DGPPN 2011: Psychose und Zwang – Von der Pathogenese zur Therapie

Während Patienten mit primären Zwangsstörungen kein erhöhtes Risiko für schizophrene Psychosen aufweisen und eher komorbid an Angststörungen und Depressionen erkranken, zeigen bis zu 20–30 % aller schizophrenen Patienten auch klinisch relevante obsessivkompulsive Syndrome (OCS)1. Wie Prof Dr. Mathias Zink, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, ausführte, wurden erste Autoren bereits vor 150 Jahren auf Zwangssymptome bei Psychosen aufmerksam. „Damals diskutierte man eine antagonistische Pathophysiologie und ging von dem Konzept aus, dass Zwangssymptome vor Psychose schützen. Diese Sichtweise ist – epidemiologisch gesichert – heute nicht mehr zu halten. Komorbide OCS verkomplizieren den Verlauf schizophrener Psychosen. Die betroffenen Patienten sind häufig sozial isoliert, haben eine höhere Suizidrate, ein niedrigeres Funktionsniveau und einen erschwerten Zugang zu kognitiver Verhaltenstherapie.“

Heterogene Subgruppen mit differenzieller Pathogenese

Epidemiologische und klinische Charakteristika der schizophrenen Patienten mit OCS legen heterogene Subgruppen mit differenzieller Pathogenese nahe, so Zink weiter. Neben der Möglichkeit einer zufälligen Assoziation wird eine schizotype Zwangsstörung oder auch eine schizoobsessive Psychose – vergleichbar einer schizoaffektiven Psychose – vorgeschlagen. Weiters weisen Untersuchungen zum Frühverlauf auf eine erhöhte Prävalenz von OCS bei Personen mit Psychoserisiko hin. Im weiteren Verlauf der Psychose kann die Abgrenzung katatoner Symptome von Zwangssyndromen schwierig sein. Außerdem wird diskutiert, ob Zwanghaftigkeit zum naturalistischen Psychoseverlauf gehört und somit als Teil des schizophrenen Residuums anzusehen ist. Dies lasse sich durch naturalistische Langzeitstudien, vor allem durch Studien, die durchgeführt wurden bevor mit Antipsychotika behandelt wurde, nicht belegen. „Die Diskussion, ob Zwänge quasi ein Kompensationsmechanismus sind, damit Patienten mit inkomplett remittierter psychotischer Symptomatik besser zurechtkommen, ist nicht abschließend zu beantworten“, sagte der Experte. „Die große Subgruppe, die in meinen Augen oft zu wenig Beachtung findet, sind jedoch jene Schizophreniepatienten, die unter einer Therapie mit atypischen Antipsychotika De-novo- Zwangssymptome entwickeln.“

De-novo-Zwangssymptome unter SGA

Ausgehend von Fallbeschreibungen wurde die Hypothese aufgestellt, dass antiserotonerge Antipsychotika der zweiten Generation (SGA) sekundäre OCS induzieren können. Dies basiert auf dem neurobiologischen Rational, dass sich Antipsychotika erheblich unterscheiden, in welchem Verhältnis sie serotonerge und dopaminerge Rezeptoren blockieren. Während Clozapin und Olanzapin stark antiserotonerg und schwach antidopa – minerg (D2) wirken, haben andere, wie z. B. Amisulprid oder auch Typika, ihren Schwerpunkt in der Dopaminblockade. Diese Hypothese wird durch verschiedene Untersuchungen gestützt. Einen ersten Hinweis lieferte die Studie von de Haan et al., in der sich bei der Nachverfolgung von 121 ersterkrankten Schizophreniepatienten zeigte, dass von den  32 Patienten, die auf Clozapin eingestellt waren, 20 % nach 7 Monaten eine Zwangsymptomatik entwickelten. Hingegen wurden in der sehr viel größeren Gruppe, die Risperidon oder typische Antipsychotika erhielten, nur bei einem Patienten De-novo-Zwänge beobachtet2. Dieser Befund wurde durch ein Review, in dem kleinere Studien und Fallberichte zusammengefasst wurden, bestätigt3. In einer weiteren Untersuchung konnte gezeigt werden, dass Schizophreniepatienten, die OCS entwickelten, länger mit Clozapin behandelt wurden als jene ohne Zwangssymptome; dies ließ sich parallel auch für die Plasmakonzentrationen darstellen4.
„Neben der Evidenz für eine dosisabhängige OCS-Induktion durch Clozapin weisen epidemiologische Daten darauf hin, dass die Prävalenz von Zwängen zunimmt, wenn man Risikopopulationen im Prodrom, Ersterkrankte und länger Erkrankte vergleicht, und dass der Anteil der Psychosepatienten, die unter Antipsychotika OCS im Sinn einer unerwünschten Nebenwirkung entwickeln, hoch ist. Schätzungen gehen davon aus, dass dies mehr als 50 % aller komorbiden Psychosezwangpatienten sind“, erklärte Zink, der diese Fragestellung in der „Psychose & Zwang“-Studie (PUZ-Studie) näher untersuchte.

PUZ-Studie

Auf Querschnittsebene überprüften Zink und Mitarbeiter, ob schizophrene Patienten in Monotherapie mit Clozapin oder Olanzapin (Gruppe I; n = 39) häufiger OCS haben als ein Vergleichskollektiv, das mit Amisulprid oder Aripiprazol (Gruppe II; n = 31) behandelt wurde. Dies wurde hochsignifikant bestätigt: Mit einem mittleren YBOCS-Gesamtwert (Yale Brown Obsessive Compulsive Scale) von ca. 13,5 litten die Patienten der Gruppe I wesentlich häufiger und schwerer unter Zwangsgedanken und Zwanghandlungen als die Gruppe II, die fast keine Zwangssymptomatik aufwies (Abb. 1). Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um sekundäre Zwangssymptome, die erst deutlich nach dem Start der Indexmedikation auftraten. Ebenso konnte eine positive Korrelation zwischen Dauer und Dosis der Clozapin- Behandlung und OCS-Schwere nachgewiesen werden.
Unterschiede wurden auch hinsichtlich des neuropsychologischen Profils beobachtet: In Gruppe I war die Perseverationsneigung deutlich höher, die – wie auch die Handlungsinhibition im Go-Nogo- Test – positiv mit der Zwangssymptomatik korrelierte. Zudem wurden deutliche Defizite im visuellräumlichen Gedächtnis gefunden, die quantitativ mit der Zwangssymptomatik korrelierten5. Anschließend wurde in einer Längsschnittstudie untersucht, ob sich auch im zeitlichen Verlauf gruppenabhängig Unterschiede in der Zwangssymptomatik zeigen. Tatsächlich wurden im Follow-up nach 12 Monaten signifikant unterschiedliche Veränderungen festgestellt: Während die Patienten der Gruppe I (n = 28) Zwangssymptome akkumulierten, kam es in der Gruppe II (n = 22) zu Verbesserungen (Abb. 2).


„Möglicherweise disponiert auch ein genetisches Risiko für die Entwicklung sekundärer OCS unter SGA-Therapie“, setzte Zink fort. In einer koreanischen Studie fanden Kwon et al.6 für Polymorphismen im Gen, das für den neuronalen Glutamattransporter EAAC1 (SLC1A1) kodiert, eine hohe Odds-Ratio von fast 4. „Diesen Befund konnten wir in einem europäischen Kollektiv aber nicht replizieren, wobei Gen-Umwelt-Interaktionen möglich erscheinen.“

Therapieansätze

Während kognitive Verhaltenstherapie (KVT) zu den leitlinienbasierten Standards der Schizophrenietherapie zählt, liegen keine systematischen Daten bei Patienten mit komorbider Zwangssymptomatik vor. „Bislang wurden lediglich 8 Fälle publiziert, wir haben also keine Evidenz, ob KVT verträglich oder wirksam ist. Eine Proof-of-Concept-Studie wäre dringend nötig“, meinte Zink. Pharmakologisch sei eine Medikation mit serotonergen Antidepressiva denkbar, doch seien insbesondere bei Clozapinbehandelten Patienten additive anticholinerge Nebenwirkungen beim Einsatz von Clomipramin und unter SSRI relevante pharmakokinetische Interaktionen zu beachten. „Generell ist auch hier die Evidenz sehr zweideutig. Eine Umstellung auf weniger antiserotonerge Antipsy – chotika ist ebenfalls nicht evidenzbasiert. Als therapeutisches Vorgehen ist eine Kombinationsbehandlung zu empfehlen. Dabei wird die Clozapin-Therapie durch eine Kombination mit weniger riskanten Substanzen wie Amisulprid, Aripiprazol oder Ziprasidon oder auch durch eine Augmentation mit Lamotrigin, Valproat oder Pregabalin reduziert“, fasste der Experte die therapeutischen Optionen zusammen.

 

Quelle: DGPPN-Kongress, Symposium „Psychose und Zwang: Von der Pathogenese zur Therapie“, 24. 11. 2011, Berlin.
1 Mukhopadhaya K et al., J Psychopharmacol 2009; 23(1):6–13.
2 de Haan L et al., J Clin Psychiatry 1999; 60:364–65.
3 Lykouras L et al., Progress Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry 2003, 27: 333–346.
4 Lin SK et al., Ther Drug Monit. 2006; 28(3):303–7.
5 Schirmbeck F, Zink M et al., Psychol Med 2011; 41(11):2361–73.
6 Kwon JS et al., Arch gen Psychiatry 2009; 66(11):1233–41.