„Zehntausende werden medizinisch vernachlässigt“

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Kathryn Hoffmann, Leiterin der Abteilung für Primary Care Medicine an der MedUni Wien, spricht im RELATUS-Interview über eine mangelhafte Versorgung bei ME/CFS und was sich ändern muss.

Warum ist ME/CFS plötzlich ein so präsentes Thema? Postvirale Erkrankungen wie die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue Syndrom – kurz ME/CFS – haben aufgrund der Coronapandemie und Post- oder Long-Covid mehr Aufmerksamkeit bekommen. Es sieht einerseits so aus, als würden postvirale Erkrankungen nach einer Infektion mit Sars-Cov-2 tendenziell häufiger auftreten als bei anderen Viren, andererseits wurden noch nie so viele Menschen geleichzeitig und mehrfach mit einem Virus wie SARS-CoV-2 infiziert. ME/CFS ist die schwerste Erkrankung, die nach einer Viruserkrankung in der postakuten Phase auftreten kann und immer mehr sind davon betroffen.

Was genau macht ME/CFS so anders oder sogar gefährlicher? ME/CFS kann nach derzeitigem Wissensstand jede:n treffen, Auslöser und Verlauf sind aber nicht einheitlich, wobei es klare klinische Diagnosekriterien gibt. Bei Long und Post Covid ist klar, dass sie nur von Sars-Cov-2 ausgelöst werden können. ME/CFS kann jedoch von unterschiedlichen Erregern ausgelöst werden, und zwar nicht nur Viren wie Sars-Cov-2 oder Influenza, sondern auch Bakterien wie Borrelien oder nach bakteriellen Magen-Darm-Erkrankungen.

Wie genau kann sich ME/CFS äußern und wie viele Menschen sind davon betroffen? ME/CFS-Betroffene haben zumeist Störungen des Immunsystems, des autonomen Nervensystems, des Endothels der Gefäße, der Durchblutung des Gehirns und der Muskeln, des Darmmikrobioms und noch einige weitere. Betroffene haben aus diesem Grund oft wenig Energie, können in schweren Fällen nicht aus dem Bett aufstehen oder brauchen ständige Dunkelheit, weil das Licht eine starke Reizüberlastung für den Körper darstellt. Schätzungen zufolge sind in Österreich 0,3 bis 0,9 Prozent der Bevölkerung betroffen. Hier gehen die Zahlen teilweise weit auseinander, weil es eben noch nicht ausreichend dokumentiert wurde und wird. Manche sprechen von 26.000 Betroffenen, andere von bis zu 80.000 – und das sind Zahlen von vor der Pandemie. Es ist also klar, dass die Zahl durch Covid-19 steigt und sich etwas in der Versorgung ändern muss.

Wie sieht die Versorgung derzeit aus? Für ME/CFS, eine klar somatische und nicht psychosomatische Erkrankung, gibt es derzeit keine heilende Therapie, nur bestmögliche Symptomlinderung. Behandelnde Mediziner:innen müssen oft mit bereits vorhanden, aber für andere Erkrankungen zugelassenen Medikamenten arbeiten. Behandlungsstellen im öffentlichen Gesundheitssystem gibt es nicht. Das Schlimme ist, dass ME/CFS-Patient:innen nicht nur medizinisch, sondern oft auch in Bezug auf die soziale Absicherung durch den Rost fallen. Viele von ihnen können nicht mehr arbeiten, bekommen aber keine entsprechende Unterstützung. Ich hätte vorher nie gedacht, dass in einem Land wie Österreich so viele Menschen medizinisch und sozial vernachlässigt werden.

Was braucht es jetzt also? Das Gute ist, wir wissen mittlerweile schon sehr viel über die Erkrankung. Für das Webtool der S1 Leitlinie S1 zu Post-Covid wurde von einer Expert:innengruppe ein Zusatzkapitel nur zu ME/CFS geschrieben. Aber nun muss intensiver geforscht werden, es braucht spezielle Anlaufstellen und interdisziplinäre Zentren mit Expert:innen für diese Krankheit. Dafür braucht es ein Commitment und Geld. Das Thema ist auch in der Politik angekommen, es gibt viele Zugeständnisse, ein Referenzzentrum soll implementiert werden, aber: Ich sehe noch nicht, dass es konkrete Schritte für öffentliche Behandlungsstrukturen gibt. Dafür ist es aber höchste Zeit. (Das Interview führte Katrin Grabner.)

SERVICE: S1 Leitlinie, Zusatzkapitel ME/CFS