„Darüber reden statt darunter leiden“

Gibt man in der Suchmaschine Google den Begriff „Inkontinenz“ ein, rattert eine Flut an bezahlten Anzeigen über den Schirm. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch, ist aber bei genauerer Überlegung keiner. Im Gegenteil: Gerade mit einem Tabuthema ist in der anonymen Web-Bestell-Konsum-Welt gutes Geschäft zu machen. „Ganz diskret“ also kann man sich umsehen in einer Welt der Produkte und Therapien, die „so sicher sind, dass Sie sicher sind“. Da kann es Betroffenen schon einmal Probleme bereiten, Werbung von Information zu unterscheiden und sich wirklich effizient und kompetent zu informieren. Der Hinweis, doch besser zum Arzt gehen und darüber zu reden, ist gerade bei einem Tabuthema wie der Inkontinenz keine leichte Aufgabe für Betroffene.

Anlaufstelle im Internet

Eine erste Anlaufstelle im Internet, bei der Betroffene auf alle Fälle richtig sind, ist die Website der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ). Neben zahlreichen Informationen zum Thema gibt es dort einen Link zu Beratungsstellen, darunter Ambulanzen und Ärzte sowie zu zertifizierten Kontinenz- und Beckenboden-Zentren in ganz Österreich.Im Rahmen der der INTEGRA, der Messe für Pflege, Reha und Therapie, werden sich Univ.-Doz. Dr. Helmut Heidler, Ehrenmitglied der MKÖ, Prim. Dr. Christoph Kopf, Vorstandsmitglied der MKÖ, sowie Diplomkrankenschwester und Kontinenzberaterin Adelheid Anzinger des Themas annehmen. Unter dem Titel „Darüber reden statt darunter leiden“ informiert das Expertenteam über Formen der Harn- und Stuhlinkontinenz, ihre Ursachen und Abklärung sowie operative Behandlungsmethoden. Außerdem werden konservative Therapiemaßnahmen sowie Möglichkeiten der Hilfsmittelversorgung vorgestellt.

Rechtzeitig erkennen und handeln

Während nicht betroffenen Laien zumindest Harninkontinenz ein vager Begriff ist, will man über die Möglichkeit, dass einen einmal eine Stuhlinkontinenz treffen könnte, lieber erst gar nicht nachdenken, geschweige denn reden. Gerade deshalb ist Aufklärungsarbeit besonders wichtig: Rund eine Million Menschen leiden in Österreich darunter, den Abgang von Harn oder Stuhl nicht mehr kontrollieren zu können. Bei rechtzeitigem Erkennen und Handeln sind, wie so oft, therapeutische und medizinische Maßnahmen am wirkungsvollsten.

Tabuisierung

Dr. Christoph Kopf, Leiter der chirurgischen Abteilung im Krankenhaus Schärding, hat sich auch in seiner Linzer Ordination auf den Bereich der Koloproktologie spezialisiert. Das Problem der gesellschaftlichen Tabuisierung von Stuhlinkontinenz kennt der Experte nur zu gut: „Der betroffene Mensch ist voll Angst, zu stinken und damit entdeckt und bloßgestellt zu werden, zieht sich zurück, wird häufig depressiv und schlittert somit im Extremfall in die völlige soziale Isolation. Die Angehörigen wiederum reagieren oft mit Unverständnis und Ablehnung.“
Dabei ist es doch eigentlich paradox: Bei der Erziehung eines Kleinkindes wird sehr viel Zeit dafür aufgewendet, diesem möglichst früh eine möglichst regelmäßige und kontrollierte Stuhlentleerung anzutrainieren. Doch ab dem Moment, wo die Stuhlentleerung funktioniert, gilt sie − und eventuell vorhandene Unregelmäßigkeiten − als Tabu. Kopf: „Patienten mit Stuhlinkontinenz berichten selbst ihrem behandelnden Arzt gegenüber ihre Beschwerden nicht oder nur zögernd.“ Die Unfähigkeit, den Stuhlgang zu kontrollieren, werfe – zum Unterschied von einer Harninkontinenz, die zwar häufiger auftritt, mit der sich jedoch einfacher umgehen lässt – sehr viel größere Probleme auf.

Häufigkeit steigt

Die Tabuisierung hat auch zur Folge, dass die Zahl der Betroffenen mit fünf Prozent nur geschätzt werden kann, die Häufigkeit steigt mit zunehmendem Alter. In Deutschland rechnet man mit etwa 800.000 Erkrankten. In den USA werden jährlich 400 Millionen Dollar für Erwachsenen-Windeln ausgegeben. „Gerade in einer Zeit steigender Lebenserwartung darf die Stuhlinkontinenz nicht nur als ein individuelles Problem gesehen werden, sondern muss als ein gesellschaftliches Problem erkannt werden“, meint Kopf.
Sehr oft kann Heilung oder Besserung allein durch Medikamente oder Therapien erzielt werden, die Angst vor unangenehmen Operationen ist aber offenbar groß. „Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung der unkontrollierten Stuhlentleerung ist, dass die betroffene Person diesbezüglich das Gespräch mit ihrem Arzt sucht, der sie dann an eine entsprechende Spezialambulanz weiterleiten wird“, rät der Experte.

Viele Auslöser sind möglich

Als erstes gilt es, die Ursache zu finden. Oft treffen mehrere Faktoren zusammen. Ausgelöst durch einen Schlaganfall, Morbus Alzheimer, Multiple Sklerose oder einen Gehirntumor kann es zu Störungen der Impulsverarbeitung kommen. Unter möglichen sensorischen Störungen zählt man Hämorrhoiden, Diarrhoe, Colitis und Rektum Prolaps (Vorstülpung der Darmschleimhaut nach außen). Muskuläre Dysfunktionen liegen zum Beispiel nach einem Dammriss, nach einer Überdehnung durch Obstipation und sehr häufig durch eine meist altersbedingte Beckenbodensenkung vor. Auch psychische Störungen oder Medikamente sollten als Ursache in Betracht gezogen werden. „Eine besondere Form der Inkontinenz stellt die sogenannte ‚Überlaufinkontinenz‘ dar, die man häufig bei älteren und bettlägerigen Personen beobachten kann und bei der dünner Stuhl und Darmschleim um einen harten Kotballen oder Kotstein fließen“, erklärt Kopf.
Ist der Fragenkatalog nach den Faktoren was, wie, wodurch und wann beantwortet, stehen unterschiedliche Untersuchungsmethoden zur genaueren Verifizierung zur Auswahl. Bei einer klinischen Untersuchung des End- und Mastdarmes mit dem tastenden Finger wird die Fähigkeit des konzentrischen Analverschlusses geprüft. Mittels einer endoskopischen Untersuchung geht man strukturellen Veränderungen wie Polypen, Tumoren, Verengungen oder Mastdarmeinstülpung auf den Grund.
Als weiterführende, spezielle Untersuchungen führt Kopf die Manometrie, die Ultraschalluntersuchung sowie die Elektromyografie zur Beurteilung des Funktionszustandes der versorgenden Nerven an: „Mit diesen Untersuchungsmöglichkeiten ist es in der überwiegenden Zahl der Fälle möglich, die zugrunde liegende Ursache zu klären und so die Patienten einer individuellen Therapie zuzuführen.“

Training und Therapien

In vielen Fällen ist es schon ausreichend, Entzündungen bzw. die Stuhlkonsistenz medikamentös zu behandeln oder mittels Krankengymnastik den Beckenboden und den Schließmuskel zu trainieren. Beim Biofeedback-Training wird zusätzlich eine Druckmess-Sonde eingesetzt. Chirurgische Therapiemaßnahmen müssen immer individuell angepasst werden. Die derzeit erfolgreichste Operationsmethode ist laut Kopf der überlappende Sphinkterrepair nach geburtstraumatischen Verletzungen oder nach Fisteloperationen. Dabei werden die zerrissenen Schließmuskelenden aufgesucht und überlappend miteinander vernäht.
Neben Muskeltransferoperationen bei sehr ausgedehnten Schließmuskelverletzungen (dynamische Gracilisplastik) ist nach Ansicht von Kopf der künstliche Analschließmuskel eine sehr zukunftsversprechende Methode: „Dabei wird eine silikonartige Prothese, die aus einem aufblasbaren Ring, einem speziellen Pumpventil und einem Reservoirballon besteht, implantiert.“

Revolutionärer Erfolg an der Med Uni Graz

Ein neues Verfahren, das an der Med Uni Graz entwickelt wurde, könnte die Therapie der analen Inkontinenz revolutionieren: In einer Pilotstudie wurden zehn Frauen, deren Schließmuskel aufgrund geburtsbedingter Verletzungen vernarbt und nicht mehr voll funktionsfähig war, Reparaturzellen, die von gesunder, körpereigener Muskulatur gewonnen wurden, in das Narbengewebe injiziert. Der durchschlagende Erfolg dieser weltweit erstmals angewandten Behandlungsmethode überraschte sogar die Ärzte: Bereits nach vier Wochen waren neun Patientinnen völlig kontinent, die zehnte zeigte eine wesentliche Verbesserung ihrer Beschwerden. Kontrolluntersuchungen zwei Jahre nach der Behandlung bestätigen die hervorragenden Ergeb
nisse: Alle Studienteilnehmerinnen führen mittlerweile wieder ein ‚normales‘ Leben. Der große klinische Erfolg fand international sehr viel Beachtung und wurde in „Nature Reviews Gastroenterology und Hepatology“ als eines der Research Highlights des Monats gewürdigt.

 

Mit Inkontinenz in den Urlaub

Viele Betroffene von Inkontinenz schrecken häufig vor langen Reisen zurück, da sie nicht ausreichend über den Umgang mit ihrer Krankheit informiert sind und fremde Umgebungen fürchten. Mit einer gründlichen Vorbereitung ist es jedoch auch Menschen mit Kontinenzproblemen möglich, größere Touren zu bestreiten. Tipps gibt PD Dr. Ines-Helen Pages, Chefärztin des Institutes für Physikalische und Rehabilitative Medizin und Koordinatorin des Kontinenz- und Beckenboden-Zentrums am Klinikum Ludwigshafen sowie Mitglied im Expertenrat der Deutschen Kontinenz Gesellschaft:

1. Auf die Planung kommt es an

Dazu gehört vor allem, die verschriebenen Medikamente und Hilfsmittel in ausreichender Menge einzupacken. Sollten diese im Urlaub doch einmal knapp werden, ist es ratsam, sich bereits vor der Reise zu informieren, ob die gewohnten Hilfsmittel auch am Urlaubsort zu bekommen sind. Einige Krankenkassen bieten sogar an, Hilfsmittel an den Urlaubsort zu schicken. Besonders für Aktivurlaube empfiehlt es sich, Einlagen mitzunehmen, die mehr aufsaugen können als die im Alltag verwendeten.

2. Toiletten-Check

Hilfreich ist auch, sich das voraussichtliche Urlaubsgebiet genauer anzuschauen und bereits im Voraus zu erkunden, wo sich nahe liegende Toiletten befinden. Das hilft, Stress abzubauen und kann eventuellen unangenehmen Situationen vorbeugen. Auf der Website der Deutschen Kontinenz Gesellschaft  findet sich zum Beispiel eine Übersicht öffentlicher Toiletten in 130 deutschen Städten.

3. Beckenbodentraining

Mindestens zwei bis drei Monate vor Reisebeginn sollte jedoch zwei- bis dreimal wöchentlich an der körperlichen Fitness gearbeitet werden. Am besten eignen sich Übungen, bei denen die Muskulatur gleichmäßig beansprucht wird, wie beim Aqua-Jogging oder Nordic Walking. Außerdem profitieren Betroffene von einem Beckenbodentraining unter Anleitung speziell ausgebildeter Physiotherapeuten.

4. Auf harntreibende Getränke verzichten

Viele an Inkontinenz leidende Menschen trinken bewusst wenig, um den Gang zur Toilette hinauszuzögern. Vor allem wenn der Körper vermehrt schwitzt, ist es aber wichtig, mindestens zwei Liter Flüssigkeit am Tag aufzunehmen. Daher ist es ratsam, auf harntreibende Getränke wie Kaffee oder Cola zu verzichten und besser auf Mineralwasser zurückzugreifen. Flüssigkeit kann auch zusätzlich durch Obst wie etwa Äpfel aufgenommen werden, die zudem Zucker und Vitamine enthalten.

www.kontinenz-gesellschaft.de