig, dass es österreichweit einen einheitlichen Gesamtvertrag für Primärversorgungseinheiten gibt. Hierdurch würde die Kommunikation bezüglich Gründung und Arbeitsformen erleichtert und die Attraktivität hiervon gesteigert werden.
  • Für die Primärversorgung ist die Kontinuität in der Patient:innenversorgung einer der Grundpfeiler. Wir haben Erfahrungsberichte bekommen, dass diese in den einzelnen PVE nicht gegeben sei. Deshalb finden wir, dass eine Evaluierung der Kontinuität anhand evidenzbasierter Marker (z. B. „Continuity of Care Index“) eingeführt werden sollte. Nur hierdurch kann sichergestellt werden, dass eine echte allgemeinmedizinisc
    he Versorgung, welche sich durch ihre Effizienz und Effektivität im Vergleich zu anderen Bereichen (Spitals-/Fachärzt:innen) auszeichnet, im Sinne einer Primärversorgung etabliert ist und die Bevölkerung dahingehend gut versorgt ist. Dementsprechend müssen Maßnahmen zur Messung und Sicherstellung der Kontinuität in der Versorgung getroffen werden.

Gesetzestextänderungen – Anmerkungen zu Textpassagen:

  • § 2 (2) u. (3) – Eine Erweiterung um weitere primärversorgungsrelevante Fachärzt:innen (Kinderheilkunde sowie Frauen- und Geburtshilfe) wird positiv angesehen. Wichtig ist, dass es hier jedoch nicht zu einem Austausch von ursprünglichen allgemeinmedizinischen Stellen durch die anderen Fachrichtungen kommt, da sonst die Zahl der Hausärzt:innen in Österreich insgesamt sinken würde.
  • § 4 (2) – Akutversorgung an Wochenenden und Feiertagen
    – Bei einer PVE mit zwei Ärzt:innen muss die vorgegebene Öffnungszeit aliquot reduziert werden. In einer PVE mit 3 Ärzt:innen ist eine Abdeckung der Werktage inklusive der Tagesrandzeiten durchaus möglich. Bei einer PVE mit 2 Ärzt:innen ist dies nicht mehr mit weiteren Tätigkeiten wie Visitentätigkeit, interdisziplinären Teambesprechungen, Gesellschafteraufgaben, Bereitschaftsdiensten etc. vereinbar. Dies würde entweder langfristig eine Überforderung der Ärzt:innen bedeuten oder die Attraktivität der Organisationsform stark reduzieren. Noch viel stärker wäre dieser Aspekt bei einer PVE-Mischform (Allgemeinmediziner:innen + Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendheilkunde), die ein unterschiedliches Spektrum abdeckt.
    – Die Versorgung der Bevölkerung an Wochenenden sollte nicht allein verpflichtend von Primärversorgungseinheiten getragen werden. Entweder sollte es für alle Primärversorger:innen (Einzelpraxen bis Primärversorgungseinheiten) verpflichtend sein oder für keine dieser Gruppen. Eine Unterscheidung zwischen diesen Formen führt zu einer Diskriminierung der Arbeitsmodelle und somit nicht zu einer Attraktivierung. Es gibt gut funktionierende Modelle aus den Bundesländern, die hier stattdessen zur Anwendung kommen könnten. In Anbetracht der kommenden Änderungen der allgemeinmedizinischen Ausbildung wäre auch eine Sicherstellung dieser Dienste durch Ärzt:innen in Ausbildung, die am Ende der verlängerten Lehrpraxiszeit stehen, möglich und sinnvoll. Wir sehen eine Verpflichtung einzelner Versorgungsstrukturen als diskriminierend und nicht sinnvoll an.
  • § 14(a) in Zusammenschau mit bereits bestehendem § 2 (5) Ziffer 1b – verkürztes Auswahlverfahren und Gründung von Ambulatorien:
    – Durch ein verkürztes Auswahlverfahren mit nachfolgender Ausschreibung über die ÖGK sehen wir die Gefahr, dass vermehrt Ambulatorien gegründet werden. In Ambulatorien wird keine allgemein- und familienmedizinische Versorgung angeboten, da die Kontinuität der Behandlung durch dieselben Ärztinnen und Ärzte hier kein Kriterium ist. Langfristig können so auf Grund von Nichtbesetzungsphasen viele Kassenstellen in Ambulatorien umgewandelt werden, und diese werden nicht wieder als allgemeinmedizinische Praxen ausgeschrieben. Diese anhaltende Reduktion der allgemeinmedizinischen Ordinationen sehen wir als Entwicklung in eine für die Bevölkerung negative Richtung. Im internationalen Vergleich wissen wir, dass die allgemeinmedizinische Versorgung die kosteneffizienteste und effektivste medizinische Primärversorgung darstellt und demnach langfristig gefördert und nicht durch teurere und weniger effektive Formen ersetzt werden darf.
    – Bezüglich des in der PrimVG-Novelle erwähnten verkürzten Auswahlverfahrens muss unbedingt darauf geachtet werden, dass es bei den Anbieter:innen zu keiner Monopolstellung kommen kann und somit die Vielfalt in der Primärversorgung gewahrt wird.