Pharmakovigilanz durch künstliche Intelligenz

Pharmakovigilanz ist ein wichtiger, aber sehr ressourcenintensiver Bereich der Pharmaforschung. Dabei kommen riesige Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen in unterschiedlicher Qualität zusammen, die viel Zeit von vielen Mitarbeiter:innen in Form von monotonen Aufgaben in Anspruch nehmen. Diese Daten von künstlicher Intelligenz (KI) sortieren, strukturieren und bewerten zu lassen, könnte enorme Mengen an Zeit und Geld einsparen. Das Fernziel wäre dabei ein vollständiger End-to-End-Prozess, bei dem alle Schritte – vom Einlesen eines frei geschriebenen Berichts zu einem unerwünschten Ereignis (UE) bis zur fertigen Auswertung – vollautomatisiert geschehen. Früher erreichbar oder bereits im Einsatz sind automatisierte Einzelprozesse, bei denen KI repetitive und zeitintensive Aufgaben von Menschen übernehmen kann.1

Mögliche Einsatzgebiete von KI in der Pharmakovigilanz

Über die Einsatzmöglichkeiten von Formen künstlicher Intelligenz in der Pharmakovigilanz wurde kürzlich ein systematisches Review der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht.2

Detektieren von unerwünschten Ereignissen und Reaktionen: Einer der Vorteile von KI ist, dass sie große Mengen an Daten analysieren kann und damit relevante Sicherheitsereignisse auch aus Quellen aufspüren kann, die aufgrund ihres Volumens für eine menschliche Analyse unzugänglich bleiben würden. Soziale Medien wie facebook und Twitter stellen damit eine Quelle dar, in der u.a. auch medizinische Informationen geteilt werden, die anderenfalls nicht erfasst würden. Eine im Review vorgestellte Studie zeigte, dass ein Machine-Learning-Modell eingesetzt werden kann, um aus Twitter-Nachrichten bestimmte Schlüsselwörter zu identifizieren. So könnten in einer Post-Marketing-Phase individuelle Patientenerfahrungen erfasst werden und herkömmliche Methoden der Pharmakovigilanz ergänzen. Erschwerend wirken das hohe Hintergrundrauschen der Daten und der oft informelle oder irreguläre Sprachgebrauch in sozialen Medien.2, 3
Ein weiteres Beispiel sind Modelle, die anhand von demografischen Daten, Vitalparametern und der jeweiligen Krankheiten der Patient:innen in klinischen Studien die Anzahl an erwarteten UE vorhersagen können.4 Auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Medikament ein UE verursacht, kann berechnet werden.5

Verarbeiten von Sicherheitsreports: Um Ereignisberichte auf relevante klinische Informationen zu analysieren und beispielsweise nach Schweregrad einzuordnen, müsste KI deutlich mehr leisten, als nur Schlüsselwörter in Text zu identifizieren. Sie kann aber als Sicherheitsnetz dienen, um Fälle mit besonders schwerem Verlauf oder Todesfälle herauszufiltern.6 Eine andere Studie konnte ein KI-Modell so einsetzen, dass es ein spezifisches Muster, z.B. allergische Reaktionen, aus Sicherheitsberichten von Krankenhäusern erkennt.7

Medikamenteninteraktionen: Maschinelles Lernen („Machine Learning“) kann in der Pharmakovigilanz besonders nützlich sein, da entsprechende Modelle aus einer kleinen Zahl an Wechselwirkungen zwischen Wirkstoffen lernen können, um viele mögliche Medikamenteninteraktionen vorherzusagen.8 In einer Proof-of-Concept-Studie wurde ein Modell mithilfe von Labortests und Behandlungsdaten trainiert. Es konnte anschließend aus Gesundheitsaufzeichnungen eines Krankenhauses Pati­ent:innen bestimmen, die ein UE aufgrund einer Wirkstoffwechselwirkung gehabt haben könnten.9

Risikobestimmung für unerwünschte Ereignisse: KI kann den Weg zu personalisierter Medizin unterstützen, indem sie Patientenpopulationen identifiziert, die ein hohes Risiko für bestimmte UE aufweisen. In Studien wurden Algorithmen vorgestellt, die geschlechtsspezifische UE-Risiken oder aufgrund von genetischen Merkmalen gefährdete Patient:innen vorhersagen.10, 11

Prognose von Nebenwirkungen: Analog zur Einschätzung, welche Patient:innen ein erhöhtes Risiko für UE haben, können Machine-Learning-Modelle auch konkrete Nebenwirkungen von Medikamenten prognostizieren. Experimente mit Real-World-Daten (RWD) zeigten, dass anhand von Tumor-Biomarkern mit hoher Genauigkeit auf UE von Krebsmedikamenten geschlossen werden kann.12

Simulation klinischer Studien: Spannende Möglichkeiten eröffnet zudem das Simulieren klinischer Studien im Hinblick auf das Auftreten von UE. In einem entsprechenden Versuch waren die anhand von RWD in Simulationen berechneten Risk ­Ratios von zwei zu vergleichenden Behandlungsarmen für Kolorektalkarzinom-Medikamente ähnlich wie in den Originalstudien.13

Unsicherheit der Vorhersagen: Viele medizinische KI-Modelle zur computergestützten Diagnose können nicht angeben, wann ein Fall zu unklar ist, und geben trotzdem ein (potenziell falsches) Ergebnis aus. Die Berechnung und Integration von Prognoseunsicherheiten kann hier verlässlichere Resultate liefern und so die Patientensicherheit erhöhen.14

Use Cases von KI

Einer der Branchenpioniere beim Einsatz von KI im Bereich der Pharmakovigilanz war GlaxoSmithKline. In einem 2017 veröffentlichten Bericht konnte gezeigt werden, wie mithilfe von maschineller Sprachverarbeitung Beiträge in Online-Foren identifiziert wurden, die sich auf den nicht-medizinischen Gebrauch von Bupropion bezogen. Der nicht-indizierte, nicht-medizinische Ge- oder Missbrauch von Medikamenten als Freizeitdroge ist ein bedeutender Teil der Pharmakovigilanz und soziale Medien können eine wichtige Quelle entsprechender Berichte sein, die ansonsten nicht gemeldet werden würden.15 Auch neue Nebenwirkungen bereits bekannter Wirkstoffe können so aus öffentlich zugänglichen Medien entdeckt werden, die mit herkömmlichen Analyseinstrumenten übersehen werden würden.16
Mittlerweile werden Pharmafirmen auch von großen Strategieberatern wie Deloitte unterstützt, um gemeinsam groß angelegte Untersuchungen durchzuführen. So konnten 5.100 Patientenfälle, die in strukturierter (z.B. Formulare) oder unstrukturierter Form (z.B. E-Mails) präsentiert wurden, in eine Sicherheitsdatenbank übertragen und auf ihre Validität überprüft werden. Bei einer 83%igen Genauigkeit konnte eine Effizienz von 60% für die Fallverarbeitung gezeigt werden. Nur 17% der Fälle erforderten somit eine manuelle Intervention, wobei mit wiederholten Durchläufen die Algorithmen weiter verbessert werden sollen, um menschliche Eingriffe Schritt für Schritt weniger oft nötigt werden zu lassen.17
In einer Umfrage unter Vertreter:innen von biopharmazeutischen Firmen gaben 90% die Kostenreduktion bei der Fallverarbeitung als primäres Ziel an. Dies ist nicht überraschend, da 40–85% der Pharmakovigilanz-Budgets für Fallprozessierung ausgegeben werden und die Zahl der Fälle aktuell um 10–15% pro Jahr steigt. Von Automatisierung wird erwartet, die jährlichen Kosten um durchschnittlich 30% pro einzelnem Sicherheitsbericht zu senken.17 Damit erklärt sich auch, warum Anbieter entsprechender KI-Modelle die Arbeit im Bereich der Medikamentensicherheit als lukratives Investment erachten. Der Markt für Software, die für verschiedene Bereiche der Pharmakovigilanz und Medikamentensicherheit eingesetzt werden kann, betrug 2019 160,67 Mio. US-Dollar und wird für 2027 auf 292,97 Mio. US-Dollar geschätzt.18

Resümee

Angesichts steigender Fallzahlen und neuer Quellen, die für Pharmakovigilanz-Auswertungen herangezogen werden können, besteht ein großer Bedarf an Automatisierung und KI. Dieser Bedarf wird das Angebot an entsprechender Software weiter vergrößern und im Sinne von selbstlernenden Modellen weiter verbessern. Während eine vollautomatisierte und vollständige Auswertung von Sicherheitsberichten, die keine menschliche Arbeit mehr erfordern würde, noch nicht in Sicht ist, können schon jetzt verschiedene Formen der KI einzelne Aufgaben übernehmen und so besonders ressourcenintensive Abteilungen von Pharmafirmen entlasten.