Wahlärzte: Zeitfaktor als Vorteil

Eine österreichweite Telefonumfrage vom Sommer 2012 bestätigt die Bedeutung der Wahlärzte für das österreichische Gesundheitssystem. Mehr als die Hälfte der niedergelassenen Ärzte in Österreich ordinieren in einer wahlärztlichen Praxis. „Das öffentliche Gesundheitssystem, das im wohnortnahen Bereich durch niedergelassene Kassenärzte repräsentiert wird, könnte mittlerweile ohne die ‚ergänzende Funktion‘ der Wahlärzte nicht aufrechterhalten werden“, betont Dr. Christoph Reisner, Präsident der Ärztekammer für Niederösterreich.

Vergleicht man die Ärztedaten aus den Jahren 1990, 2000 und 2010, ist folgende Entwicklung deutlich erkennbar: „Während sich die gesamte Ärztezahl in Österreich in den letzten Jahren 20 Jahren um 75% auf rund 40.000 vergrößert hat, ist die Zahl der Kassenärzte mit rund 7.650 nahezu konstant geblieben. Im Spital wurde um etwa 60% aufgestockt. Die Wahlärzteschaft hat sich im Vergleichszeitraum nahezu auf das Sechsfache vergrößert“, so Reisner.

Bereits jeder dritte Befragte gab an, ein- oder mehrmals im heurigen Jahr in wahlärztlicher Behandlung gewesen zu sein – bei der Befragung im Jahr 2008 war das noch ein Viertel der Befragten. Reisner: „Hier ist eine Entwicklung in Richtung Wahlärzte klar erkennbar.“ Lediglich in Wien liegt der Wert weiterhin bei 25% und ist damit am niedrigsten, was wohl „an der städtischen Struktur und der damit verbundenen hohen Ärztedichte“ liegt. Dr. Josef Huber, Präsident der Ärztekammer für Kärnten, analysiert die Beweggründe für den immer häufigeren Wahlarztbesuch: „Ein Internist mit Kassenvertrag hatte rein statistisch gesehen im Jahr 1990 etwa 13.000 Einwohner zu versorgen. 2010 waren es schon 15.500 Einwohner. Da ist es vollkommen klar, dass die Wartezeiten auf einen Arzttermin länger und die Behandlungszeiten kürzer werden müssen.“ Das artikulieren auch die Patienten in der Umfrage ganz deutlich: „Raschere Termine und mehr Zeit für den Patienten sind die hauptsächlichen Beweggründe für Wahlarztpatienten, das Kassensystem zu umgehen. Beide Umfragewerte haben sich annähernd gleich von 18% im Jahr 2008 auf 35% im Jahr 2012 entwickelt.“

 

Große Zufriedenheit mit dem Wahlarzt

Haben sich die Patienten erst einmal entschieden, zum Wahlarzt zu gehen, sind sie hochzufrieden. „Mit einem Zufriedenheitsgrad von 98% ist die Wahlärzteschaft sicherlich ganz oben in der Wertung der Dienstleister angesiedelt. Was keinesfalls eine Abwertung der Kollegen im Kassenbereich bedeutet, sondern ganz im Gegenteil. Drei von vier Wahlarztpatienten attestieren auch Kassenärzten eine sehr gute oder eher gute Betreuung.“ Trotzdem sind 42% der Patienten überzeugt, bei Wahlärzten eine bessere medizinische Qualität zu bekommen. „Aus meiner Sicht ist das jedoch die ‚gefühlte‘ Qualität, die sich nicht aus besserer fachlicher Kompetenz, sondern einfach aus einer ‚Mehrzeit für den Patienten‘ ergibt“, so Huber.

 

Kürzungen im öffentlichen Gesundheitssystem fördern Zweiklassenmedizin

Im Hinblick auf die geplante Gesundheitsreform fordert Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer für Wien, dass die Wahlärztegruppe als „stabilisierendes Element“ in bevorstehende Reformüberlegungen miteinzubeziehen sei. „Wahlärzte sind aus der österreichischen Gesundheitsversorgung nicht mehr wegzudenken. Sie schließen mittlerweile eine große Lücke in der allgemeinmedizinischen und fachärztlichen Gesundheitsbetreuung. Sie entlasten das stark strapazierte Kassensystem.“ Genaue Daten sind nicht vorhanden, Schätzungen lassen jedoch zu, dass bereits ein Viertel bis ein Drittel aller „kassenärztlichen Arbeitszeit“ von Wahlärzten geleistet wird. Und die Entwicklung könnte sich im Zuge der Gesundheitsreform so fortsetzen: „Einsparungen im öffentlichen System führen unweigerlich zu einer stärkeren Inanspruchnahme der Privatmedizin, was Wahlärzten zugute kommt. Gleichzeitig bedeutet es aber auch eine Verabschiedung vom Solidarprinzip, das unser Gesundheitssystem in Österreich ausmacht. Patienten, die sich eine Behandlung beim Wahlarzt nicht leisten können, werden dann einen erschwerten Zugang zur medizinischen Versorgung haben“, so Szekeres.

Obwohl der Trend in Richtung Behandlung beim Wahlarzt deutlich erkennbar ist, hinkt der Informationsstand seitens der Patienten über das Wahlarztsystem hinterher: Der Wissensstand ist noch verbesserungswürdig. Dass es eine Rückerstattung gibt, ist zwar 73% der Befragten bekannt, über die Höhe wissen jedoch nur vergleichsweise wenige Personen, nämlich 15%, Bescheid.

Die Tendenz zum Einreichen der Honorarnoten steigt leicht, mit 78% im Vergleich zu 75% im Jahr 2008. „Trotzdem reicht immer noch knapp jeder vierte Patient die Honorarnote nicht bei der zuständigen Kasse ein“, so Huber. Die Gründe laut Befragung: „Nur vier Prozent sind nicht über die Rückerstattungsmöglichkeit informiert, 2008 waren das noch 18%.“ Für 15% ist die Rückerstattung zu gering (2008 lag der Wert bei 16%) beziehungsweise für 19% der Aufwand zu groß (2008 waren dies 14%). Für Huber ist die Rechnung vollkommen klar: „Die Versorgungswirksamkeit nimmt zu, gleichzeitig nimmt aber die Rückerstattung ab. Das System ist grotesk. Kassenärzte überschreiten immer mehr Limits, dadurch sinkt der Rückverrechungsanteil für den Wahlarztpatienten.“ Wahlärzte haben laut Huber schon einen hohen Stellenwert im System, obwohl der Aufwand seitens der Kasse mit etwa sechs Millionen Euro zu85 Millionen Euro für Kassenärzte pro Jahr in Kärnten eher gering ist. „Das sollte auch von der Kasse durch eine stärkere Unterstützung, beispielsweise beim Ordinationsbedarf, anerkannt werden.“

Gesundheitssystem darf nicht durch medizinische Kürzungen finanziert werden

In Bezug auf die kommende Gesundheitsreform ist man im südlichsten Bundesland eher restriktiv. Nur zwei Prozent der Kärntner wären mit Einschränkungen der ärztlichen Leistungen einverstanden. Der Durchschnitt der Österreicher sieht dies anders, hier könnten sich sogar 10% der Bevölkerung medizinische Kürzungen vorstellen, in Oberösterreich liegt der Wert sogar bei 19%. 42% der Kärntner, 43% der Wiener und 31% der Niederösterreicher wollen eine andere Lösung als Einschränkungen der medizinischen Leistungen, eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge oder eine Erhöhung oder Einführung eines Selbstbehalts (österreichweit 30%).

Hausbesuche und Medikamente direkt vom Arzt

Über die zentralen Patientenwünsche berichtet Szekeres aus der Studie: „54% der Österreicher halten Hausbesuche für wichtig. In diesem Punkt sind sich die Österreicher einig, es sind kaum Unterschiede zwischen den Bundesländern erkennbar. Die Medikamentenabgabe direkt durch den Arzt wünschen sich 66% der Österreicher. Spitzenreiter ist das Burgenland mit 83%, Wien liegt sicherlich aufgrund der hohen Apothekendichte bei 58%. Ganz klar erkennbar ist auch, dass während der normalen Ordinationszeiten der Besuch der Ordination eines Vertrauensarztes im Vergleich zur Spitalsambulanz der Vorzug gegeben wird.“

KOMMENTAR: Dr. Susanne Rabady

Der hohe Bedarf an Wahlärzten besteht ohne Zweifel – er entsteht allerdings in erster Linie durch die fehlende Steuerung im Gesundheitssystem, ist also Resultat eines Systemversagens.
Patienten, die direkt, also ohne Konsultation des Hausarztes, einen Facharzt aufsuchen, steuern diesen ungezielt an. Häufig wäre das Problem ohne Weiteres beim Hausarzt lösbar gewesen, häufig wählen sie den „falschen“, weil für sie nicht zuständigen Facharzt aus. Damit wurde nicht nur auf allen Seiten Zeit und Expertise verschwendet, sondern es wurden auch Kapazitäten blockiert: tatsächlich facharztpflichtige Patienten können eventuell keinen Termin zum erforderlichen bzw. gewünschten Zeitpunkt bekommen und sehen sich gezwungen, einen Wahlarzt aufzusuchen. Damit entsteht die etwas sonderbare Situation, dass die Ordinationen der Kassenfachärzte von zahlreichen Patienten aufgesucht werden, für die sie nicht nötig oder zuständig sind, und die Patienten, die tatsächlich mit einer gewissen Dringlichkeit fachärztliche Expertise benötigen, ins (teil-)private System ausweichen müssen.
Freiwilligkeit ist in diesem Fall ein relativer Begriff. Dazu kommt, dass nicht wenige Patienten auch deshalb Wahlärzte aufsuchen, die parallel in Krankenhäusern tätig sind, weil sie sich davon Vorteile versprechen, sollte sich die Notwendigkeit zu einem stationären Aufenthalt ergeben.
Wer private Medizin möchte, der soll sie bekommen können. Aber wer im Kassensystem bleiben möchte, der soll die Möglichkeit dazu haben, und dabeisicher gehen können, dass ihm keine Nachteile erwachsen, sondern dass er so betreut wird, wie es ein qualitätsvoller Umgang verlangt.