Qualität und Innovation: Allheilmittel für ein krankes System?

„Das österreichische Gesundheitswesen fährt an die Wand“, so lautet die drastische Analyse von Dr. Günther Schreiber, Projektmanagement und Koordination für das Gesundheitswesen bei Quality Austria. Woran sich diese Entwicklung festmachen lässt, liegt für den Experten auf der Hand: Gemeinden haben Probleme, niedergelassene Ärzte zu finden und die ­medizinische Versorgung zu gewährleisten. Darüber hinaus prägen Patientengefährdungen und Todesfälle aufgrund von Hygienemängeln sowie Behandlungsfehlern in Gesundheitseinrichtungen die Schlagzeilen, aber letztendlich auch den medizinischen Alltag. Kein Wunder, sind auch die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Gesundheitsdienstleister zunehmend schwieriger geworden. „Die Komplexität im Gesundheitswesen ist außen um das 6-Fache und innen um das 35-Fache gestiegen“, weiß Schreiber. Die Gründe dafür sind hinlänglich bekannt und lassen sich einfach auf den Punkt bringen: Höhere Anforderungen müssen mit weniger Budget erfüllt werden. „Veränderungen werden nur bei genügend hohem Leidensdruck in Angriff genommen werden, aber bis dahin geht die Entwicklung ganz deutlich zulasten von Patienten und Mitarbeitern“, fasste Schreiber seine Erfahrungen zusammen.

Sparen zulasten der Qualität

Wer hingegen genau diese Komplexität des Systems erkennt und zu steuern weiß, wird auch in Krisenzeiten Potenziale nutzen können. „Es darf nur um eines gehen, um Qualität, sprich die beste medizinische Versorgung. Stimmt diese, kommt der ökonomische Erfolg automatisch“, ist Schreiber überzeugt. Belegen lässt sich seine Erkenntnis zum Beispiel mit Ergebnissen der „Krankenhaus Restrukturierungsstudie 2015“ der Unternehmensberatung Roland Berger, die unter anderem belegt, dass rund die Hälfte der Befragten kein positives Jahresergebnis erreichen konnte, aber dennoch denken ebenso viele, dass die Einführung einer qualitätsorientierten Vergütung positive Impulse bringen könnte. „Wenn gespart wird, dann beim Personal und bei der Fortbildung. Das geht klar zulasten der Qualität“, so Schreiber. Auch Statistiken zu vermeidbaren Todesfällen sprechen die gleiche Sprache: Waren es 1999 noch 100.000 Patienten, die in den USA in der Folge medizinischer Behandlungsfehler starben, gehen die Schätzungen mittlerweile von bis zu 400.000 aus – und Fehler in der Medizin gelten bereits als die dritthäufigste Todesursache nach Autounfällen und Schusswaffenverletzungen.

Wie kommt das „Neue“ ins System?

Lösungen sind also dringend gefragt und lassen im Gesundheitswesen immer wieder den Ruf nach „Innovation“ laut werden. „Neues“ muss her, um Probleme, die aus althergebrachten Mustern entstanden sind, zu lösen. Nicht immer sind es technische oder medizinische (Produkt-)Innovationen, die als „Heilsbringer“ gehypt werden. Vielmehr braucht es innovative Prozesse, innovative Führungsansätze oder auch innovative Finanzierungsformen, die das viel gepriesene „Neue“ erst möglich machen. Jedenfalls tun Gesundheitseinrichtungen gut daran, auf Qualität zu setzen, denn ohne sie wird auch die Innovation nicht viel Spielraum haben, einen nachhaltigen Wandel einzuleiten.
Längst hat die Praxis gezeigt, dass das Vorurteil, Qualitätsmanagementsysteme (QMS) kosten nur Zeit und Geld, bringen aber keine Vorteile für die Einrichtung, nicht haltbar ist. Im Gegenteil: „Qualitätsmanagementsysteme könnten Innovationen fördern, wenn Führungskräfte das Potenzial aller Mitarbeiter fördern und entwickeln, wenn über den Tellerrand hinaus von den Besten gelernt wird, wenn Abteilungen Wissensmanagement betreiben und ihr Wissen mit anderen teilen und wenn es Benchmarks gibt“, ist Schreiber überzeugt, doch: „Die derzeitige Strukturschwäche im System, gekoppelt mit Führungsschwäche, verhindert das in vielen Fällen und der Kostendruck macht es nicht leichter.“

Wider die Komplexität

QMS versuchen wie alle Managementsysteme, die Komplexität zu reduzieren, also mittels Vorgaben dort, wo es Sinn macht, standardisiertes Handeln zu bewirken und Entscheidungen ­möglich zu machen. Die Komplexität, in der sich eine Gesundheitseinrichtung bewegt, wird so erfasst und wichtige von unwichtigen Einflüssen getrennt – etwa die Rolle der Demografie, der Medizintechnik oder rechtlicher Vorgaben. Danach werden Ziele festgesetzt und Strategien entwickelt, um die Anforde­rungen proaktiv zu gestalten, also zum Beispiel einem drohenden Mitarbeitermangel vorzubeugen oder geänderten Patientenanforderungen gerecht zu werden. Unmittelbar positive pekuniäre Auswirkungen lassen sich aus QMS ableiten, wenn etwa unnötig lange Abläufe reduziert, Doppelgleisigkeiten vermieden oder Liegezeiten verkürzt werden können. Kurz gesagt: QMS macht reaktionsschnell, sorgt für reibungslose Abläufe und macht bei Führungskräften den Kopf (und Ressourcen) frei für das viel zitierte „Neue“.

Die Rolle der Führungskräfte

Damit das „Neue“ seine Vorteile ausspielen kann, dürfen Innovationen nicht Selbstzweck sein und nur ihrem Erfinder gefallen. Innovation heißt nicht, einfach „Neues“ um des Neuen willen zu implementieren, sondern dafür zu sorgen, dass es auch beim Kunden ankommt, Nutzen stiftet und einen Mehrwert bietet. Und hier schließt sich wieder der Kreis zu QMS: „Ein gutes QMS hilft zu klären, wie das jeweilige Krankenhaus seine Kunden sieht“, ist Dr. Franz-Peter Walder, QM-Experte und Geschäftsführer FACT-Consulting, überzeugt. Und davon gibt es gerade im Krankenhaus sehr unterschiedliche, wie etwa Patienten, Angehörige, Zuweiser oder Versicherungen. „Ob nun Neuerungen, Verbesserungen oder Veränderungen auf Produkt-, Prozess-, Management- oder strategischer Ebene stattfinden, ist letztendlich gleich. In jedem Fall stellt ein QMS eine wertvolle, pragmatische Basisinfrastruktur dar, von der aus fundierte Weiterentwicklung stattfinden kann“, so Walder.
Klar ist auch, dass die erforderliche Führungsarbeit nicht „nebenbei“ erledigt werden kann, denn Führung und Management im Gesundheitswesen sind wie in allen Branchen ab entsprechender Organisationsgröße Fulltime-Aufgaben. „Eine Führungskraft führt sich selbst, andere Menschen und die Organisation. In dieser Rolle wird die Zusammenarbeit gestaltet, denn grundlos arbeiten Menschen nicht im Team. Sie benötigen eine Herausforderung, einen gemeinsamen Wert, für den es sich lohnt zusammenzuarbeiten. Diese Ziele und Werte zu gestalten ist Führungsarbeit, ebenso wie bei Ziel- und Wertekonflikten Entscheidungen zu treffen, Handlungsspielräume zu nutzen und die Konsequenzen zu tragen“, beschreibt Walder. Gute Führungsarbeit heißt nach Ansicht des Experten auch, die Transaktionskosten zu senken: „Gerade wenn Budget und Personalressourcen so wie im Gesundheitswesen knapp sind, liegt es an der Führungskraft, Lösungen zu erarbeiten, die mit weniger Aufwand auch zu einem hochwertigen Ergebnis führen.“ Und schließlich haben Führungskräfte die Aufgabe, die Zukunft zu sichern, das heißt, Angebote zu entwickeln, die auch morgen noch Bestand haben werden.
Ob nun ein Manager oder ein Mediziner diese Führungsaufgabe übernimmt, ist nicht relevant, jedoch lautet die Konsequenz: „Wer als Experte Karriere machen will, ist gut beraten, keine Managementfunktion anzustreben, denn beides erfordert vollen Einsatz“, so Walder und weiter: „Für Spitäler, wo mehrere Hundert Mitarbeiter beschäftigt sind, kann die Führungsaufgabe nicht ein leitender Arzt ‚nebenbei‘ übernehmen. Die Kernkompetenz heißt hier managen und führen, und das mit Leidenschaft. Wer mit Leidenschaft Arzt ist, wird hier nicht glücklich werden.“

Ist das Korsett zu eng?

Zugegeben, Führungskräfte in einer Gesundheitseinrichtung haben selten die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf Personal oder Budget wie große Industrieunternehmen. Aber gerade deswegen ist die Führungsherausforderung umso spannender, innerhalb des enge
n Korsetts von Vorgaben das Beste herauszuholen und Spielräume zu schaffen. „Mehr Leistung braucht nicht immer mehr Ressourcen, sondern oft nur innovative Ideen sowie den Willen und Mut, sie umzusetzen“, so Walder. Zum Glück braucht auch hier im Gesundheitswesen das Rad nicht neu erfunden zu werden, denn aus der klassischen Managementliteratur ist die engpassorientierte Steuerung und Planung durchaus bekannt. Auch die fehlende Motivation der Mitarbeiter scheint mehr eine Ausrede denn Realität. „Natürlich sind Angst und Sorge vorhanden, wenn Neues kommt. Aber genauso viel Platz haben Erwartung und Neugierde. Niemand wird wohl seinen ersten Arbeitstag mit dem Vorsatz beginnen, demotiviert und stur zu sein. Der erste Arbeitstag ist vergleichbar mit dem ersten Tag von Veränderungen“, beschreibt Walder. Auch im Umgang mit Unsicherheiten und Veränderungen gibt es bereits einschlägige Erfahrungen aus vielen anderen Branchen.

 

Quelle: 10. qualityaustria Gesundheitsforum, November 2016, Wien