Kongressvorschau: Gerieatriekongress 2017

Interdisziplinäre Zusammen­arbeit ist entscheidend

Der Anteil hochaltriger Menschen wächst seit Jahren. Das erfordert eine systematische Auseinandersetzung mit den sozialen, medizinischen und ökonomischen Implikationen, will man diese nicht der Zufälligkeit individueller Problemlösungskapazität der einzelnen Betroffenen und der sie Betreuenden bzw. behandelnden Ärzte überlassen. „Die Geriatrie muss vor dem aktuellen demografischen Hintergrund als analoges Fach zur Kinderheilkunde wahrgenommen werden und sowohl in Ausbildung und Angebot den höchsten qualitativen Anforderungen gerecht werden können. Auch alte Menschen haben ein Recht auf Behandlung durch Spezialisten“, betont Kongresspräsidentin Prim. Dr. Ulrike Sommeregger. Gemeinsam mit Kongresspräsident Univ.-Prof. Dr. Franz Kolland hat sie sich zum Ziel gesetzt, im Rahmen des 57. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie über die Fortschritte auf allen Gebieten der Alternswissenschaften zu informieren und den Austausch zwischen den Disziplinen zu fördern.
Fit bis an das Lebensende
Neben dem medizinisch-geriatrischen Schwerpunkt hat die interdisziplinäre Behandlung der Patienten einen hohen Stellenwert – am Kongress und auch in der Praxis. „Alte Menschen werden in allen Fächern behandelt. Bei vielen klassischen Interventionen wäre die Beiziehung der Expertise des Geriaters sinnvoll, denn Fragen der Stabilisation oder der Remobilisation können im Team wesentlich besser beantwortet werden“, so Sommeregger. Die Gruppe jener hochaltrigen Menschen, die funktionell noch wenig Defizite aufweisen, wird zunehmend größer, daher meint die Expertin: „Es ist Aufgabe der Medizin, auch hier Konzepte anzubieten, die auf eine möglichst kurze Zeit der Krankheit, Abhängigkeit und Phasen des Leidens ausgerichtet sind. Das Bewusstsein für die Bedeutung von gesunder Ernährung und Bewegung hat schon einen Anteil daran, dass wir immer mehr Menschen über 80 haben, die zwar mit sechs bis acht relevanten Diagnosen zu uns kommen, aber dadurch in ihrer Lebensqualität wenig beeinträchtigt sind. Diese Entwicklung wird erst langsam evident und darauf sind wir noch nicht ideal vorbereitet“, fasst Sommeregger zusammen.
In Österreich gibt es zwar über 1.000 Ärzte, denen das Zusatzfach Geriatrie zuerkannt wurde, dies beruht aber auf sehr weit gefassten Übergangsbestimmungen, als es in den Jahren 2011 bis 2015 offiziell das Additivfach Geriatrie in Österreich gab – das dann aber wieder abgeschafft wurde. Die Zahl spezifisch gut ausgebildeter Geriater ist in Österreich daher gering und hinkt der internationalen Entwicklung nach. Der Bedarf nimmt vor allem in der Zusammenarbeit mit all jenen Fächern zu, die auch sehr hochaltrigen Menschen durch die heute verfügbaren Interventionsmöglichkeiten Hilfe anbieten können. Denn vor und/oder nach belastenden Therapien ist oft der Geriater zur Stabilisierung und Optimierung der funktionellen Fähigkeiten dieser Patienten gefragt, um ein wirklich gutes Gesamtergebnis zu gewährleisten.
„Die Physiologie ist in jeder Lebensphase anders, so auch im Alter“, betont Sommeregger. Gerade in der Erstversorgung und der Unfallchirurgie in Spitälern sind die ausgewiesenen Experten zunehmend gefragt, denn: „Das Alter allein ist ebenso kein Beurteilungskriterium für den Allgemeinzustand eines Patienten wie die Diagnosen. Der Grad der Vulnerabilität entscheidet, und den stellt der Geriater fest und trägt damit zur Entscheidungsfindung über lohnenden Nutzen oder belastende Übertherapie bei“, sagt die Expertin. Die Vulnerabilität ist die Messlatte, die über den oft nur schmalen Grat zwischen optimaler Therapie und unnötiger Belastung entscheidet.
„Gut“ altern
Weit über medizinische Fragen hinaus stellt Kolland die Frage, wie das Leben auch im Falle einer Pflegebedürftigkeit „gut“ gelebt werden kann, sodass die Abhängigkeit zu keiner zusätzlichen Belastung wird. „Nicht nur in Österreich, sondern auf europäischer Ebene steht die soziale Ungleichheit in der Lebenserwartung im Zentrum der Diskussion. Die Verringerung der Dysparitäten ist vor allem auch eine Frage des Einkommens in sozial schwächeren Schichten, die es auszugleichen gilt“, so Kolland. Werden die grundlegenden sozialen Fragen nicht geklärt, wird die Medizin auch im Alter keine wesentliche Besserstellung bringen. Die drei größten Defizite ortet der Experte in der Bewegung, dem Lernen und der sozialen Erziehung: „Wir wissen alle, dass Bewegung die Gesundheit fördert, aber im Alter nimmt die Bewegung drastisch ab. Gleiches gilt für das lebenslange Lernen. Das Postulat gibt es seit Langem, doch wir wissen, dass nach der Pensionierung die kognitive Beschäftigung rapide abnimmt. Und schließlich sind wir auf das lange Leben auch in unseren sozialen Beziehungen derzeit nicht vorbereitet.“
Wie viel Zeit den Experten unterschiedlicher Fachdisziplinen noch bleibt, um angesichts der demografischen Entwicklung diese vielen anstehenden Themen zu bearbeiten, wird ebenfalls am Kongress diskutiert. „Das Alter ist für die meisten fern und fremd, eine Auseinandersetzung mit den Fragen findet derzeit nur auf Ebene der Pensionsgelder statt, aber nicht im Hinblick auf soziale Belange“, sind sich die Kongresspräsidenten einig. Ein Umstand, der sich mit dem Kongress ändern soll!