Kommentar: Ein Lernbeispiel für Corona-Maßnahmen aus den 1970er Jahren

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

In der Diskussion um Corona-Maßnahmen und den Mund-Nasen-Schutz zeigen sich überraschende Parallelen zu einer Debatte aus den 1970er Jahren. Damals wurde die Gurtpflicht im Auto eingeführt. UND es wurden Studien gemacht, warum viele Menschen die Gurte wirklich ablehnten.

Ein Blick zurück und ins journalistische Archiv zeigt überraschende Parallelen zwischen der aktuellen Corona-Debatte und jener über die Anschnallpflicht im Auto. Die Gründe für den Sicherheitsgurt waren 1976, als er in Österreich und Deutschland verpflichtend vorgeschrieben wurde, klar und muten aus heutiger Sicht diskussionslos an. Der westdeutsche Straßenverkehr war damals ein „Gemetzel“, beschrieb es der Soziologe Helmut Schelsky 1971. Die Bilanz: mehr als 21.300 Verkehrstote allein 1971. Die Ferienmonate erwiesen sich als besonders opferreich, mehr als 4.000 Tote forderte der Verkehr von Anfang Juli bis Ende August. Zum Vergleich: 2018 starben auf den gesamtdeutschen Straßen 3.285 Personen – und das bei einem höheren Verkehrsaufkommen – aber zugegeben auch sichereren Fahrzeugen.

Als die Gurtpflicht kam, orteten dennoch viele einen Eingriff in die persönliche Freiheit. Die Sache wurde zum ideologischen Glaubenskrieg. Gurthasser beschimpfen Gurtbenutzer und umgekehrt. Gurtgegner, so argumentierten Befürworter, seien „verantwortungslos, gleichgültig, oberflächlich, leichtsinnig, aggressiv“, berichtet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel damals. Die Nichtbenutzer warfen den Befürwortern vor, „komisch, blöde, arrogant, affig, tantenhaft, Spießer und Pedanten zu sein, die, „wie Hunde und Babys angeleint, um nicht aus dem Wagen zu fallen“, mit ihrer „krankhaft vorsichtigen Fahrweise den ganzen Verkehr durcheinanderbringen“.

Trotz statistischer Gegenbeweise kursierten zahlreiche zum Teil kuriose Legenden, etwa: Nach einem Unfall würde man im Auto bei lebendigem Leib verbrennen oder bei einem Sturz ins Wasser ertrinken, weil man sich nicht befreien könnte. Frauen würden nicht nur die Brüste plattgedrückt, auch das Brustkrebsrisiko könnte steigen. Noch 1975 titelte der „Spiegel“ mit „Gefesselt ans Auto“. Die Diskussion damals würde man heute als Fake-News-Debatte bezeichnen. Wirklich genutzt hat die Verpflichtung nichts. Erst als 1984 in Deutschland und Österreich Strafen eingeführt wurden, stieg die Zahl der Gurtbenutzer, heute liegt der Anteil bei über 90 Prozent.

Wirklich interessant an der damaligen Diskussion sind aber die Studien, die dazu gemacht worden sind. Dabei stellte sich heraus, dass nicht jene die für den Sicherheitsgurt waren, die ängstlicheren Menschen waren, sondern jene, die dagegen waren. Was auf den ersten Blick überrascht, ist bei genauerer Betrachtung nachvollziehbar: der Sicherheitsgurt wurde primär mit den Gefahren eines Unfalls und seinen Folgen assoziiert und erst sekundär mit seiner eigentlichen technischen Funktion, nämlich vor diesen Gefahren zu schützen. Gurtgegner sehen zwar ein, dass sie mit Gurten sicherer fahren, andererseits aktualisiert der Sicherheitsgurt bei ihnen Angst, die sie vermeiden wollen. Sie kommen aus einer Angstvermeidung nicht zu einer effektiven Gefahrenvermeidung. Anders formuliert: die Gurtgegner steckten in dieser gedanklichen Klemme den Kopf in den Sand oder reagierten mit Widerstand. Parallelen zur Corona-Debatte lassen sich natürlich daraus noch nicht ziehen – allerdings sollten die Gründe für das jeweilige Verhalten in jeden Fall analysiert werden, um künftige Maßnahmen besser daraus ableiten zu können. (rüm)