European Huntington’s Disease Network Plenary Meeting 2012, Stockholm


In der ersten „plenary session“ sprach Prof. Michael Hayden aus Vancouver, Kanada, über die Häufigkeit der Huntington-Erkrankung. Bezugnehmend auf die steigende Inzidenz lautete der Titel „Frequency of Huntington disease – greater than you think“. In einer rezenten Untersuchung von Hayden lag die Prävalenz der Huntington-Erkrankung in British Columbia bei 14,9/100.000. Dass diese Zahl in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten steigen wird, hat unterschiedliche Gründe. Einerseits spielt natürlich die zunehmende Lebenserwartung, besonders in der industrialisierten Welt, eine Rolle. Im Jahr 2050 werden 22 % aller Menschen weltweit über 60 Jahre alt sein.
Weiters kommt es immer wieder zu Erkrankungen bei Personen ohne positive Familienanamnese. Die Zahl an Neumutationen wird derzeit auf etwa 10 % geschätzt. Eine wichtige Rolle spielen hier die so genannten „intermediate alleles“. Von „intermediate alleles“ spricht man, wenn die Anzahl an CAG-Wiederholungen im betroffenen Allel zwischen 27 und 35 liegt. Darunter liegt ein negatives Testresultat vor. Bei zwischen 36 und 39 Wiederholungen kommt es zum Ausbruch der Erkrankung mit einer reduzierten Penetranz. Die Erkrankung wird bei einer CAG-Anzahl zwischen 27 und 35 nicht manifest, es besteht jedoch ein erhöhtes Risiko für die Nachfahren. Die Entdeckung dieser so genannten „intermediate alleles“ hat laut Hayden die Genetik der Huntington-Erkrankung noch komplexer und die notwendige Beratung über die möglichen Auswirkungen der genetischen Testung noch wichtiger gemacht.

Zukünftige Therapieregimes: In „What are we really looking for in a HD drug?“ sprach Prof. Cristina Sampaio über zukünftige Medikamente. Ein interessanter Aspekt ihrer Rede war, dass sie für eine Erkrankung wie Morbus Huntington ein multimodales und sogar multimedikamentöses Therapieregime einforderte und hier einen Vergleich mit der HIV-Erkrankung oder diversen Herzerkrankungen herstellte. Durch die moderne multimedikamentöse AIDS-Behandlung (HAAR-Therapie) konnte in den letzten Jahren die Lebenserwartung der erkrankten PatientInnen deutlich gesteigert werden. Ähnlich verhält es sich laut Sampaio bei der koronaren Herzerkrankung. Hier stehen neben verschiedenen medikamentösen Therapieansätzen auch minimalinvasive und chirurgische Interventionen zur Verfügung, was ebenfalls zu einer Verbesserung des Langzeit-Outcomes bei PatientInnen mit einer koronaren Herzerkrankung geführt hat.
Auch bei der Huntington-Erkrankung seien mehrere Angriffspunkte auf verschiedenen Ebenen möglich. Einerseits könnte versucht werden, die Spiegel des mutierten Huntingtin zu erniedrigen. Anderseits könnten Medikamente entwickelt werden, die kompensatorische Mechanismen boosten sollen. Die pathophysiologischen Kenntnisse der Erkrankung haben dazu geführt, dass erste medikamentöse Versuche mit Interfering-RNA(iRNA)-Technologie Anfang 2013 durchgeführt werden sollen. Mittels iRNA-­Technologie soll über das Einbringen von kleinen regulatorischen RNA-Molekülen in den Körper erreicht werden, dass es zu einer Reduktion oder Steigerung der Aktivität von mRNA kommt. Bezogen auf die Huntington-Erkrankung soll das mutante Huntingtin auf zellulärer Ebene reduziert werden.
Die Möglichkeiten, die Huntingtinspiegel im Körper zu reduzieren, wurden von Prof. Davidson, Iowa, USA, diskutiert. Mittels sogenannter Antisense-Oligonukleotiden (einzelsträngige Nukleinsäuren mit zur funktionalen mRNA entgegengesetzter Basensequenz) wird die allelspezifische Hemmung von mutanten Transkripten erforscht. Diese Oligonukleotide können das Splicing blockieren, zur Teilung der Transkripte führen oder deren Phosphorylierung blockieren. 2005 konnte bereits von Harper et al. nachgewiesen werden, dass der Einsatz solcher Antisense-Oligonukleotide die Performance von HD-Mäusen im Rotarod und somit HD-assoziierte Symptome verbessert. Selbstverständlich ist sowohl die Wirksamkeit als auch die Sicherheit dieser Therapieansätze nach wie vor nicht geklärt.

Neue therapeutische Ansätze: In einer der letzten Plenary Sessions mit dem Titel „Therapeutic development programs in Huntington’s disease“ hatten mehrere Experten/Expertinnen der jeweiligen pharmazeutischen Unternehmen die Möglichkeit, ihre aktuell in Forschung stehenden Substanzen vorzustellen. Auch hier war die Möglichkeit, das mutante Huntingtin spezifisch zu hemmen, ein viel diskutiertes Thema. Für verschiedene Substanzen (zum Beispiel AAV-HD5 der Firma Medtronic Inc.) konnte eine Erniedrigung der Huntingtinlevel bereits in präklinischen Studien nachgewiesen werden. Grondin et al. konnten zuletzt eine 6-monatige Suppression von Huntingtin-mRNA im Rhesusaffen mittels einer intrastriatalen Injektion der entsprechenden „short hairpin RNA“ erzielen1. Weiters wurde eine neue Substanz vorgestellt, die mittels einer SIRT1-Hemmung mutantes Huntingtin azetyliert und somit eliminiert.
In der PREQUEL-Studie wurden drei unterschiedliche Dosen Koenzym Q10 bei PatientInnen mit prämanifestem Morbus Huntington getestet. Es zeigte sich ein positives Resultat bezüglich der Sicherheit des Medikaments, sodass weitere Studien folgen werden. Auch zur dopaminstabilisierenden Substanz Pridopidin wurden von Prof. Landwehrmeyer neue Daten vorgestellt. In einer Metaanalyse aus zwei unterschiedlichen Studien (darunter MermaiHD) zeigte sich eine dosisassoziierte, statistisch signifikante Wirkung auf den mMS (modified Motor Score) nach 26 Wochen. Auch in anderen Domänen (Kognition, funktionelle Tasks) fand sich laut Landwehrmeyer ein Trend für einen positiven Effekt.

Neues zur Pathophysiologie: Neben neuen therapeutischen Ansätzen wurde die Pathophysiologie der Huntington-Erkrankung vom Gen bis zum Protein und neue Entdeckungen in diesem Bereich ausführlich beleuchtet. Die Huntington-Erkrankung wird durch die abnorme Expansion von CAG-Wiederholungen im Huntington-Gen ausgelöst, wodurch ein großes multifunktionales Protein mit einer langen Polyglutaminkette entsteht. Die Pathogenese der Erkrankung wird einerseits durch Veränderungen der zellulären Funktionen des Proteins, aber auch durch die Toxizität der dem Protein zugrunde liegenden RNA erklärt. Prof. Krzyzosiak, Poznan, Polen, sprach in seinem Vortrag „RNA toxicity in polyQ disorders“ darüber, dass sowohl RNA- als auch Proteintoxiziät in ein- und derselben Erkrankung auftreten können (Tab.). Die RNA-Toxizität wurde erstmals im Drosophila-SCA3-Model beobachtet2. Es konnte in dieser Untersuchung eine Neurodegeneration verursacht durch untranslatierte pathogene CAG-Wiederholungen ohne mutantes Polyglutaminprotein nachgewiesen werden.
Das Vorliegen von 74 und 200 CAG- und CUG-Wiederholungen führte in Neuroblastomzellen zur Bildung von nukleären Foci3, welche wiederum mit der Dysregulation von alternativem Splicing bestimmter MBNL-sensitiver Transkripte in der Zelle einherging. MBNL-Proteine haben eine wichtige Funktion in der Regulation des alternativen Splicings von Prä-mRNA. Beispiele für solche MBNL-sensitive Transkripte sind CLCN1 („chlorid channel 1“) oder SERCA1 („sarcoplasmic/endoplasmic reticulum Ca2+-ATPase 1“).
Auch der nukleäre Transport von Prä-mRNA und Export von mRNA kann durch abnorme Transkripte verändert sein. Tsoi et al. konnten zeigen, dass das Protein U2AF65 an die verlängerten CAG-Wiederholungen bindet und einen Komplex mit einem weiteren Rezeptor formt. Erhöhte Spiegel könnten somit mutantes Transkript vermehrt im Nukleus einschließen, wo es seine Toxizität entfalten kann4.
Prof. Truant aus Hamilton (Kanada) beleuchtete die Rolle des Proteins in seinem Vortrag zum Thema „Post-translational modifications and proteolysis of huntingtin“. Huntingtin findet sich im gesamten menschlichen Körper. Es ist ein großes Protein (350 kDa) ohne enzymatische Funktion. Aufgaben des Proteins liegen im „cell signaling“, in Gentranskription, axonalem Transport, Metabolismus von Zellen und Mitochondrien sowie der Neurotransmission. Beim Versuch, Huntingtin posttranslational zu modifizieren, kommt der „N17“-Domäne eine besondere Rolle zu. Diese ersten 17 Aminosäuren regulieren die intrazelluläre Lokalisierung und Verbindung mit der Zellmembran. Durch Phosphorylierung mittels Substitutionsmutationen an Serin 13 und Serin 16 konnte in vitro die Toxizität des Proteins reduziert werden5. Auch mittels PACSIN 1 („protein kinase C and casein kinase substrate in neurons protein 1“), welches die „N17“-Domäne von Huntingtin phosphoryliert, konnte laut Truant die Menge von Huntingtin in der Zelle beeinflusst werden.

 

 


Zu guter Letzt möchte ich die sehr emotionale Rede von David Lega zu Beginn des Kongresses erwähnen. David Lega ist Vizebürgermeister der Stadt Göteborg und leidet an AMC (Arthrogryposis multiplex congenita), einer kongenitalen Erkrankung, die mit Muskelschwäche und Fibrose sowie Kontrakturen einhergeht. Er ist ein ehemaliger paraolympischer Schwimmer, der drei Goldmedaillen gewann und 14 Weltrekorde verbessern konnte. Er postulierte in seiner Rede, dass man PatientInnen stets mit „happy eyes“ entgegentreten sollte und niemals mit Mitleid oder Trauer.
In diesem Sinne kann mit „happy eyes“ auf die nächste Tagung 2014 in Barcelona gewartet werden. In zwei Jahren stehen dann hoffentlich durch die besseren Kenntnisse der Pathophysiologie neue Therapiemöglichkeiten in der Behandlung von PatientInnen mit Chorea Huntington zur Verfügung.

1 Grondin R et al., Six-month partial suppression of Huntingtin is well tolerated in the adult rhesus striatum. Brain 2012; 135:1197–1209
2 Li LB et al., RNA toxicity is a component of ataxin-3 degeneration in Drosophila. Nature 2008; 453:1107–1111
3 Mykowska A et al., CAG repeats mimic CUG repeats in the misregulation of alternative splicing. Nucleic Acids Research 2011; 39:8938–8951
4 Tsoi H et al., Perturbation of U2AF65/NXF1-mediated RNA nuclear export enhances RNA toxicity in polyQ diseases. Hum Mol Genet 2011; 20:3787–3797
5 Thompson ML et al., IKK phosphorylates huntingtin and targets it for degradation by the proteasome and lysosome. J Cell Biol 2009; 187:1083–1099