Der schreiende Säugling in der Praxis

Ein Artikel aus den EbM-Guidelines
Reviewt am 31. 12. 2009


 

Allgemeines

  • Schreien gehört zur normalen Entwicklung eines Säuglings, insbesondere in den ersten drei Monaten seines Lebens.
  • Schreien kann aber auch auf Hunger oder Schmerzen hinweisen oder ein Symptom einer Erkrankung sein (z.B. Infektion, Kuhmilchallergie).
  • Eine sorgfältige Anamnese und eine klinische Untersuchung helfen zu differenzieren, ob das Schreien Bestandteil der normalen Entwicklung ist, oder Anzeichen einer Krankheit.
  • Auch wenn das Schreien in den meisten Fällen zur normalen Entwicklung gehört – das Baby kann während der Untersuchung sogar glücklich und zufrieden wirken – kann ein übermäßig schreiendes Kind bei den Eltern Gefühle der Enttäuschung und Hilflosigkeit auslösen und wird für die Familie immer ein Problem darstellen. Der behandelnde Arzt sollte also Einfühlungsvermögen an den Tag legen und die Auswirkungen des Schreiens auf die Familie nicht unterschätzen.

 

Anamnese

Schreien als Teil der normalen Entwicklung


  • Wann hat das übermäßige Schreien begonnen und wie lange schreit der Säugling innerhalb eines 24-Stunden-Zyklus?
  • Normales Schreien nimmt im Alter von zwei bis drei Wochen zu. Das Schreien erreicht während deszweiten Lebensmonats (bei Frühgeburten korrigiertes Alter) seinen Höhepunkt, und der Säugling schreit innerhalb von 24 Stunden durchschnittlich etwa zwei Stunden (Kolikphase). Nach dem zweiten Lebensmonat schreit das Baby weniger und die Kolikphase endet in der Regel mit dem vierten Monat.
  • Wie viel ein Säugling schreit, unterliegt einer großen Bandbreite und auch das individuelle Schreimuster eines Babys kann täglichen Schwankungen unterworfen sein. Einen Säugling, der übermäßig schreit, bezeichnet man als „Kolik- oder Schreibaby“. In klinischen Studien zu Schreibabys wurde als Einschlusskriterium „Schreien während mindestens drei Stunden pro Tag an mindestens drei Tagen pro Woche“ verwendet. Nach dieser Definition würden 5-15% der Säuglinge in die Kategorie der „Schreibabys“ fallen.
  • Welcher Art ist das Schreien?
    • Meistens handelt es sich um eine Art Jammern, also um anhaltende und mehrmals kurz unterbrochene Äußerungen des Missempfindens. Gelegentlich schreien Babys anhaltend und noch seltener handelt es sich um ein lautes, anfallsweises „echtes Brüllen“, das weder durch Herumtragen noch durch Füttern beendet werden kann (= Schreikolik).
    • Koliktypische Schreiattacken unterschiedlicher Ausprägung treten bei den meisten Säuglingen im Alter von ein bis drei Monaten auf.
  • Schreit das Kind nur zu bestimmten Zeiten des Tages oder kontinuierlich?
    • Das noch innerhalb der Schwankungsbreite der Normalität liegende Schreien tritt gewöhnlich nur zu gewissen Zeiten des Tages auf, während in der übrigen Zeit der Säugling einen zufriedenen Eindruck macht.
    • Am häufigsten schreit der Säugling am Abend. Für ein Baby zu sorgen, dessen Schreiepisoden vorwiegend in die Nachtzeit fallen, ist besonders anstrengend.
  • Wie wird das Baby gefüttert? Wächst es normal?
    • Gestillte Babys schreien gleich häufig wie mit Fertigmilch ernährte Kinder.
    • Schreien als Teil der normalen Entwicklung hat keine Auswirkungen auf das Wachstum, der Säugling nimmt kontinuierlich zu.
  • Welche Behandlungsmöglichkeiten haben die Eltern schon versucht?

Schreien als Symptom von Hunger, Schmerzen odereiner Erkrankung


  • Durch eine sorgfältige Anamnese und eine klinische Untersuchung können ernsthafte Erkrankungen als Ursache für das Schreien ausgeschlossen werden. In einigen Fällen ist eine Beobachtungsperiode von ein bis zwei Wochen notwendig, um die Ursache des Schreiens zu identifizieren. Wenn die körperliche Untersuchung ohne Befund blieb, ist es nicht notwendig, Laboruntersuchungen durchzuführen oder zu veranlassen.
  • Hat der Säugling eine akute Infektion?
    • Hat der Säugling Fieber? Ist der Allgemeinzustand reduziert?
    • Hat das Baby eine Rhinitis, atmet es flach oder hört man eine rasselnde Atmung?
    • Hat das Kind akute Darmprobleme, die eine chirurgische Begutachtung oder Intervention nötig machen?
  • Gedeihstörungen und schwallartiges Erbrechen deuten auf eine Pylorusstenose hin.
  • Grünes, gallig imbibiertes Erbrechen bei einem Säugling ist immer pathologisch (Darmstenose/Atresie, Volvulus, inkarzerierte Hernie etc.).
  • Die typischen Symptome von Morbus Hirschsprung sind Verstopfung, aufgetriebenen Bauch und Erbrechen.
  • Ist der Säugling hungrig?
    • Wenn der Säugling zu wenig Muttermilch erhält und dies die Ursache für das Schreien ist, wird eine ergänzende Flaschennahrung die Situation entspannen. Wenn das Schreien durch Koliken verursacht wird, beruhigt sich das Baby durch Füttern nicht.
  • Ist der Säugling auf Kuhmilch allergisch?
    • Steht das Schreien im Zusammenhang mit Einführung der Babyfertignahrung? Es kommt sehr selten vor, dass Säuglinge eine durch das Stillen vermittelte Sensibilisierung entwickeln.
    • Zeigt das Kind intestinale Symptome: Erbrechen, Diarrhö, geringe Gewichtszunahme? Hat das Kind einen atopischen Ausschlag? Gibt es in der Familienanamnese Atopien?
    • Kuhmilchallergien treten viel seltener auf als infantile Koliken. Ungefähr 2% der Kolikbabys haben tatsächlich eine Kuhmilchallergie. Es stellt den Arzt vor eine Herausforderung, diese 2% aus all den Kolikbabys herauszufiltern. Es sollte an eine Kuhmilchallergie gedacht werden, wenn der Säugling intestinale Symptome oder Hautprobleme hat, eine Beziehung zwischen dem ersten Auftreten der Symptome und der erstmaligen Gabe von Babyfertignahrung herzustellen ist und wenn eine positive Familienanamnese für Atopien besteht. Das Schreimuster dieser Babys erstreckt sich gleichmäßig über 24 Stunden und das Schreien wird auch nicht mit zunehmendem Alter weniger.
  • Leidet das Baby an Entzugssymptomen?
    • Medikamenten- bzw. Drogeneinnahme während Schwangerschaft und Stillperiode sollten überprüft werden.

Klinische Untersuchung eines Schreikinds

  • Führen Sie eine vollständige körperliche Untersuchung durch. Ein Baby, das aufgrund seines übermäßigen Schreiens vorgestellt wird, fühlt sich häufig während der Untersuchung gut und wirkt zufrieden, was den Ausschluss einer schwerwiegenden akuten Erkrankung leicht macht.
  • Gewichtskontrolle: Vergleich mit dem zuletzt erhobenen Gewicht, wie viel Gewicht hat das Kind pro Woche zugenommen?(> 150 g/Woche) bzw. führen Sie eine Perzentilenkurve.
  • Neurologische Entwicklung des Kindes: Augenkontakt, Bewegungen und Muskeltonus; die Fontanelle sollte palpiert werden.
  • Auskultation von Lungen und Herz,
  • Palpation des Abdomens, der Leber, Leisten (Hernien), Femoralispulse (Aortenisthmusstenose!).
  • Untersuchung des Genitale beim Jungen, Überprüfung des Anus
  • Mundschleimhaut (Soor?)
  • Trommelfell (Otitis?)
  • Haut (atopisches Ekzem, Windeldermatitis?)
  • Untersuchung des Augenfundus (retinale Blutungen) bei Verdacht, dass das Baby geschüttelt worden ist.
  • Untersuchen Sie die Extremitäten (Frakturhinweise?).

 

Behandlung

  • Eine Sepsis, Infektionen des Urogenitaltraktes und andere dringend behandlungsbedürftige Erkrankungen sollten in stationären Bereich ausgeschlossen werden bei:
  • In der Mehrzahl der Fälle stellt jedoch das Schreien Teil der normalen Entwicklung dar, also eine Normvariante, und verschiedene Behandlungsversuche werden vermutlich scheitern. Die Eltern müssen darüber aufgeklärt werden, dass:
    • auch ein Baby, das sehr gut betreut wird, gelegentlich schreit;
    • das Schreien dem Kind nicht schadet und alle Kolikbabys (Schreibabys) normal wachsen und sich normal entwickeln.
    • Tropfen gegen Meteorismus sind bei schreienden Säuglingen wirkungslos.
    • Das Hochheben und Herumtragen eines Kolikbabys hat keine Auswirkung auf das Ausmaß des Schreiens (auch wenn es vielleicht das Kind kurzfristig beruhigt).
  • Bei Verdacht auf Kuhmilchallergie sollte ein ein bis zwei Wochen dauernder Versuch einer Ernährungsumstellung unternommen werden. Entweder nimmt die stillende Mutter in dieser Zeitspanne keine Milch zu sich oder das Baby bekommt Babyfertigmilch. Die erste Variante ist schwierig durchzuführen und die zweite kostspielig. Dieser Schritt sollte daher nur nach sorgfältiger Überlegung ins Auge gefasst werden und der Versuch sollte abgebrochen werden, wenn kein eindeutiges Ergebnis erzielt wird. Auf jeden Fall basiert die endgültige Diagnose Kuhmilchallergie auf der Symptomatik des Babys, wenn ihm wieder Kuhmilch zugeführt wird.
  • Eine randomisiert-kontrollierte Studie zeigt, dass Lactobacillus reuteri bei gestillten Kindern mit Schreikoliken die tägliche Schreizeit verringert, wohingegen in einer Präventionsstudie keine Verringerung der Schreikoliken durch Gabe von Probiotika festgestellt wurde.
  • Es ist wichtig, dass sich beide Elternteile an der Betreuung des Säuglings beteiligen, damit nicht ein Elternteil völlig ausgebrannt wird. Auch sollte, wann immer möglich, die Hilfe von Verwandten/Freunden/ Kinderbetreuungseinrichtungen etc. in Anspruch genommen werden.
    • Einige Eltern bevorzugen einen „natürlichen“ Ansatz, wobei der Säugling die meiste Zeit Hautkontakt mit der Betreuungsperson erfährt und auf alle Regungen des Kindes sofort geantwortet wird. Es kommt zu einer Verringerung der Schreiphasen in den ersten Lebensmonaten (aber nicht die Intensität der Kolikphasen), allerdings sind bei diesen Babys unruhigere Nächte zwischen dem dritten und zehnten Lebensmonat zu beobachten. Das ständige Herumtragen des Säuglings wird auch sehr anstrengend für die Eltern.
    • Andere bevorzugen eine eher strukturierte Methode, wo ein regelmäßiger Rhythmus für Nahrungsaufnahme und Schlafen angestrebt wird und das Kind im eigenen Bett schläft. Hier kommt es in der ersten Phase vermehrt zu Schrei- und Jammerphasen, in der Folge schlafen die Babys schneller durch, sobald sie Selbstkontrolle erlernt haben.
    • Für die Eltern ist es wichtig zu wissen, dass all diese verschieden Ansätze der Fürsorge Pro und Contras haben und es keinen „alleinigen, richtigen“ Weg gibt. Weder durch vermehrtes Herumtragen oder im gemeinsamen Bett schlafen, noch durch gelegentliches Schreien lassen, fügen Sie dem Kind Schaden zu.
    • Es ist unbedingt zu unterlassen, den Säugling zu schütteln, da das lebensbedrohlich sein kann. Die Eltern können verschiedene Beruhigungsmethoden probieren (stetige beruhigende Stimulation, wie Halten, Knuddeln, Massage des Babys und kontinuierliche surrende Geräusche oder, alternativ, eine Unterbrechung der Stimulation, indem das Kind zurück in seine Wiege gelegt wird), aber die Eltern und jede andere Betreuungsperson müssen wissen, dass Schütteln für ein Baby gefährlich ist.
  • Zur Ermittlung des Schreimusters sollte mit der Familie Kontakt gehalten werden (Kontrolltermin oder Telefonat).
    • Wenn neue Symptome auftreten oder die Schreiepisoden mit zunehmendem Alter des Babys nicht immer seltener werden, sollte noch einmal nach einer Grundkrankheit gesucht werden. Die Eltern brauchen Unterstützung und sollten die Sicherheit haben, dass ihr Baby gesund ist.
    • Obwohl die Eltern das vielfach glauben, leiden Kolik/Schreibabys nicht an Schlafmangel. Eine gute Prognose ermutigt die Eltern und hilft ihnen, die Schreiphasen zu überstehen.
    • Die Mutter sollte gefragt werden, wie sie mit der Situation fertig wird, und eine postpartale Depression sollte behandelt werden. Mütter von Schreibabys haben ein erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken.
    • In Mütterbetreuungseinrichtungen sollten Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen aufliegen.

 

Literatur:
1 Savino F, Pelle E, Palumeri E, Oggero R, Miniero R, Lactobacillus reuteri (American Type Culture Collection Strain 55730) versus simethicone in the treatment of infantile colic: a prospective randomized study. Pediatrics 2007 Jan; 119(1):e124–30
2 Freedman SB, Al-Harthy N, Thull-Freedman J, The crying infant: diagnostic testing and frequency of serious underlying disease. Pediatrics 2009 Mar; 123(3):841–8
3 Kukkonen K, Savilahti E, Haahtela T, Juntunen-Backman K, Korpela R, Poussa T, Tuure T, Kuitunen M, Long-term safety and impact on infection rates of postnatal probiotic and prebiotic (synbiotic) treatment: randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Pediatrics 2008 Jul;122(1):8–12

 

Review: Silke Eichner
Artikel ID: ebd00967 (031.050)
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