M. Brainin, WSO-Präsident: „Wir brauchen breite Prävention auch für mittleres Risiko“

neurologisch: Ein Österreicher als Präsident der globalen Organisation – wird sich das auf die hiesige Schlaganfallversorgung auswirken?

Univ.-Prof. Dr. Michael Brainin: Der Zusammenhang ist eher umgekehrt zu sehen. Die Österreichische Schlaganfallgesellschaft, die ich mitgegründet habe, besteht bereits seit 20 Jahren. Die akute Schlaganfallversorgung in Österreich ist beispielhaft. Wir haben 39 Stroke Units, 9 Thrombektomie-Zentren und ein österreichweites Schlaganfall-Register, in das seit 2003 jeder Patient/jede Patientin aufgenommen wird. Auch haben wir in Österreich mit durchschnittlich 20 % eine sehr gute Thrombolyse-Rate. Zwar gibt es einzelne Zentren, die mehr schaffen, eine nationale Performance von 20 % ist jedoch einzigartig. All das ist eine Erfolgsstory, die weltweit viel Aufmerksamkeit erhalten hat und dazu geführt hat, dass Österreich international als besonders kompetent in der Schlaganfallversorgung wahrgenommen wird. Und das ist auch mit ein Grund dafür, dass ein Österreicher als potenzieller Kandidat für die Präsidentschaft der WSO wahrgenommen wurde.

Inwieweit unterscheiden sich Ihre neuen Aufgaben von jenen als Präsident der ESO?

Das ist ein erheblicher Unterschied. Die WSO ist eine globale Organisation mit über 5.000 Mitgliedern aus 85 verschiedenen Ländern. Wir sind „The Global Voice of Stroke“. Die Anerkennung bei der WHO und das Anhörungsrecht bei den Vereinten Nationen ist nur einer globalen Organisation möglich. Wir haben daher in puncto Schlaganfall den Schlüssel zur WHO. Die WSO netzwerkt und kooperiert mit anderen großen medizinischen Gesellschaften wie der American Heart Association und sucht gleichzeitig die Unterstützung von Foundations, um ihre Projekte umsetzen zu können. Wichtig ist, weltweit den Bedarf in der Schlaganfallversorgung aufzuzeigen und bekannt zu machen, damit klar wird, wo welcher Handlungsbedarf besteht. Wenn man bedenkt, dass Schlaganfall weltweit die zweithäufigste Todesursache und in einigen Ländern, wie zum Beispiel in China, Indien und Brasilien, bereits die Todesursache Nummer 1 ist, dann wird rasch klar, wie wichtig unsere Stimme ist. Insbesondere jetzt, wo die Universal Health Coverage international im Fokus steht, die große Bestrebung der WHO, dass der Zugang und die Verfügbarkeit zu Gesundheitsleistungen gedeckt beziehungsweise kostenfrei sein soll – und zwar weltweit. Und das müssen wir als WSO natürlich unterstützen.

Wie kann die WSO dieses Vorhaben unterstützen?

Zunächst einmal können wir aufzeigen, dass es Probleme gibt und wo diese sind. Auf den Philippinen zum Beispiel haben über 50 % der PatientInnen, die dort an einem Schlaganfall versterben, keinen Arzt/keine Ärztin gesehen. Oder nehmen wir China: Dort gibt es jährlich 1,2 Millionen letale Schlaganfälle – eine fast unvorstellbare Zahl. Wir müssen aber gar nicht so weit über unsere Landesgrenzen hinausschauen. Beim Schlaganfall handelt es sich um eine Erkrankung, die nicht nur letal verlaufen kann, sondern auch körperliche und psychische Behinderungen hinterlässt. Zurzeit leben etwa 80 Millionen Menschen auf der Welt, also so viele, wie Deutschland EinwohnerInnen hat, die einen Schlaganfall gehabt haben und mit den Folgen leben müssen. Ungefähr die Hälfte davon hat eine schwere Behinderung.

Lassen sich aus diesen Zahlen auch ökonomische Argumente ableiten?

Wir wissen, dass gewisse Präventionsstrategien besonders erfolgreich sind und die Rate von neuerlichen Schlaganfällen drastisch reduzieren können. Und ich spreche hier nicht nur von der medikamentösen Prophylaxe, sondern auch von den Lebensstilveränderungen. Die direkten und indirekten Kosten aller nichtkommunizierbaren Krankheiten (v. a. Schlaganfall, Herzinfarkt, Krebserkrankungen, Diabetes) werden in einigen Jahren die Trillion-Dollar-Marke erreichen, das ist so viel wie das US-amerikanische Verteidigungsbudget. Die Modifikation von Risikofaktoren kann erheblich zur Kostensenkung beitragen.

An welchen Projekten arbeitet die WSO aktuell?

Während meiner Präsidentschaft werden wir 3 Ziele für die Schlaganfall-Prävention verfolgen. Das erste Ziel läuft unter dem Titel „Communities“. Dabei möchten wir erreichen, dass vor allem in Niedrigeinkommensländern Gesundheitsarbeiter unter bestimmten Umständen befähigt werden, Medikamente auszugeben, um eine größere Reichweite der medizinischen Versorgung zu erzielen. Das zweite Ziel betrifft das Thema E-Health. Ein gutes Beispiel ist etwa der Stroke Riskometer™, den man als App herunterladen kann und der mittlerweile auch in vielen Sprachen verfügbar ist. Mit diesem E-Health-Produkt lassen sich das persönliche Risiko, in den kommenden 10 Jahren einen Schlaganfall zur erleiden, ableiten und gleichzeitig Ratschläge einholen, wie sich dieses Risiko verringern lässt. Mit dem Stroke Riskometer™ lässt sich etwa berechnen, wie sich das individuelle Risiko bei einem Rauchstopp verändert. Menschen können üblicherweise mehr mit diesen konkreten und auf sie zugeschnittenen absoluten Zahlen anfangen und damit die Konsequenzen und Risiken besser verstehen. Das dritte Ziel, das wir verfolgen, ist die sogenannte „Polypill“. Es handelt sich dabei um eine Fixdosierung mehrerer präventiver Substanzen in einer einzigen Pille. Zum Beispiel zwei Antihypertensiva und ein Statin jeweils niedrig dosiert. Das könnte man allen Männern über 50 und allen Frauen über 55 Jahren anbieten. Mit der Einnahme dieser „Polypill“ im großen Maßstab in Kombination mit den anderen 2 Maßnahmen – Community-Intervention und E-Health – lässt sich eine Reduktion der Schlaganfall-Inzidenz um 50 Prozent erreichen. Unser Projekt nennt sich daher „Cut Stroke in Half“.

Gibt es ein persönliches Ziel, das Sie während Ihrer Präsidentschaft gerne umsetzen möchten?

Ich will etwas bewegen, das sich als Präsident gut bewegen lässt – und das ist das soeben erwähnte „Cut Stroke in Half“-Projekt. Durch unser Wissen über die Verteilung der Risikofaktoren in der Bevölkerung können wir 80 Prozent jener Personen identifizieren, die in den nächsten Jahren einen Schlaganfall erleiden werden. Es gibt viele große Studien, die das bestätigen. Umgekehrt heißt das aber natürlich auch, dass sich in dieser Population durch eine Reduktion der Risikofaktoren viele Schlaganfälle vermeiden lassen. Und genau das ist das Ziel unseres Projektes. Die WSO hat aber auch bisher schon viele Erfolge erzielt. Als ich 2007 Schulungsprogramme in Vietnam etablierte, war Schlaganfall in Vietnam als eigenständige Erkrankung nicht vorhanden, und von medizinischer Seite gab es keine besondere Wahrnehmung von Schlaganfall-PatientInnen. Das Schulungsprogramm, das sich „ABC of Stroke-Management“ nennt, wurde von allen Ärzten/Ärztinnen, die mit Schlaganfall-PatientInnen zu tun hatten, absolviert. Über 9.000 Ärzte/Ärztinnen wurden mit dem Effekt geschult, dass es heute in Vietnam Stroke Units, eine Stroke Society und sogar Thrombektomie-Zentren gibt. Das Wichtigste ist, dass die Ärzte/Ärztinnen verstehen, dass es sich beim Schlaganfall um eine eigene Erkrankung handelt, die es verdient, mit eigenen ätiologischen und pathogenetischen Aspekten wahrgenommen zu werden.

Woran liegt es, dass ÖsterreicherInnen ein höheres Schlaganfall-Risiko haben?

Das ist in erster Linie auf unser Verhalten zurückzuführen, das aus unserem Migrations- und Genpool stammt. Zudem machen ÖsterreicherInnen gerne „Zigarettenpausen“ und treffen sich „auf ein Bier“ – all diese Gewohnheiten sind nach wie vor sehr stark. Die Rauchgewohnheiten in Österreich sind ohnehin skandalös, bei jungen rauchenden Frauen sind wir sogar Europa-Spitze. Michael Bloomberg, der amtierende Bürgermeister von New York, hat bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2018 gesagt, die Tabak- und Alkoholindustrie sei sehr „smart“. Daher müssen wir auch „smarte“ Lösungen finden, um dagegen wirksam zu sein. Das ist in Österreich trotz vieler Unterschriften bisher nicht gelungen.

Wie sehen diese „smarten“ Lösungen aus?

Eine verbietende Grundeinstellung ist in jedem Fall der falsche Ansatz. Leider ist das aber immer noch das Vorgehen vieler Ärzte/Ärztinnen, was dazu führt, dass PatientInnen andere Auswege suchen, da sie mit dem Verbot nicht umgehen können. Oft ist die Modifikation des Lebensstils in der Größenordnung einer Psychotherapiebehandlung anzusiedeln. Nikotin- und Alkoholsucht müssen entsprechend behandelt werden. Wir sind dabei, diesbezüglich von der Psychologie und den Sozialwissenschaften zu lernen. So hat die WSO gemeinsam mit der American Heart Association und der WHO ein Dokument mit dem Namen „Hearts“ erarbeitet. Im ersten Teil dieses Dokuments findet sich ein Schulungsdokument für GesundheitsarbeiterInnen, die Risikofaktormodifikation anstreben. Darin sind zum Beispiel ganz konkrete Beispiele für Gesprächstechniken angeführt.

Wo liegt das größte Verbesserungspotenzial?

Die Steuerungsmöglichkeiten liegen in der Prävention – und die ist in Österreich ausbaufähig. Die Hochrisiko-Prävention findet zwar statt, aber eine allgemeine Populationsstrategie gibt es in Österreich kaum. Gelingt es, den Blutdruck einer Bevölkerung um nur 4 mmHg zu reduzieren, wird die Schlaganfall-Rate halbiert, und das sollte unser Ziel sein – global und in Österreich. Unser Gesundheitssystem und dessen Einrichtungen sind aktuell wenig auf Prävention ausgelegt. Das beginnt bei der mangelnden Ausbildung für Präventionsmedizin und endet bei der fehlenden Erstattung präventivmedizinischer Leistungen.

Vielen Dank für das Gespräch!