Rehabilitation – eine Investition, die sich jedenfalls auszahlt!

ARZT & PRAXIS: Das Thema der diesjährigen ÖGKJ-Jahrestagung lautet „Pädiatrie komplex“. Ist – provokant gefragt – nicht jede medizinische Disziplin komplex bzw. wodurch hebt sich die Pädiatrie in diesem Zusammenhang ab?

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Sperl: Das Fach Kinder- und Jugendheilkunde ist das komplette Gegenteil von einfach. Komplex bedeutet, dass unser Fach unterschiedliche Lebensabschnitte beinhaltet, vom Frühgeborenen über den neugeborenen Säugling, das Kleinkind, Schulkind und den Jugendlichen bis hin zum Adoleszenten, und alle unterschiedlichen Organsysteme inkludiert, die auch in der Erwachsenenmedizin meist von Spezialisten abgedeckt werden.
Dadurch, dass sich durch die Wachstumsentwicklung kontinuierlich verändernde physiologische Normwerte und Daten ergeben, sowie dadurch, dass sämtliche angeborenen Störungen auch zu Lebensbeginn auftreten, ist dieses Fach stark von biochemischen Parametern, sich verändernden Laborparametern, aber natürlich auch von der gesamten Molekulargenetik bei der Diagnostik von angeborenen Störungen geprägt. Hinzu kommt, dass in der Pädiatrie bio-psycho-soziale Aspekte eine große Rolle spielen, und zwar vom Lebensbeginn bis zum Lebensende, wo es Berührungspunkte mit der Palliativmedizin gibt. Unbenommen der eigenen Vielfalt kann das Fach Kinder- und Jugendheilkunde dies nur mit Partnerfächern an vielen Schnittstellen bewältigen, auch das ist wieder enorm komplex. Dies sind die Kinderchirurgie, die Geburtshilfe mit der Perinatologie, die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Kinderanästhesie, die Kinderorthopädie, die Augenheilkunde, die HNO, die Kinderdermatologie und natürlich auch die Humangenetik. Bei der Transition arbeiten wir stark daran, gute Übergaben zur Erwachsenenmedizin durchzuführen oder auch die Adoleszentenmedizin gemeinsam gut zu gestalten.
Dieses ganze System macht unser Fachgebiet besonders komplex – auch im Vergleich zu anderen humanmedizinischen Fächern. Ich glaube daher, es ist absolut berechtigt, die Pädiatrie als „das Gegenteil von einfach“ zu bezeichnen.

Was dürfen die Teilnehmer der Jahrestagung erwarten?

Ein Highlight ist sicherlich die personalisierte Präzisionsmedizin. Das ist ein spitzenmedizinischer Aspekt, der eine immer größere Rolle einnimmt. Für diese komplexe Forschung braucht es eine echte Zentrumsexpertise und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen. Es müssen gleichzeitig eine hohe klinische Expertise und eine molekulargenetische und funktionelle biochemische Beweisführung vorhanden sein. Ein Anwendungsbeispiel ist die genetische Abklärung seltener Erkrankungen: Da man das gesamte humane Genom durchsequenziert, kann es sein, dass man plötzlich auf eine neue, bereits bekannte Mutation stößt. In der Humangenetik findet man aber oft Varianten, deren Bedeutung man nicht unbedingt eindeutig definieren kann. Dann muss man entsprechend nachweisen, dass diese Variante auch eine biochemische Funktionsänderung bewirkt und sich letztlich klinisch niederschlägt und damit auch pathogen ist.
Dies ist die erste Abklärung, die eine personalisierte Diagnose ermöglicht, aus der dann eine mögliche Therapie abgeleitet werden kann. Sehr oft muss man sich hier auf die genetische Beratung und Begleitung des Patienten bzw. der Familie beschränken. Was es hier zu beachten gilt, ist, dass man nach dieser diagnostischen Odyssee zum Bezugsarzt des Patienten wird. Man ist derjenige – der Erste –, der erklärt, was dem Patienten fehlt. Das verbindet sehr stark, und auch wenn oft keine gezielte Therapie bzw. nur symptomatische Maßnahmen auf die gestellte Diagnose folgen, sind die Patienten bzw. deren Angehörige oft glücklich und dankbar, dass sie den Hintergrund der Erkrankung kennen. Diese molekulare Präzisionsmedizin führt daher auch zu einer sehr starken persönlichen Verbindung zu den Patienten – weit über das Kindes- und Jugendalter hinaus.
Erwähnen möchte ich auch die vier Plenarsitzungen zur Komplexität in kritischen Lebensphasen, in der Spitzenmedizin, in der Kinderarztpraxis sowie an den Schnittstellen zu den Nachbardisziplinen – von der Lippen-Kiefer-Gaumen-Chirurgie bis zur Erwachsenenneurologie, beispielsweise im Bereich der Epilepsie.
Ein Konzept, das mir sehr am Herzen liegt und dem ich schon lange verbunden bin, ist das bio-psycho-soziale Modell, insbesondere im Bereich von Early Life Care. Prävention muss frühestmöglich beginnen. Wir haben an der PMU ein Institut für Early Life Care und zudem einen Universitätslehrgang sowie in Österreich ein nationales Aktionsprogramm für frühe Hilfen. In der Zusammenschau drückt das aus, dass einer möglichst frühen Versorgung in Österreich doch besondere Beachtung geschenkt wird. Frühe Hilfen ermöglichen ein frühes Eingreifen, wenn familiäre Überforderung, Verwahrlosung oder ähnliche gefährliche Umstände eintreten. Diesem Bereich kommt daher eine zentrale Rolle zu; in ihn zu investieren, macht sich dementsprechend rasch bezahlt. Zur Sicherstellung tiefgründigen, standardisierten Wissens trägt ein Universitätslehrgang bei, wie er an der PMU angeboten wird und Vertretern unterschiedlicher Gesundheitsberufe offensteht.
Der Wert von Bindung und Beziehung ist kaum zu überschätzen. Das gilt für die Eltern-Kind-, aber auch für die Arzt-Patienten-Beziehung und zieht sich durch alle medizinischen Bereiche.
Zwei weitere Themen, die ich hervorheben möchte, sind die Ernährungs- und die Impfverwirrung. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass wir uns diesen Problemen stellen. Das heißt, wir als Pädiater müssen einerseits praxisrelevante Empfehlungen zur Ernährung in den unterschiedlichen Lebensabschnitten abgeben, aber andererseits auch zum Thema Impfen aufklären – heute mehr denn je! Wir sind hier die ersten Ansprechpartner.

Wie bleiben Sie nach Ihrer Tätigkeit als Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Salzburg der Pädiatrie verbunden?

Wenn ich als Rektor wechsle, bleibe ich insbesondere mit forschungsstarken Einheiten, zu denen die Klink für Pädiatrie sicherlich zählt, verbunden und vice versa. Die Kinderklinik an der PMU war in Bezug auf den wissenschaftlichen Output immer auf Augenhöhe mit den anderen, staatlichen Unikliniken. Dieser wissenschaftliche Erfolg hat vielleicht auch ein Stück weit dazu beigetragen, dass man mich gefragt hat, ob ich die Funktion des Rektors übernehmen möchte.
Als Rektor werde ich von meiner Herkunft unbenommen natürlich trotzdem möglichst ausgewogen agieren. Ich bin und bleibe Pädiater, und ich denke, es ist nicht schlecht, wenn auch aus diesem Blickwinkel Lehre, Forschung und Klinik mitbestimmt werden. Ich glaube, dass gerade meine bio-psycho-soziale Denkweise, die in der Kinder- und Jugendheilkunde eine tragende Rolle einnimmt, der Universität guttut und guttun wird.

Kommen wir nun zu einem Ihrer Forschungsgebiete, der Rehabilitation, der auch eine Sitzung im Rahmen der ÖGKJ-Jahrestagung gewidmet ist. Bei diesem Thema denkt man ja in erster Linie an ältere Patienten. Welche Rolle spielt Rehabilitation bei Kindern?

Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit diesem Thema. Ausschlaggebend war für mich der Mangel an Versorgung von Kindern, vor allem im Bereich der Neuro-Frührehabilitation. Der Ausgangspunkt war, dass Kinder mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma auf einer Intensivstation versorgt wurden und dann lange auf einer Intermediate-Care- oder Normalstation warten mussten, bis sie unter Umständen einen Platz zur Rehabilitation bekommen haben. Das war eine unerträgliche und auch unverständliche Situation, denn der nahtlose Übergang von Normalstation zu Rehabilitationseinrichtung war im Bereich der Erwachsenenmedizin bereits gang und gäbe. Für mich war diese Mangel- oder Nichtversorgung von Kindern schlicht unethisch.
Das war mit ein Grund dafür, warum ich an meiner Klinik eine Frühneurorehabiltationsstation installiert habe, die in Form einer Sonderkrankenanstalt angeschlossen ist: das reKiZ. Denn gerade in der Neurorehabilitation ist es wichtig, so wenig Zeit wie möglich zu verlieren. Es geht um den Kampf um gesundheitliches Terrain.
Die gute Nachricht ist, dass das österreichische Kinderreha-Konzept fertig ausgearbeitet ist und ausgerollt wird. Mit der stationären Rehabilitation soll ein Bindeglied zur ambulanten Rehabilitation vor Ort zur Verfügung stehen. Wir haben uns bemüht, kein „seichtes“ Reha-Konzept für Kinder und Jugendliche zu entwickeln, sondern eines, das eine nachhaltige Versorgung darstellt: Dazu braucht es neben definierten Strukturqualitätskriterien und Anforderungsprofilen für die Berufsgruppen auch einen für eine qualitativ hochwertige Versorgung entsprechenden Tagsatz. Es handelt sich beim Reha-Aufenthalt nicht um einen Erholungsurlaub oder Kuraufenthalt, sondern um eine medizinisch fundierte Versorgung, die dringend benötigt wird. Deshalb ist auch die Rehabilitationswissenschaft inklusive Outcome-Messungen Teil dieses Versorgungskonzepts. Die Kernbotschaft lautet: Rehabilitation ist eine Investition, die sich jedenfalls auszahlt! An den derzeit in Österreich zur Verfügung stehenden Einrichtungen kann man den Reha-Bedarf bei Kindern sehen. Neben hämato-onkologischen Erkrankungen sind es vor allem Mental Health (kinder- und jugendpsychiatrische), mobilisierende, kardiologische, pulmologische, endokrinologische, gastrointestinale und angeborene metabolische Erkrankungen. Die weiterführende familienorientierte Phase-C-Rehabilitation für Familien mit Kindern mit Krebserkrankungen, Stoffwechselstörungen oder gastrointestinalen Erkrankungen wird derzeit im Leuwaldhof in St. Veit im Pongau angeboten.

Wie kann man sich die Rehabilitation im Leuwaldhof vorstellen?

Das Besondere an diesem Konzept, das ich von medizinischer Seite mitentwickeln durfte, ist, dass neben den erkrankten Kindern auch die Eltern und Geschwister als Sekundärpatienten mit aufgenommen werden und Therapieangebote erhalten. Es geht darum, dass Familien nach der extremen Belastungssituation der Krankheit, die ja die ganze Familie betrifft, gemeinsame Wiederherstellung finden. Dabei soll das Beziehungsgefüge gestärkt und eine gewisse Normalität wiederhergestellt werden. Ein weiterer Fokus liegt auf der Rehabilitation von Kindern mit Stoffwechselerkrankungen und gastrointestinalen Erkrankungen. Für alle diese Indikationen ist der Leuwaldhof die einzige österreichische Einrichtung, um Kompetenzen zu bündeln.

Haben Sie noch ein Anliegen, das Sie gerne thematisieren würden?

Wir haben eingangs von der Komplexität der Pädiatrie gesprochen. Die Fachkompetenz der Pädiater zu nutzen ist entscheidend: So besteht beispielsweise keine Notwendigkeit, ein Kind zum Erwachsenenpulmologen zu schicken – auch bei speziellen Fragestellungen sind für das Kind die Pädiater mit den vielen international qualitätsgesicherten Subspezialisten die primäre Anlaufstelle. Zugleich möchte ich betonen, dass wir gerne als Kinderfachärztinnen und Kinderfachärzte Partner in der Basisversorgung sind. Dabei wollen wir niemanden verdrängen – wir sind gemeinsam mit den Allgemeinmedizinern Familienmediziner.

Vielen Dank für das Gespräch!