Stress pur

Frauen und Männer verarbeiten Stress auf unterschiedliche Weise. Wissenschafter haben herausgefunden, dass in Stresssituationen bei Männern das Kortisol ansteigt, bei Frauen hingegen das Hormon Progesteron, das als Botenstoff gilt, der für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wichtig ist. In der Studie, in der diese Effekte dokumentiert wurden, mussten Probanden unter Zeitdruck Rechenaufgaben lösen und anschließend virtuell ballspielen, wobei es zu permanenten Ausgrenzungssituationen kam, also ein sozialer Stress ausgelöst wurde. Beide Geschlechter erlebten die Aufgaben als aufreibend, reagierten aber eben hormonell unterschiedlich. Der Progesteron-Anstieg könnte sich für Frauen verunsichernd auswirken, folgern die Autoren. Doch nicht nur das – auch im Gehirn unterscheiden sich die Reaktionen. Bei Leistungstests zeigten sowohl Männer als auch Frauen Stressreaktionen, allerdings beeinflusst durch den Selbstwert. Wenig selbstbewusste Frauen hatten verstärkte Aktivität in kognitiven Kontrollarealen des Gehirns – es stand also das Ziel im Vordergrund, die Aufgabe möglichst gut zu erfüllen. Bei Männern waren hingegen Areale aktiviert, die in Verbindung mit Selbstbezug und Emotionen stehen. Gender-Faktoren sollten daher bei der Stressthematik und -analyse stets mitbedacht werden.

 

Geschlechtsspezifische Unterschiede der Stressachse bei gesunden Frauen und Männern

  • Männer: Östrogene erhöhen die Stressantwort
  • Frauen: geringere Empfindlichkeit auf Cortisol während Luteal- und Follikularphase
  • Frauen: DST*-Suppression während der Lutealphase, schwächer als in der Follikularphase
  • Frauen: Progesteron hemmt DST*-Feedback

* DST: Dexamethason-Suppressionstest; zur Erklärung: Dexamethason bindet überwiegend an kortikotrope Zellen der Hypophyse und übt eine negative Rückkopplung aus. Mit dem Test kann die Feedback-Sensitivität der Achse Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde auf Ebene der Hypophyse beurteilt werden.

Quelle: Hatzinger M, Die gestresste Frau. TMJ 3/2013

 

Psychosoziale Aspekte

Im Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Österreich 2015 wurden auch psychosoziale Ursachen für Stress bei Frauen genannt. Der Spagat zwischen der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung, Aufgaben und Verpflichtungen in der Partnerschaft, als Mutter und Berufstätige sowie Zusatzbelastungen wie Pflege von Angehörigen erweist sich als enormer Stressor. Dies kann zu einer schleichenden Überforderung führen. Auch sozioökonomische Aspekte spielen immer noch eine wesentliche Rolle.2

Gerade im Falle der Pflege von demenzkranken Angehörigen erweisen sich oftmals Stress und Angstempfinden als besondere Herausforderungen für die betreuende Frau.2

Der Umgang mit Stresssituationen ist eine große Herausforderung und oftmals ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Erkrankung. Studien zeigen, dass Frauen mit hoher Tendenz zur Verdrängung oft besonders hohe Depressionswerte haben. Auch das Risiko für Rückenschmerzen ist signifikant erhöht. Gerade bei chronischen Rückenschmerzen bestehen deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Schmerzintensität, Angstvermeidung, passive und aktive Bewältigungsstrategien, momentane Leistungsfähigkeit und Funktionsbeeinträchtigung.2

Pandemie als Verstärker

Bestehende Belastungen wurden durch die Corona-Pandemie noch weiter verstärkt, wie eine kürzlich publizierte Studie des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und Berlin über die Folgen der COVID-19-Krise auf die psychische Befindlichkeit dokumentiert. Die Ergebnisse zeigen, dass psychische Belastung bei Frauen im Vergleich zu Männern deutlich stärker anstiegen. Bei Frauen und jungen Personengruppen war der Anstieg des Symptoms Depression am stärksten ausgeprägt. Bei der Frage, ob man sich durch Alltagssituationen zunehmend genervt fühle, lag der Wert bei Frauen um 13 % höher als bei Männern.3

Pflanzen gegen Stress und für mehr Widerstandsfähigkeit

Neben der Erarbeitung von Stressbewältigungskompetenzen (siehe Kasten zur Resilienz), Entspannungsmethoden, Meditation und regelmäßiger Bewegung sind pflanzliche Adaptogene eine vielversprechende Option, um den Stresslevel zu senken und die Widerstandsfähigkeit gegen äußere Stressoren zu erhöhen. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA definiert ein Adaptogen als Regulator, der normalisierend auf verschiedene Körperfunktionen wirkt. Es wirkt über eine Stärkung der Widerstandfähigkeit des Organismus einem breiten Spektrum von biologischen, chemischen und physikalischen Belastungsfaktoren gegenüber.4 Während Stimulanzien nur eine kurzfristige Erhöhung der Leistungsfähigkeit bewirken und es danach zu einem Abfall kommt, stärken Adaptogene nachhaltig.5

Ein bewährtes Adaptogen ist Rosenwurz (Rhodiola rosea). Die Pflanze hat positive Wirkungen bei körperlicher und geistiger Ermüdung, stressinduzierter chronischer Fatigue und Depression. Das pharmakologische Profil umfasst unter anderem das Zentralnervensystem stimulierende, kardioprotektive, neuroprotektive, anxiolytische und immuntrope Effekte.4 In einer Monografie des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) der EMA wird die traditionelle Anwendung zur Erleichterung von Stresssymptomen wie Fatigue und Schwächezuständen genannt.6 Die stressdämpfende Wirkung wird mit regulatorischen Effekten auf Schlüsselmediatoren der physiologischen Stressantwort begründet. Weiters besteht vermutlich ein Einfluss auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse (HPA-Achse). Im Zentralnervensystem wirkt der Rosenwurz direkt stimulierend auf Rezeptoren verschiedener Neurotransmitter­systeme. Es kommt dadurch zur kognitiven Stimulation und zur Beeinflussung von Signalwegen des limbischen Systems (und damit der Emotionsverarbeitung). Klinische Untersuchungen haben die positive Wirkung auf die körperliche und mentale Leistung dokumentiert.4
Neben Rhodiola rosea gibt es noch weitere interessante Vertreter pflanzlicher Adaptogene: Die Taigawurzel (Eleutherococcus senticosus [Rupr. et Maxim.] Maxim.), Ginseng (Panax Ginseng) und das Chinesische Spaltkörbchen (Schisandra chinensis).5 Ginseng findet bei Müdigkeit und Schwäche Anwendung, für die Taigawurzel werden Effekte auf Asthenie wie Müdigkeit und Schwäche beschrieben.7, 8

Auswirkungen auf den Schlaf

Gestresste Menschen wälzen sich nicht selten im Bett, bis sie einschlafen. Auch das Durchschlafen fällt vielen schwer. Häufig ist zudem das Gefühl unruhiger Beine – dies kann auch Menschen betreffen, die gewöhnlich nicht an „restless legs“ leiden. Arbeitsbezogene oder persönliche Stressoren lösen meist eine akute Insomnie aus. Nach Wegfall des Stressors kann sich dieses Phänomen aber wieder zurückbilden. Bleiben die Stressauslöser aufrecht, oder kommen weitere Stressoren hinzu, kann es zur Entwicklung einer chronischen Insomnie kommen.9

Der Anteil von Personen mit Schlafstörungen in der Bevölkerung wird mit 20–30 % beziffert. In der Studie zur „Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ wurde festgestellt, dass 30 von 100 Befragten in den vier Wochen zuvor mehr als dreimal pro Woche schlecht einschlafen oder durchschlafen konnten. Frauen berichteten doppelt so häufig von Schlafproblemen wie Männer. Dabei ist offen, ob das weibliche Geschlecht selbst ein Risikofaktor für Insomnie ist oder ob der Grund mit der Rolle der Frau in Familie und Berufsleben zusammenhängt (siehe die eingangs erwähnten psychosozialen Ursachen).10

Auch im Hinblick auf Schlafstörungen hat sich die aktuelle Pandemie als Verstärker ausgewirkt. Die bereits erwähnte Studie der Sigmund Freud Privatuniversität ergab, dass es seit Mai 2020 zu einer leichten Zunahme kam.3

Pflanzen für den guten Schlaf

Die Pflanzenwelt bietet eine Reihe von Vertretern, mit denen Unruhezustände und dadurch ausgelöste Schlafstörungen gut behandelt werden können. Im Gegensatz zu synthetischen Schlafmitteln ist bei pflanzlichen Schlafhilfen keine Sofortwirkung innerhalb weniger Minuten zu erwarten. Bei der Beratung ist es daher wichtig, auf die sanften und ausgleichenden Effekte der Phytotherapie hinzuweisen.

Die Passionsblume (Passiflora incarnata) ist zur Besserung leichter Stresssymptome geeignet. Das HMPC nennt in der Monografie zum Kraut die Erleichterung von mentalen Stresssymptomen als Anwendungsgebiet. Außerdem wird die Verwendung als Hilfe bei Einschlafstörungen beschrieben. Die Melisse (Melissa officinalis L.) wird bei Angespanntheit, Unruhe und nervös bedingten Einschlafstörungen eingesetzt. Die Anwendung ist in Monografien des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) der EMA und von ESCOP beschrieben.11

Als Sedativum wird auch der Baldrian (Valeriana officinalis) eingesetzt. Ausgehend von Erfahrungsmedizin sowie klinischen und pharmakologisch experimentellen Untersuchungen lässt sich auf positive Wirkungen bei nervösen Erregungszuständen und nervös bedingten Schlafstörungen schließen. Die schlafanstoßende Wirkung setzt meist nicht sofort ein, sondern erst nach einigen Tagen.12 Beliebt sind auch Kombinationen mit Hopfen. In Studien mit den getrockneten weiblichen Blütenständen von Humulus lupulus L. (Hopfenzapfen) wurden dosisabhängig sedative und hypnotische Wirkungen ermittelt.11

Kalifornischer Mohn (Eschscholzia californica) enthält mehrere Alkaloide, die sedativ und schlaffördernd wirken. Die Wirkung kann als allgemein ausgleichend und nichtnarkotisch beschrieben werden.12 Zubereitungen aus dem Kraut werden daher zur Behandlung von Schlafstörungen und nervöser Übererregbarkeit eingesetzt.13 Das HMPC hat in einer Monografie zur Pflanze die traditionelle Anwendung zur Erleichterung milder Symptome von mentalem Stress sowie den Einsatz als Einschlafhilfe genannt.14

Bei Ein- und Durchschlafstörungen aufgrund von Depressionen und Verstimmungen ist Johanniskraut (Hypericum perforatum L.) eine bewährte Option.

Für Lavendel wurde in Studien mit dem ätherischen Öl der Pflanze unter anderem eine günstige Beeinflussung von Unruhezuständen und Schlafstörungen nachgewiesen, die im Rahmen von Angststörungen auftreten.15 Auch Blütenextrakte kommen erfolgreich zum Einsatz. Für Öl und Blüten wurde in einer HMPC-Monografie die Anwendung bei Behandlung leichter Stress- und Erschöpfungszustände sowie als Schlafhilfe beschrieben.16

Schlafstörungen sind auch eine bekannte Indikation für eine Supplementation von Melatonin. Die Substanz zählt zu den Chronobiotika, greift also in die physiologische Regulierung der biologischen Uhr ein und hilft besonders bei einem desynchronisierten zirkadianen Rhythmus. Melatonin wirkt schlaffördernd und auch schlafmodulierend. Das Ausmaß der Wirkung hängt davon ab, in welcher zirkadianen Phase die Substanz eingenommen wird. Die Einnahme am Abend führt zu einer Phasenverfrühung. Zur Normalisierung des Schlafrhythmus (z. B. bei Einschlafstörungen oder Jetlag) sollte Melatonin daher immer am Abend kurz vor der Nachtruhe eingenommen werden.17

 

Gestaltungsräume und Resilienz
Unter Resilienz versteht man innere Kräfte, die es ermöglichen, Krisen und Schwierigkeiten sowohl zu überwinden als auch gestärkt daraus hervorzugehen. Resilienz ist keine festsitzende Eigenschaft, sondern kann erlernt werden. Gleichzeitig ist sie ein lebenslanger Prozess, der zwischen dem Individuum und der Umwelt abläuft. Wichtig ist das Bewusstsein, dass es Gestaltungsspielräume gibt. Resilienz steht für gestalterisches Potenzial, sich durchzukämpfen fällt nicht darunter. Um dieses Denken zu entwickeln, braucht es Bewusstseinsschulungen.
Zur Erlangung der Resilienz gibt es sieben Schlüsselfaktoren:
  • Optimismus
  • Akzeptanz
  • Lösungsorientiertheit
  • Selbstwirksamkeit/Selbstregulation
  • Verantwortung übernehmen
  • Beziehungen gestalten
  • Zukunft gestalten

 


Literatur:

  1. Stress: Das Geschlecht macht den Unterschied. Originalpublikation: Kogler L, Müller VI, Seidel EM et al., Sex differences in the functional connectivity of the amygdalae in association with cortisol. Neuroimage. 2016 Jul 1; 134:410–423
  2. Schleicher B, Pfabigan D (2015): Gesundheitliche Situation von Frauen in Österreich. Grundlage für die Entwicklung des Aktionsplans Frauengesundheit. Gesundheit Österreich GmbH, Wien
  3. Follow-up-Studie zu den Folgen der COVID-19-Krise auf die psychische Befindlichkeit
  4. Baldinger-Melich P, Spies M, Lanzenberger R, Kasper S, Der Stellenwert der Phytomedizin in der Psychiatrie. Auf: Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie.
  5. European Medicines Agency (EMA): Reflection Paper on the adaptogenic Concept.Doc. Ref. EMEA/HMPC/102655/2007
  6. Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC): Community herbal monograph on Rhodiola rosea L., rhizoma et radix EMA/HMPC/232091/2011
  7. Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC): Community herbal monograph on Panax ginseng C.A.Meyer, radix. EMA/HMPC/321233/2012 Corr
  8. Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC): Community herbal monograph on Eleutherococcus senticosus (Rupr. et Maxim.) Maxim., radix. EMA/HMPC/680618/2013
  9. Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin: S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen Kapitel „Insomnie bei Erwachsenen“, Update 2016. AWMF-Registernummer 063/003
  10. Stiftung Gesundheiswissen (zuletzt aktualisiert am 9. 4. 2021)
  11. Blaschek W, Wichtl – Teedrogen und Phytopharmaka, 6. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2016
  12. Fintelmann V, Weiss F, Kuchta K, Lehrbuch Phytotherapie, 13. Auflage. Haug Verlag 2019
  13. AWL Heilpflanzenlexikon: Kalifornischer Mohn – Eschscholzia californica
  14. Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC): European Union herbal monograph on Eschscholzia californica Cham., herba. EMA/HMPC/680372/2013
  15. Arzneipflanze 2020. Pharmazeutische Nutzung und ihre Bedeutung in der Medizin. Presseinformation 30. Jänner 2020
  16. Kooperation Phytopharmaka GbRRiedmann E, Melatonin, Schlaf und Immunsystem. UIM Sonderausgabe 1/2021