„80 bis 100 Wochenstunden sind normal“

Vorgestellt habe sie sich den Job als ­Kabinettschefin im Sozial- und Gesundheitsministerium und das vergangene Jahr anders, erzählt Ruperta Lichtenecker. Eigentlich ist die 55-Jährige aus Bad Zell Wirtschaftswissenschafterin. Und als solche hat sie bis zum Vorjahr immer noch an der Johannes Kepler Universität Linz Ökonomiestudierende unterrichtet. Zumindest eine Vorlesung wollte sie auch 2020 noch übernehmen, weil ihr einfach der Kontakt zu den Studierenden und die Wissenschaft am Herzen liegen. „Leider war das aber im Vorjahr nicht möglich“, bedauert sie.
Durchaus nach hängt ihr auch, dass die Pandemie kaum Zeit ließ für jene Dinge, die sie und das Team um Anschober sich für ein grün geführtes Sozial- und Gesundheitsministerium vorgenommen hatten. Als Volkswirtin habe sie sich immer auch mit sozialen Zusammenhängen und Gesundheitsökonomie beschäftigt. „Prävention, Gesundheitsförderung, Pflegereform – wir sind angetreten, um im Ministerium wirklich spannende und wichtige Themen voranzutreiben“, schildert sie. In den 1980er-Jahren gehörte Lichtenecker zu einer Gruppe von Ökonominnen und Ökonomen, die in einem ­Modellprojekt gemeinsam mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut erstmals ein alternatives Bruttoinlandsprodukt berechnet hat, bei dem auch der Beitrag sozialer Arbeit, Leistungen von NPOs, Umweltthemen und vieles mehr einberechnet wurden. Nicht nur unter Ökonomiespezialisten war das damals eine viel beachtete und diskutierte Leistung. Diese Erfahrungen hätten jetzt auch durchaus in die Ministeriumsarbeit einfließen können. Wenn da eben nicht die Pandemie dazwischengekommen wäre.

 

 

Hauptfokus: Bewältigung der Pandemie

Corona hat viele Pläne über den Haufen geworfen. Wochen mit 80 bis 100 und mehr Arbeitsstunden seien üblich, berichtet sie: „Wir arbeiten zwar parallel auch an der Pflegereform, wo man ja gerade im vergangenen Jahr gesehen hat, wie wichtig diese ist. Der Hauptfokus liegt aber auf der Bewältigung der Pandemie.“ Intensiv sei etwa die genaue tägliche Datenanalyse mit dem Ziel, zu erarbeiten, wie die aktuelle Lage ist und wie die Ausblicke sind. Dazu gehören ­Analysen aus der Ages, aus den Prognosekonsortien, Abstimmungssitzungen mit ­verschiedenen Fachabteilungen im Ministerium, verschiedenste Verhandlungsrunden, der ­Austausch mit betroffenen Branchen sowie dem medizinischen und dem rechtlichen Beraterstab. „Der Tag beginnt früh und hört sehr spät auf. Es gibt wenige Tage, wo vor 23 Uhr Schluss ist“, so die Kabinettschefin. Nachsatz: Das bringe die Pandemie eben mit sich. „Aber wir hoffen, dass es bald anders wird.“
Die Herausforderung: Tagtäglich entwickeln sich die Dinge neu. Es gibt eigene Dynamiken. Ein Beispiel? „Beim e-Impfpass, über den jahrelang diskutiert wurde, weil es auch um Datenschutz, rechtliche Fragen und grundsätzliche demokratiepolitische Themen geht, mussten rasch viele Fragen geklärt werden.“ Ein anderes, scheinbar banaleres Thema war die Frage der Tests für die Friseuröffnungen, schildert Lichtenecker. Sie habe nahezu ständig in WhatsApp-Kontakt mit dem Innungsmeister der Friseure gestanden. Bei der Frage, warum es keine Tests für Besuche zu Hause brauche, sei in der Öffentlichkeit zu wenig angekommen, dass es sich hier oft um ältere und pflegebedürftige Menschen handle und man deshalb andere Lösungen suchen musste, weil diese Personen nun einmal nicht einfach zum Test gehen können. Da müsse man eben abwägen.
Zu all dem kommt noch die politische Arbeit: intensiver Austausch mit den Bundesländern und den dortigen Gesundheits- und Sozialreferenten, mit den Büroverantwortlichen der Landeshauptleute und natürlich die Arbeit im Parlament und in den Ausschüssen. Die größte Hürde vor dem eigenen politischen Hintergrund? Als leidenschaftliche Europäerin und jemand, der gerne reist, über Grenzschließungen zu diskutieren, zu sehen, dass Europa dichtmacht, und damit direkt zu tun zu haben, sei eine besondere Herausforderung.

Grünes Urgestein

Lichtenecker ist das, was man ein grünes Urgestein nennen könnte. Sie war 14 Jahre Abgeordnete – zuerst im Bundesrat, dann im Nationalrat. Dort war sie zuletzt unter anderem für Forschung, Innovation und Technologie zuständig. Lange Jahre war sie auch Wirtschaftssprecherin der Partei und davor Umweltsprecherin. Vor fünf Jahren war sie an der Seite von Werner Kogler federführend beteiligt, als der Hypo-Untersuchungsausschuss die Ära Haider und die massiven wirtschaftlichen Folgen sowie die Verstrickung der Bundespolitik in die missglückte Rettung der Bank aufgearbeitet hat. Davor – von 1996 bis 2001 – arbeitete Lichtenecker als Sozialpädagogin. Viele Jahre arbeitete sie als Universitätsassistentin an der Johannes Kepler Universität Linz am Institut für Volkswirtschaftslehre, Abteilung für Wirtschaftspolitik.
Ihre politische Laufbahn begann 1991 im Landesvorstand der Grünen Bildungswerkstatt Oberösterreich und des Landesparteivorstands der Grünen. 2000 wurde sie Mitglied des erweiterten Bundesvorstands der Grünen. Im Juni 2017 wurde sie zur Spitzenkandidatin der Liste der oberösterreichischen Grünen für die Nationalratswahl 2017 gewählt – jene Wahl, bei der die Grünen aus dem Nationalrat geflogen sind. Ab November 2018 leitete Lichtenecker dann das Regierungsbüro des damaligen OÖ-Landesrates Rudi Anschober. Und als dieser schließlich für die türkis-grüne Koalition nach Wien wechselte, ging sie mit. „Sie hat fast zwei Jahre mein Regierungsbüro in Oberösterreich geleitet. Lichtenecker ist fachlich sehr versiert, bestens vernetzt und hat durch ihre langjährige Tätigkeit im ­Nationalrat große Erfahrung in der Politik“, sagte Anschober zum Start der Regierungsarbeit – zwei Monate vor dem ersten Corona-Fall in Österreich.
Diese langjährige Erfahrung helfe jetzt sehr, meint sie: „Die Player und Stakeholder, die Arbeitsmechanismen im Parlament und in der Bundesregierung, die Sozialpartner und NGOs sind bekannt.“ Dennoch brauche es einen langen Atem und fokussiertes Arbeiten. Sie greife da auch auf ein fundiertes Netzwerk zurück. Beeindruckt habe sie während der Pandemie, wie alle in Österreich engagiert mitgearbeitet haben. „Es gibt eine enorme Bewegung mit Zusammenhalt – auch von den Jungen, um die ältere Generation zu schützen. Aber natürlich sind die Menschen nach so langer Zeit auch müde und erschöpft.“ Die Kritik an der Arbeit will sie so nicht gelten lassen. „Die Themen wiederholen sich in allen Ländern – unabhängig davon, welches Ministerium von welcher Partei geführt wird. Natürlich gibt es auch ein Positionieren der Oppositionsparteien und auch der Regierungsparteien. Letztendlich geht es aber um eine gemeinsame Bewältigung der Krise.“

Pandemie auch Innovationstreiber

Bei all den vielen Problemen und Herausforderungen könne man die Pandemie aber auch als Innovationstreiber sehen, sagt die ehemalige Technologiesprecherin ihrer Partei. Gerade die Digitalisierung – auch des Gesundheitswesens – erhalte einen Boost. „e-Medikation und e-Krankschreibung wurden vorangetrieben. Videokonferenzen sind heute für alle Normalität. Ich halte die Digitalisierung auch für wichtig im Hinblick auf Prävention, Gesundheitskompetenz und neue Versorgungsformen“, betont Lichtenecker. Wichtig sei aber auch, die Folgen der Pandemie im Wirtschafts- und vor allem im Sozialbereich abzufedern. Hier brauche es zusätzlich zur Bewältigung der Pandemie enorme Kraftanstrengungen.

Persönliche Kraftquellen

An weniger als an 80- bis 100-Stunden-Wochen ist also noch längere Zeit nicht zu denken. Kraftquellen findet die Oberösterreicherin in der Natur – auch wenn sich das in der Regel nur am Sonntag ausgeht. Dass sie gerne reist – Lieblingsstadt ist London –, ist ein Wermutstropfen. Vor allem das Meer vermisse sie, erzählt die Ökonomin. Auch der leidenschaftliche Besuch von Museen sei aktuell schwierig. Sie besitze aber drei Jahreskarten – für das Jüdische Museum, das Kunsthistorische Museum und die Kulturcard Linz. Kraft geben ihr – als überzeugtem Single – der Austausch mit der Familie, ihrem Freundeskreis, aber auch die „Arbeit mit hoch engagierten Menschen“.