DGPPN 2011: Personalisierte Psychiatrie

Die heutigen evidenzbasierten Behandlungsleitlinien, so der Präsident der DGPPN Prof. Dr. Peter Falkai, Göttingen, beruhen in der Regel auf dem Vergleich von Mittelwerten von Patientengruppen und Kontrollen und geben, von Ausnahmen abgesehen, keine Entscheidungshilfen zur Auswahl der optimalen Therapie für einen spezifischen Patienten. „Besonders bei Patienten, bei denen die bisherigen Therapiebemühungen nicht ausreichend oder gar nicht wirken, bietet die individualisierte Medizin eine Chance.“

Validierung von Subgruppen: So bemühe man sich derzeit, die Wirkfaktoren zu identifizieren, die zum Ansprechen oder Nichtansprechen einer Therapie beitragen, wie z. B. den genetischen Fingerabdruck einzelner Personen zu nutzen, um das Ansprechen auf Antidepressiva (AD) oder die Empfindlichkeit bezüglich der Nebenwirkungen von AD frühzeitig zu identifizieren. „Heute wird beispielsweise auch mit Hilfe moderner Bildgebungsverfahren wie fMRT eine Phänotypisierung von Patientengruppen mit vergleichbaren kognitiven Defiziten versucht, um sie vielleicht gezielt einer Antipsychotikagruppe zuordnen zu können.“
Personalisierte Medizin sei heute in Deutschland in Verruf geraten, werde oft nur auf die Entwicklung von Biomarkern eingeschränkt und als Marketingstrategie der Pharmaindustrie gesehen, zitierte Prof. Dr. Wolfgang Maier, Bonn, den „Spiegel“ (siehe „Das große Versprechen“ 32/2011). „Betrachtet man die Realität auf diesem Gebiet, so muss man leider eingestehen, dass für viele psychische Erkrankungen der große Durchbruch in den nächsten Jahren nicht zu erwarten ist, auch wenn es inzwischen eine gewisse Hoffnung hinsichtlich diagnostischer Verfahren gibt, vor allem in der Frühdiagnostik der Demenzen.“
Das Ziel der personalisierten Psychiatrie gehe aber deutlich über die personalisierte Medizin in anderen Fachgebieten hinaus. Es gehe nicht nur um die Suche nach aussagekräftigen Biomarkern. „Die Einbeziehung individueller Aspekte der Patienten in Diagnostik und Therapie ist in der Psychiatrie tägliche Praxis. Individualisierte Therapieansätze sind in den biographieorientierten Psychotherapien oder der personengerechten gemeindenahen Versorgung seit langem gebräuchlich.“

Früherkennung und Frühintervention: Psychische Krankheiten haben ein jahrelanges Prodrom, das gilt besonders für die Alzheimer-Demenz, aber auch für Psychosen. „Hier geht es um die Frage“, so Maier, „wie weit wir mit Biomarkern in der Lage sind, individuell frühe Stadien einer psychischen Krankheit zu erkennen, um früh zu intervenieren und den Verlauf günstig zu beeinflussen.“ Vor allem aber bei der Alzheimer-Krankheit mit ihrem ca. 20-jährigen hirnbiologischen Krankheitsprozess vor der ersten Diagnose kann heute durch das Amyloid- PET die pathogenetisch relevante Amyloidbildung vielleicht schon Jahre vor den ersten klinischen Symptomen in vivo dargestellt werden (Abb. 1), was möglicherweise die Vorhersage des weiteren Verlaufs erlaubt.


Zudem zeigten erste Daten über psychotische Prodrome, die allerdings noch repliziert werden müssen, dass durch die Frühintervention mit Fischölkapseln die Übergangswahrscheinlichkeit ins Vollbild der Psychose reduziert werden kann (Abb. 2). „Die Medizin muss sich sehr viel stärker in die Prädiktion wagen“, betonte Maier. Wichtig sei, möglichst früh gesunde Hochrisikopatienten zu identifizieren und dann bei den individuumspezifischen Risikofaktoren gezielt zu intervenieren sowie die Kompensationsmöglichkeiten des Gehirns und die individuellen Schutzfaktoren zu fördern.

Biomarker in der Demenzdiagnostik: In der Differenzialdiagnostik verschiedener Demenzerkrankungen hat die Kombination verschiedener Biomarker Vorteile gegenüber den Einzelwerten gezeigt. „Der Quotient aus den Liquorkonzentrationen von Aβ42 und Aβ40 scheint der alleinigen Bestimmung der Aβ42-Konzentration überlegen zu sein und zeigt in Kombination mit der Gesamt-Tau-Konzentration eine weitere Verbesserung der Diskrimination zwischen Alzheimer-Patienten und Kontrollen“, erläuterte Prof. Dr. Johannes Kornhuber, Erlangen. „Durch die Kombination von Biomarkern konnten auch gute Ergebnisse bei der Vorhersage erzielt werden, welche MCI-Patienten eine Demenz vom Alzheimer-Typ entwickeln werden.“ Doch seien die Cut-off- Werte derzeit laborspezifisch, auch die Standardisierung der Analytik sei noch verbesserungswürdig.
Einen laborunabhängigen Interpretationsalgorithmus haben Lewczuk et al.1 präsentiert:

  • Aβ UND Tau/pTau normal: kein Hinweis auf organische Schädigung des ZNS
  • Aβ ODER Tau/pTau pathologisch: mögliche AD
  • Aβ UND Tau/pTau pathologisch: wahrscheinliche AD
  • Tau > 1200 pg/ml UND andere Biomarker normal oder nur leicht pathologisch: unwahrscheinliche AD, Hinweis auf CJD.

Blutbiomarker werden die Biomarker aus dem Liquor zukünftig nicht ersetzen, meinte Kornhuber. Es sei aber denkbar, dass sich ein Blutbiomarker mit guter Sensitivität und vielleicht schlechter Spezifität als eine Art Screening-Test eignen könnte.

Bluttest für Schizophrenie? „Mit Sicherheit verbergen sich unter dem Krankheitsbild Schizophrenie diverse Erkrankungssubtypen“, betonte Prof. Dr. Sabine Bahn, Cambridge, UK. In „Non-hypothesis driven“-Proteomik-Verfahren wurden Proteine und Moleküle in ihrer Quantität charakterisiert und aus einer normalen Blutprobe ein Proteinprofil erstellt. „Auf diese Weise konnte ein molekularer Fingerabdruck der Schizophrenie bestimmt werden, dessen Anwendung in 5 unabhängigen Kohorten 83 % aller schizophrenen Patienten von gesunden Kontrollen differenzierte.“ (Abb. 3) Mit VeriPsych™ steht nun der erste Bluttest für Schizophrenie zur Verfügung, der charakteristisch veränderte Serumbiomarker nachweisen könne. Falls der derzeit 51-Analyten-Multiplex- Immunoassay der klinischen Realität standhalte, so Bahn, gäbe es zukünftig die Möglichkeit z. B. die für die Prognose wichtigen schizophrenen Prodromal- und Frühstadien von bipolaren Störungen biochemisch abzugrenzen.

Hirnbildgebungsmarker: Gerade durch die in vivo nutzbare moderne funktionelle Hirnbildgebung, wie z. B. fMRT, sei eine präzisere Charakterisierung des neurofunktionellen bzw. pathophysiologischen Phänotyps des einzelnen Patienten und damit vielleicht zukünftig auch eine individualisierte Therapieauswahl möglich, sagte Prof. Dr. Oliver Gruber, Göttingen. „Während die Arbeiten von Helen Mayberg et al. auf eine Schlüsselrolle der Aktivität des subgenualen cingulären Kortex für die Vorhersage der antidepressiven Therapierespons auf verschiedene Antidepressiva, kognitive Verhaltenstherapie und Tiefenhirnstimulation hinweisen, gehen Pizzagalli et al. von einer guten Prädiktion durch die prägenuale ACC-Aktivität aus. Weitere zentrale Rollen in der Pathophysiologie der unipolaren Depression und mögliche Prädiktorfunktionen für Therapierespons werden auch der Amygdala sowie lateralen präfrontalen Arealen zugeschrieben“, so Gruber abschließend.

Quelle: DGPPN-Kongress, Präsidentensymposium „Entwicklung von Biomarkern für psychische Erkrankungen“, Pressehintergrundgespräch „Individualisierte Psychiatrie und Psychotherapie. Bringt uns das weiter?“, 23.–26. 11. 2011, Berlin.

1 Lewczuk P et al., J Neural Transm 2009; 116(9):1163-7