Geschichte des Testosterons mit Wiener Beteiligung

Erstmals Hoden als inkretorische Drüse: Arnold Adolph Berthold (1801–1863), Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie in Göttingen, stellte bereits 1849 die Verbindung zwischen männlichen Sexual- und sogar Verhaltenscharakteristika zu einer von den Hoden sezernierten Substanz her und führte dabei aus, dass transplantierte Hoden diese Effekte durch die Sekretion einer Substanz in die Blutbahn verursachen: er ist als Begründer der modernen Endokrinologie anzusehen.

Verjüngungseffekt durch Tierhodenextrakt? Der französische Neurologe Charles Edouard Brown-Séquard (1817–1894) führte unter anderem Untersuchungen zur Funktion der Nebenniere durch. Bereits 1869 hatte er sich außerdem theoretisch mit der Idee beschäftigt, Samenflüssigkeit in die Blutbahn alternder Patienten zu injizieren, um deren geistige und körperliche Fähigkeiten zu steigern und somit einen Verjüngungseffekt zu erreichen. Erste Tierversuche hierzu unternahm er ab 1875, ohne diese auf den Menschen zu übertragen. Erst 14 Jahre später, als er im Alter von 72 Jahren an sich selbst die ersten Anzeichen des Alterungsprozesses bemerkte, wagte er das erste Experiment am Menschen. Mit einem Tierhodenextrakt führte er subkutane Injektionen im Selbstversuch durch und präsentierte die am eigenen Leibe erfahrenen Erfolge am 1. Juni 1889 vor der „Société de Biologie“ in Paris. Noch im gleichen Jahr erfolgte die Publikation seiner Erkenntnisse im „Lancet“: So hielt er fest, bereits nach den ersten 10 Selbstinjektionen eine deutliche Zunahme seiner geistigen und körperlichen Kräfte zu verspüren. Entsprechend dem heutigen Kenntnisstand ist allerdings anzunehmen, dass er sich mit diesem Hodenextrakt nur den Bruchteil des Tagesbedarfs an Testosteron verabreicht hat und es sich um einen reinen Placeboeffekt gehandelt hatte. Bei aller Widersprüchlichkeit aus heutiger Sicht hat Brown-Séquard durch seine Selbstversuche allerdings den Grundstein für die moderne Androgenbehandlung gelegt.

Theorie der „autoplastischen Altersbekämpfung“ durch Vasektomie: Der Wiener Physiologe Eugen Steinach (1861–1944) verfolgte ein anderes Konzept der Verjüngung. Er begann schon vor der Jahrhundertwende Tierexperimente zur testikulären Transplantation durchzuführen, um etwaige hormonelle Funktionen der Gonaden und deren Auswirkungen auf die sexuelle Differenzierung der Tiere zu untersuchen. Einen Verjüngungseffekt bemerkte er erstmals bei älteren Tieren, nachdem ihnen die Hoden junger Tiere eingepflanzt wurden. Den gleichen äußeren Effekt glaubte er auch nach Durchführung einer Vasektomie zu beobachten. Er schloss daraus, dass nach Ligatur des Vas deferens der versiegende sekretorische Ausschuss der Keimdrüse durch eine zunehmende inkretorische Leistung ersetzt würde. Mit dieser Theorie der „autoplastischen Altersbekämpfung“ erlangte er schließlich weltweite Bekanntheit. Durch den Wiener Urologen Robert Lichtenstern (1874–1952) ließ er den Eingriff 1918 erstmals gezielt bei einem Patienten vornehmen und löste damit in den folgenden zwei Dekaden einen wahren Vasektomieboom aus: Es ist zu vermuten, dass sich allein in Wien in den 1920er- Jahren über 100 Mitglieder der gehobenen Gesellschaft dieser Behandlung unterzogen haben. Einer von ihnen war Sigmund Freud (1856–1939), der sich im November 1923 von diesem Eingriff erneute Kraft im Kampf gegen das bei ihm aufgetretene Tumorleiden erhoffte.
Bereits 1922 lagen Ergebnisse von 11 Autoren über die Vasoligatur zum Zwecke der Verjüngung vor. Vor allem auch in Amerika hatte die Methode weite Verbreitung gefunden. Der führende Vertreter der Steinach-Methode war dort der bekannte Endokrinologe und Geriater Harry Benjamin aus New York. Er hatte Steinach bereits 1920 in Wien besucht, sich seine Theorien angeeignet und sie dann in Amerika verbreitet. Die ausführliche Korrespondenz zwischen Steinach und Benjamin zeugt von einem regen freundschaftlichen und wissenschaftlichen Austausch.
Obwohl sich viele der Hypothesen Steinachs als unhaltbar erwiesen, gilt er doch als ein wesentlicher Pionier auf dem Gebiet der Endokrinologie der Geschlechtshormone. Sein wohl berühmtestes Zitat lautet wie folgt: „Es ist oft behauptet worden, dass ein Mann so alt ist wie seine Blutgefäße. Allerdings gibt es wohl mehr Anlass anzunehmen, dass ein Mann so alt ist wie seine endokrinen Drüsen.“

Biochemische Entdeckung der Androgene um 1930: 1927 gelang Lemuel Clyde McGee von der University of Chicago die Isolation eines biologisch aktiven Extrakts aus der Lipidfraktion von Bullenhoden, welches das Wachstum des Hahnenkamms bei Kapaunen stimuliert. E. Perry McCullagh et al. von der Cleveland Clinic in Ohio berichteten 1933, dass die androgene Aktivität humaner Extrakte aus Blut, Urin oder Spinalflüssigkeit, die mittels des sog. „chick comb assay“ bestimmt wurde, für die Behandlung des männlichen Hypogonadismus anwendbar ist. Die Autoren nannten diese in den Hoden produzierte Substanz „Androtin“.
Das Hauptproblem dieser frühen Forschungsarbeiten wird deutlich an der Tatsache, dass eine Extraktion aus über 100 g Hodengewebe notwendig war, um eine positive Reaktion im „chick comb assay“ zu erhalten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass für die Isolation von 15 mg des ersten bekannten Androgens („Androsteron“) im Jahre 1931 unter der wissenschaftlichen Leitung von Adolf Butenandt (1903–1995) 15.000–25.000 l Urin benötigt wurden (der Name dieses relativ schwachen 5a-redu zierten Androgens kommt von „andro“ = männlich, „ster“ = sterol und „on“ = keton).

Die chemische Synthese von Androsteron wurde zuerst in Zürich und zwar 1934 von Leopold Ruzicka (1887–1976) und seinen Mitarbeitern durchgeführt. 1935 isolierte eine holländische Arbeitsgruppe um Ernst Laqueur das wichtigste Sekretionsprodukt des Hodens und das Hauptandrogen im Blut, Testosteron, aus mehreren Tonnen von Bullenhoden (der von ihnen geprägte Begriff „Testosteron“ setzt sich aus „testo“ = testes, „ster“ = sterol und „on“ = keton zusammen). Noch im selben Jahr wurde die chemische Synthese von Testosteron von Arbeitsgruppen aus Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz unter der Leitung von Adolf Butenandt, Ernst Laqueur und Leopold Ruzicka veröffentlicht. Ruzicka und Butenandt wurde hierfür 1939 der Nobelpreis für Chemie zuerkannt, wobei Adolf Butenandt auf Druck der nationalsozialistischen Regierung diese Ehrung ablehnen musste.