Kommentar: Warum uns Corona-Maßnahmen nicht spalten

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Viel ist in den vergangenen Monaten über eine Spaltung der Gesellschaft die Rede: Corona-Maßnahmen und vor allem die Impfpflicht würden einen Keil treiben zwischen die Menschen. Das Argument ist ein Etikettenschwindel.

Spätestens seit die Impfpflicht vor einigen Tagen in Kraft getreten ist, hören wir die Warnungen vor einer Spaltung der Gesellschaft. Auch schon davor war immer wieder davon die Rede, dass die Gräben durch Familien gehen und Gegner und Befürworter welcher Maßnahmen auch immer die Gesellschaft spalten. Bei genauer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass das Argument aufgebauscht wird. Und es wird vor allem von jenen gebracht, denen die Argumente ausgehen. In jedem Fall von einer Minderheit, die den Eindruck erwecken will, als wären die Lager gleich groß. Das sind sie allerdings nicht. Zugegeben: über viele Coronamaßnahmen lässt sich diskutieren und über nicht wenige kann man den Kopf schütteln. Aber bei einer Durchimpfungsrate von 70 bis 80 Prozent – je nachdem ob nur Erwachsene gerechnet werden oder nicht – ist die Mehrheitsmeinung offensichtlich.

Doch das ist nicht das eigentliche Problem an der Spaltungsdiskussion. Es wird nämlich so getan, als sei die Pandemie an allen Problemen schuld und ohne sie würden wir in einer harmonischen Gesellschaft leben. Als Beispiel ein Zitat von Vorarlberger Maßnahmengegnern: „Unser Ziel war und ist es, dass unsere Gesellschaft wieder in eine Normalität zurückfindet, in welcher Spaltung und Klassifizierung von Menschen keinen Platz mehr findet.“ Ja, das wäre vielleicht schön, allerdings gab es das noch nie in der Geschichte der Menschheit. Und es stellt sich auch die Frage, ob eine Gesellschaft, in der alle das Gleiche wollen und denken, eine erstrebenswerte Utopie ist. Unterschiedliche Meinungen gab und gibt es immer –gerade zwischen politischen Parteien und ihren Anhängern. Das macht die Demokratie letztlich aus. Aus unterschiedlichen Ansichten also eine Spaltung abzuleiten ist vermessen.

Tatsächlich liegen die Spaltungen woanders – und das wird mit der aktuellen Debatte verdrängt. Die Geschichte zeigt viel tiefgreifendere Klüfte der Gesellschaft: Sklave und Freier, Patrizier und Plebejer, Adeliger und Leibeigner, Zunftbürger und Geselle, Wirtschaftsliberale und Linke, Arme und Reiche standen und stehen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen Konflikt. Nestroy beschrieb jene, die „Zu ebener Erde“ leben, und jenen im „ersten Stock“. Es gibt weitaus größere gesellschaftliche Probleme als Demonstrationen von 40.000 Impfgegnern und Maßnahmenkritikern. Denn trotz allem ist das ein geringer Prozentsatz der Gesamtbevölkerung, der uns weismachen will, er vertrete die schweigende Mehrheit. Den Mainstream bilden diese Menschen nicht. Vor allem aber: sobald die Pandemie halbwegs im Griff ist, wird diese „Spaltung“ auch wieder verschwinden. Mit oder ohne Impfpflicht. Spätestens dann müssen wir wieder über die wirklichen Spaltungen reden: Armut und der Kluft zwischen arm und reich, Zwei-Klassen-Medizin, Bildungsklüfte, die unterschiedlichen Einkommen und Karrieremöglichkeiten von Frauen und Männern und vieles mehr.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Föderalismus gesundheitsschädigend ist und sich die Bundesländer hier zunehmend als inkompetent erweisen. Es braucht endlich Transparenz über regionale Ausgaben, Erkrankungszahlen, Spitalsdaten und eine zentrale Steuerung. (rüm)