API 2012: Das Orpheusprogramm als Antwort auf Burn-out

Kaum eine Diagnose besitzt derzeit in ihrer Attraktivität einen höheren Stellenwert als jene des Burn-out. Nur der, der etwas geleistet hat bzw. eventuell sogar mehr geleistet hat als ein anderer, kann ausbrennen. Die Diagnose stellt somit auch eine Art Gratifikation dar – eine zu einem überwiegenden Teil von der Gesellschaft beeinflusste Zuschreibung von scheinbar gewollten Attributen2.
Bereits in der Antike finden sich Helden der Arbeit wieder, die Parallelen zu Helden der heutigen Arbeitswelt in frappanter Weise zeigen. Sisyphos war dazu verdammt, einen Stein den Berg hinaufzurollen, kurz vor dem Ziel scheiterte er, der Stein rollte den Abhang wieder hinunter. Sisyphos verharrte in dieser unsinnigen Tätigkeit und wiederholte sie in einer Art Zwang, ein Ablassen war nicht möglich. Ebenso erging es den Danaiden, den Töchtern des Danaos, die als Strafe für die Ermordung ihrer Ehe – männer in der Brautnacht Wasser in ein durchlöchertes Fass schöpfen mussten. Noch heute gibt es für diese nutzlose, mühsame Arbeit den Begriff der Danaidenarbeit.
Sowohl Sisyphos als auch die Danaiden waren dazu verdammt, diese Tätigkeit in Ewigkeit fortzuführen. Es gab nur einen einzigen Moment – so besagt der griechische Mythos –, zu dem beide ihre Arbeit ruhen lassen und innehalten konnten, es war jener Augenblick, in dem Orpheus in die Unterwelt kam und seinen Trauergesang an die Götter eröffnete. Sisyphos vergaß seine Arbeit, setzte sich auf einen Stein und lauschte der Schönheit des Orpheusschen Gesanges. Ebenso unter – brachen die Danaiden ihre Arbeit, hielten in einem Moment der Kontemplation inne und lauschten der Schönheit der Musik.
Diese Metapher verdeutlicht die Intention des Orpheusprogrammes des Anton- Proksch-Institutes. Ursprünglich zur Behandlung alkohol-, medikamenten- und drogenabhängiger Personen entwickelt, erfuhr es in den letzten zwei Jahren eine Erweiterung in Bezug auf die Behandlung von Personen mit Burn-out-Syndrom.

Diagnostische Erfassung von Burn-out

Die Diagnosestellung des Burn-out-Syndroms ist in mehreren Aspekten problematisch3. Das Konstrukt „Burn-out“ ist ein unscharfes und wird sehr kontroversiell diskutiert. Selbstratingfragebögen laufen Gefahr, aufgrund oben genannter Attraktivität zu einer überzufällig häufig falsch positiven Antwort zu führen. Die bestehenden psychologischen Testverfahren besitzen zumeist geringe Gütekriterien und sind, wenn überhaupt, oftmals schlecht normiert2.

Messung der Herzratenvariabilität: Daher gibt es in den letzten Jahren verstärkt Bemühungen, das Burn-out-Syndrom diagnostisch anders zu fassen zu bekommen. Ein vielversprechender Ansatz ist jener der Messung der Herzratenvariabilität (HRV). Durch eine Frequenzanalyse des Inter-beat-Intervalls (R-R-Zacke) können Rückschlüsse auf die Balance des autonomen Nervensystems gezogen werden (Sympathikus und Parasympathikus). Bei 24-Stunden-Ableitungen des EKG-Signals ist es möglich, die physiologische Stressbelastung in der Alltagssituation des Betroffenen zu messen. Man erhält durch Korrelation der aufgezeichneten Tätigkeiten des Betroffenen mit dem Frequenzspektrum aus dem EKGSignal valide Informationen über die Stressbelastung in typischen Arbeitssituationen sowie Hinweise über die Erholungs- und Regenerationskompetenz4,5 (Abb. 1).

Im Stadium chronischer Stressbelastung kommt es zu einer Stressdeckelung, es finden sich vermehrt parasympathische Aktivitätsspitzen als Zeichen mangelnder Erholung in den Nachtstunden auch untertags6. Schreitet die Stressbelastung weiter fort, so reduziert sich die parasympathische Aktivität dermaßen, dass letztlich fast nur sympathische Innervationen ableitbar sind. Im Finalstadium des Burn-out versiegen schließlich auch sympathische Aktivitäten zunehmend, der Betroffene ist auch bezüglich der Sympathikus-Parasympathikus-Aktivität tatsächlich ausgebrannt.
Die Regeneration des Burn-out-Syndroms erfolgt in umgekehrter Richtung. Zuerst sind sympathische Frequenzen wieder messbar, erst nach einigen Monaten kehren auch vagale Aktivitäten verstärkt zurück. Damit kann die Messung der Herzratenvariabilität einen wichtigen Beitrag zur Diagnose des Burn-out-Syndroms beitragen. Auch im Sinne der Therapieevaluation und Therapieoptimierung hält diese Technologie einige wichtige Implikationen bereit. Diese sollen anhand einer kurzen Fallvignette erläutert werden.

Fallvignette: Eine Lehrerin meldet sich in unserer Vorbehandlungsambulanz auf – grund einer Alkoholabhängigkeit und wird stationär aufgenommen. Bereits zu Beginn thematisiert die Patientin ihr hohes berufliches Engagement und äußert, Alkohol kompensatorisch gegen Stresssymptome wie innere Unruhe, Verund Anspannungen sowie Energielosigkeit eingesetzt zu haben. In den vorhandenen Burn-out-Screening-Skalen (BOSS von Hagemann und Geuenich) zeichnet die Patientin hoch, sodass in der Behandlung das Hauptaugenmerk auf das Burn-out als hinter der Sucht stehende Grunderkrankung gelegt wird. Arbeit hat für die Patientin einen dermaßen hohen Stellenwert, dass eine Reflexion ihrer Einstellung zur Arbeit und ihrem Arbeitsverhalten zu Beginn kaum möglich ist. Im Rahmen von Expositionsübungen in sensu, bei der die Patientin ihren Arbeitsalltag schildert, wird trotz bereits mehrwöchigem Krankenstand die sofortige physiologische Aktivierung sowie die langsame Erholung bei Reizexposition Arbeit sichtbar7. In der Herzratenvariabilität (HRV) weist die Patientin eine geringe Schwankungsbreite und wenig parasympathische Aktivität auf. Die Patientin beginnt mit dem Besuch von sport- und bewegungstherapeutischen Gruppen und probiert zahlreiche Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation und Qigong aus. Physiologisch ist über 3 Wochen ein leichter Anstieg hochfrequenter HRV-Aktivität (Zeichen für verstärkte parasympathische Innervation) fassbar.
Durch die Rückmeldung ihrer Stressreaktionen auf Reizexposition einer typischen Arbeitssituation beginnt die Patientin sich sukzessive mit anderen, ihr Leben zukünftig eventuell bereichernden Inhalten zu beschäftigen. So beginnt sie während der Ausgänge sinnvolle und gesundheitsförderliche Aktivitäten in ihr Leben zu implementieren. Sie entdeckt, wie gut ihr menschliche Begegnungen tun, setzt sich verstärkt mit ihren eigenen Bedürfnissen auseinander und lernt, den Bedürfnissen und Forderungen der Anderen gezielt etwas entgegenzusetzen. Der „Götze“ Arbeits- und Leistungsmaximierung verliert zugunsten für sie sinnund freudvoller Lebensinhalte (vgl. Orpheusmythos) seine Bedeutung. Nicht nur durch die subjektive Schilderung der wahrgenommenen positiven Wirkung der neuen und wiederentdeckten Lebensinhalte, sondern auch durch die HRV-Messung als objektives Abbild von Be- und Entlastung, beginnt die Patientin diese neuen Einstellungen und Werte zu internalisieren.
So kann die HRV-Messung auch zur Vorbeugung eines Rezidives herangezogen werden. Kehren die Betroffenen an ihren Arbeitsplatz zurück, kann die Umsetzung der in der Therapie erarbeiteten Strategien durch die psychophysiologische Messung der Herzratenvariabilität begleitet werden.

Therapeutisches Angebot

Um eine Neubewertung der Arbeit und der Erholungsqualität im stationären Setting einleiten zu können, bedarf es einer Vielzahl an unterschiedlichen Angeboten für die Betroffenen. Achtsamkeitsübungen vermitteln, welche Kraft und Möglichkeiten im Innehalten und Ablassen von Zwecken, Zielen und Vorurteilen liegen. Nach vielen Jahren gelingt es erstmals, ein „Sein lassen, wie es ist“ wieder zuzulassen. So werden therapeutische Themen in Kleingruppen in der Kinotherapie, dem Philosophikum oder auch der Mal- und Gestaltungstherapie wieder aufgegriffen und in anderem Kontext mit anderen Medien und Atmosphären „bearbeitet“. Die Tabelle zeigt eine Zusammenstellung des therapeutischen Angebotes im Anton-Proksch-Institut.

Moderne Technologie, wie jene der HRVMessung, auf der einen Seite und Philosophie, Achtsamkeit und Kontemplation auf der anderen stellen dabei – ebenso wie Arbeit und Erholung – keine unüberwindlichen Gegensatzpaare dar. Während bei abhängigkeitserkrankten Personen die Abstinenz das Therapieziel der Wahl darstellt, strebt der von Burn-out Betroffene ein „kontrolliertes Arbeiten“ an. Er sieht sich daher stets mit der Ambivalenz zwischen „zu viel“ und „zu wenig“ konfrontiert, eine Überwindung ist nur durch ständige Reflexion sowie kontinuierlicher Ziel- und Wertklärung möglich.

1 Musalek M, Das Mögliche und das Schöne als Antwort. Neue Wege in der Burnoutbehandlung. In: Burnout. Glut und Asche. Neue Aspekte der Diagnostik und Behandlung. Musalek M, Poltrum M (Hg.), Parodos, Berlin 2012; 177–205.
2 Scheibenbogen O, Neue Wege in der Diagnostik des Burnoutsyndroms. Psychologische und psychophysiologische Befunde, In: Burnout. Glut und Asche. Neue Aspekte der Diagnostik und Behandlung. Musalek M, Poltrum M (Hg.), Parodos, Berlin 2012; 51–77.
3 Burisch M, Das Burnoutsyndrom. 3. Auflage. Springer, Heidelberg 2006.
4 Crevenna R, Biofeedback. Basics und Anwendungen. Maudrich,Wien 2010.
5 Pirker-Binder I, Biofeedback in der Praxis. Band 2: Erwachsene. Springer, Wien/New York 2008.
6 Eller-Berndl D, Herzratenvariabiliät. Verlagshaus der Ärzte, Wien 2010.
7 Scheibenbogen O, Prieler J, Biofeedback Aided Psychotherapy (BAP). Cognitive Psychotherapy Toward a New Millennium. Kluwer Academic/ Plenum Publishers, New York 2002; 393–396.