Vom Schönwettersystem zur Resilienz

Was bedeutet für Ihren Verband Versorgungssicherheit im Gesundheitswesen?
Versorgungssicherheit bedeutet, dass alle Menschen eine gute medizinische Versorgung bekommen: in allen Lebensabschnitten und in allen Regionen des Landes. Dazu gehört eine definierte „kritische Infrastruktur“, die auch in Krisenzeiten laufen muss: von funktionierenden Kliniken mit Notstromversorgung bis hin zur Verfügbarkeit von für die Versorgung kritischen Produkten.
In Deutschland hat sich der Sachverständigenrat Gesundheit in seinem jüngsten Gutachten mit der „Resilienz im Gesundheitswesen“ beschäftigt. Es ging dabei um krisenhafte Herausforderungen, denen das Gesundheitssystem durch Kriege, Naturkatastrophen und andere disruptive Ereignisse ausgesetzt sein kann. Das härteste Urteil des Gutachtens steht gleich am Anfang der Zusammenfassung: „Unser Gesundheitssystem ist sehr komplex und fragil, pointiert gesagt: ein nicht sehr reaktionsschnelles, wenig anpassungsfähiges ‚Schönwettersystem‘, das nicht nur im Krisenfall unzureichend koordiniert und im Ergebnis häufig schlechter ist, als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre“ – das müssen wir unbedingt ändern und unser Gesundheitssystem resilienter machen.

Welche Rolle spielen dabei Medizinprodukte?
Eine sehr große. Medizinprodukte sind unentbehrlich für die Gesundheit der Menschen. Die Pandemie hat gezeigt, dass Medizinprodukte zu jeder Zeit in ausreichender Menge für medizinische Einrichtungen in Deutschland zur Verfügung stehen müssen. Denn Medizinprodukte sind für die intensivmedizinische Versorgung und für die Regelversorgung der Menschen lebensnotwendig. Und sie wurden auch zur Überwindung der Pandemie gebraucht, und zwar millionenfach. Stichwort: kein Impfen ohne Spritzen und Kanülen, kein Schutz ohne medizinische Ausrüstung. Auch die Hilfsmittel- und Homecare-Versorger, die ambulant mit Medizinprodukten versorgen, haben in der Krise ihre große Bedeutung zur Entlastung der stationären Strukturen gezeigt.

Hat sich diese Sichtweise aufgrund der Pandemie verändert? Sind durch die Krise eventuell neue Aspekte hinzugekommen oder in den Vordergrund gerückt?
Die Pandemie hat gezeigt, wie komplex und fragil die Lieferketten bei Medizinprodukten sind. Dabei sind Abhängigkeiten von bestimmten Regionen sichtbar geworden, die zu der Forderung der Politik und der Unternehmen geführt haben, eine größere strategische Unabhängigkeit zu erreichen. Ich nenne drei Beispiele, um Europa resilienter zu machen:

  1. Wir müssen eine europäische Produktion sichern. Dafür braucht es nachhaltige Finanzierungsmodelle. So bekam die Medizintechnik-Branche in der Corona-Pandemie zwar eine Förderung für Maschinen zur Herstellung medizinischer Masken, aufgrund der niedrigen Erstattungspreise im Markt ist die Produktion mittlerweile jedoch wieder eingestellt.
  2. Wir müssen die Halbleiterversorgung gewährleisten. Bei der Knappheit an Halbleitern, die für eine Reihe von Medizinprodukten essenziell sind, müssen zeitnah europäische Lösungen zur vorrangigen Sicherstellung der Versorgung gefunden werden.
  3. Wir müssen die digitale Transformation beschleunigen. Wir brauchen eine bessere digitale Vernetzung, um Versorgung und Prozesse effizienter zu machen.

Haben DiGAs das Potenzial, das Gesundheitssystem weiterzuentwickeln?
Als patientenzentrierte Lösungen versuchen digitale Gesundheitsanwendungen aktuell insbesondere Versorgungslücken zu adressieren. Hierzu gehören unter anderem lange Wartezeiten für Therapieplätze sowie der Umgang mit chronischen Krankheiten mit diversen krankheitsbedingten Begleiterscheinungen wie bei Endometriose oder Diabetes in Kombination mit Depression. Mit Blick auf die Innovationen im Medizintechnik-Umfeld wird ein richtiger Schwung aber erst in die Versorgung kommen, wenn DiGA höherer Risikoklassen eingebunden werden. Für eine bedarfsgerechte Patientenversorgung auf einem qualitativ und technisch hohen Niveau muss zudem die Nutzung von Gesundheitsdaten für schnelle und effektive Produktentwicklungen sowie -verbesserungen ermöglicht werden.

Wo sehen Sie aktuell positive Entwicklungen, wenn Sie an Digitalisierung denken?
Mittlerweile zeigen sich die Bürger gegenüber der Digitalisierung und der Datennutzung aufgeschlossener denn je. In der Corona-Pandemie haben wir gesehen, wie wichtig es sein kann und wie groß der Nutzen ist, wenn Daten zur Verfügung stehen. Und wir haben gesehen, wie viel besser zum Beispiel Israel die Pandemie bewältigt hat – dank eines hoch digitalisierten Gesundheitswesens und einer effektiven Nutzung künstlicher Intelligenz. Der European Health Data Space (EHDS) zielt auf solche Potenziale ab. Wichtig ist, dass dieses Momentum aktiv aufgenommen wird und richtige Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Dazu zählt auch der Zugang der Gesundheitsindustrie zu Daten im Rahmen des „Secondary Use“.

Wo gibt es Hemmnisse?
In Deutschland sind es ganz klar die fehlende Harmonisierung von Datenschutzregelungen und deren einheitliche Auslegung durch die Datenschutzaufsicht. Hier ruht die Hoffnung auf dem sogenannten „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“, das hoffentlich zu einer Vereinheitlichung sowie Klärung führen wird, wie Daten für eine Sekundärnutzung zugänglich und nutzbar gemacht werden könnten, die in der medizinischen Versorgung, der klinischen Forschung, im Rahmen von Produktentwicklungen oder von Patienten selbst erhoben werden.

Was muss aus Ihrer Sicht nun der nächste Schritt konkret sein, um das Thema Digitalisierung und Versorgungssicherheit besser zu verknüpfen?
Wir brauchen eine „digitale Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte und Arzneimittel“, wie wir sie nennen, damit die Politik im Krisenfall Transparenz in Echtzeit hat. Hintergrund ist, dass es zu Beginn der Corona-Krise zu einer Nachfrageexplosion für einige Medizinprodukte und Pharmazeutika zur Intensivbehandlung kam. Dabei zeigte sich die außerordentlich hohe Abhängigkeit von außereuropäischen Herstellern bei einigen ausgewählten versorgungskritischen Produkten, beispielsweise medizinischer Schutzausrüstung. Hinzu kamen spontane und multiple Bestellungen, auch unkoordinierte Doppelbestellungen, die zu Lieferengpässen führten.
Interessant ist aber folgende Erkenntnis aus unserer Analyse von dem, was in der Anfangszeit geschah: Für über 80 Prozent aller versorgungskritischen Produkte gab es gar keinen Mangel, sondern ein Verteilungsproblem. Nur für weniger als 20 Prozent relevanter Produkte wäre ein Krisenlager oder eine Krisen-Produktionskapazität erforderlich gewesen. Den Großteil hätten wir durch smarte digitale Lösungen in den Griff bekommen. Deshalb hat der BVMed als Lösungsangebot an die Politik das Konzept einer „Digitalen Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte und Arzneimittel“ erarbeitet. Unser Konzept beruht auf einheitlichen Standards in der elektronischen Kommunikation. Diese Standards gibt es schon längst, und zwar weltweit. Wir müssen sie nur konsequent nutzen. Als offenen Schnittstellenstandard nutzen wir beispielsweise EPCglobal. Fachlich ist alles besprochen. Jetzt fehlt nur noch die politische Entscheidung.