Protektive Effekte durch Glutamin und Glycin

Periphere Neuropathien und intestinale Probleme zählen zu den häufigen Beschwerden, die während einer Chemotherapie auftreten können. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass durch eine Substitution mit einfachen Aminosäuren diese Probleme gelindert oder vermieden werden können.

Glutamin – Energie für die Regeneration

Vor allem das Glutamin – das nicht mit dem Glutamat verwechselt werden darf – hat einen derartig protektiven Effekt auf die Enterozyten, dass Katharina Kuhn ihrem Review der diesbezüglichen klinischen Daten (Eur J Nutr 2010) die Überschrift gab: „Glutamine as indispensable nutritient in oncology“.
Aufmerksam auf die Bedeutung dieser Aminosäure wurde man, als Intensivmediziner berichteten, dass ihre Patientinnen eine signifikant schlechtere Prognose hatten, wenn sie mit einem Glutaminmangel eingeliefert wurden, eine Beobachtung, die durch prospektive Untersuchungen bestätigt wurde.
Operative Eingriffe, seien sie selektiv oder durch Unfälle akut notwendig, senken den Glutaminspiegel, was sich auf Hospitalisationszeit und Genesung invers auswirkt. Dies ist durch den Bildungsort von Glutamin – eine nicht-essenzielle Aminosäure – verständlich.

Glutamin im Organismus: Es sind vor allem die Muskel, neben Lunge und Gehirn, die endogenes Glutamin bilden – vorausgesetzt, der Muskel ist nicht traumatisiert oder atrophisiert, was im Rahmen der oft altersbedingt auftretenden Sarkopenie der Fall ist. Deshalb hat der Alterungsprozess und die damit einhergehende Konversion der Myoblasten in Adipozyten auch auf den Glutaminspiegel einen direkten Einfluss. Glutamin bildet den größten Anteil am Pool der freien proteinogenen Aminosäuren, was den körperlichen Bedarf unterstreicht.
Nach der Freisetzung aus dem Muskel, aber auch nach oraler Einnahme wird Glutamin rasch in die Enterozyten resorbiert, ein Teil wird von den unter dem Darmepithel liegenden mononukleären Zellen aufgenommen – wodurch auch das Immunsystem von dieser Aminosäure moduliert wird. Ein kleiner Teil gelangt in die Leber, wo Glutamin den Blutzuckerspiegel stabilisiert, da es in Glukose umgewandelt werden kann.

Der protektive Effekt auf den Intestinaltrakt – was vor allem bei Patientinnen mit Chemotherapie wichtig ist – beruht einerseits auf der Bereitstellung von Aminogruppen – eine Hauptaufgabe des Glutamins – und andererseits auf der direkten Einschleusung in den Zitratzyklus, wo es entscheidend an der ATP-Bildung beteiligt ist. Dadurch wird den Enterozyten ausreichend Energie zur Verfügung gestellt, um die nach der Chemotherapie notwendigen Reparaturmechanismen anzuregen. Zahlreiche In-vitro-Untersuchungen, Anwendungen am Tier und klinische Studien haben dies untersucht und bestätigt, was für die onkologische Gynäkologie – aber auch überall dort, wo das „Leaky Gut“-Syndrom Probleme verursacht – eine praktische Perspektive hat.

Zellschutz und Immunstärkung: Weiters ist Glutamin Ausgangssubstanz für Glutathion, einer der wirksamsten Zellschutzverbindungen, deren Bildung in der Karzinomzelle – aufgrund des sauren Milieus – unterbleibt, wodurch die gewünschte Apoptose der Krebszelle nicht verzögert ist. Darüber hinaus regt Glutamin die mononukleären Immunzellen in verschiedenster Weise an und erhöht so die Immunabwehrkraft des Körpers. Dies erklärt auch die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen, die zeigten, dass durch gleichzeitige Glutaminapplikation das Tumorwachstum nicht gefördert, sondern eher gehemmt wird. Eine besondere Rolle scheint dabei auch der antidiabetogene Effekt des Glutamins zu spielen.

Glukose-unabhängige Energiegewinnung: ­Einerseits fördert es die Glukoneogenese und balanciert so den Glukosespiegel, andererseits ist es für die Mitochondrien eine wichtige Energiequelle – der Glykolyse vergleichbar, ohne aber Glukose zu benötigen. Über das Ketoglutarat wird diese Aminosäure direkt in ATP umgewandelt, ähnlich wie Fettsäuren, die durch Karnitin in die Mitochondrien gelangen.
Durch beide Wege benötigt die Zelle weniger Glukose – wodurch auch die insulinen Wachstumsfaktoren sinken – ohne dass das Leistungsprofil der Mitochondrien reduziert wäre.

Glycin – auch ein ­Neurotransmitter

Einen synergistischen Effekt zum Glutamin hat das Glycin, die kleinste Aminosäure. Glycin liegt überwiegend als „inneres Salz“ bzw. Zwitterion vor, dessen Bildung dadurch zu erklären ist, dass das Proton der sauren Carboxygruppe an das einsame Elektronenpaar des Stickstoffatoms der basischen Aminogruppe wandert.
Dadurch wird es bevorzugt in Polypeptide an räumlich beengten Positionen (der Protein-Sekundärstruktur) eingebaut.
Besonders zahlreich kommt es im Kollagen, dem häufigsten Protein in tierischen Organismen, vor. Hier macht es gut ein Drittel aller Aminosäuren aus, da es aufgrund seiner geringen Größe das Aufwickeln des Kollagens zu dessen Tripelhelix-Struktur erlaubt. Deshalb ist Glycin auch für die Integrität des Kollagens und des Muskelgewebes wichtig.

Querverbindung zu Progesteron-Neurosteroiden: Ähnlich wie das Glutamin schützt es die Leber vor hepatotoxischen Folgen einer Chemotherapie und wirkt auch als Neurotransmitter, ähnlich wie die Gamma-Aminobuttersäure.
Die Glycin-Rezeptoren des zentralen Nervensystems werden aber auch von Neurosteroiden der Progesteronreihe besetzt und aktiviert, was die Verbindung zwischen dieser Aminosäure und den Geschlechtssteroiden hervorhebt. Auch Spermien sind reich an Glycinrezeptoren, die ebenfalls von weiblichen Geschlechtssteroiden agonisiert werden, ein Faktum, das noch einer biologischen Interpretation bedarf und einmal mehr zeigt, dass die Gynäkologie mit den Aminosäuren mehr zu tun hat, als man lange vermutete.