Fallbericht Einseitige Beinschwellung als diagnostisches Mysterium

Ein 45-jähriger männlicher Patient stellt sich im März 2020 bei seinem Hausarzt vor. Er berichtet über eine Schwellung des rechten Beines, welche vor circa 6 Wochen plötzlich aufgetreten sei. Schmerzen habe er keine, lediglich ein schwellungsbedingt pralles Gefühl im rechten Vorfuß. Ansonsten ist der Patient in sehr gutem Allgemeinzustand. Es bestehen keine bekannten Vorerkrankungen und eine Dauermedikation wird verneint. Bei der klinischen Untersuchung ergibt sich im Seitenvergleich eine Umfangsvermehrung der rechten Wade sowie des rechten Oberschenkels von bis zu 4 cm mit einer livid-rötlich imponierenden Verfärbung. Laborchemisch zeigen Blutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenfunktionsparameter sowie Entzündungslabor keine Auffälligkeiten.

Zum Ausschluss einer Thrombose wird der Patient dem Gefäßchirurgen zugewiesen. Sonografisch lässt sich eine Thrombose an der rechten unteren Extremität ausschließen. Weiterhin zeigen sich weder Hinweise auf eine chronisch venöse Insuffizienz noch Zeichen einer arteriellen Durchblutungsstörung. Bei positivem Stemmerschen Zeichen wird die Diagnose eines chronisch idiopathischen Lymphödems II° gestellt. Dem Patienten werden Lymphdrainagen sowie eine physikalische Entstauungstherapie durch Tragen eines Kompressionsstrumpfes empfohlen.
Da sich die Beschwerdesymptomatik nach drei Monaten noch immer nicht gebessert hat, erfolgt eine orthopädische Vorstellung. Bei unauffälligem klinischem Status wird ergänzend eine MRT des rechten Vorfußes und Unterschenkels angefertigt. Doch auch diese ergibt keinen Anhalt für Pathologien.

Weitere Abklärung

Zum Ausschluss einer Polyneuropathie wird der Patient neurologisch vorgestellt. Jedoch sind auch im neurologischen Status und bei der Messung der Nervenleitgeschwindigkeit der unteren Extremität keine Auffälligkeiten zu erheben.
Zum Ausschluss einer Einflussstauung erfolgt ergänzend eine Abdomensonografie, diese zeigt sich jedoch – bis auf einen vergrößerten inguinalen Lymphknoten – bland. Um eine das Gefäßsystem blockierende Raumforderung im Bauchraum definitiv auszuschließen, wird zusätzlich eine CT des Abdomens angefertigt. Auch diese bleibt ohne wegweisenden Befund.

Diagnose − ein Jahr später

Mehr als ein Jahr nach Beginn der Symptome erfolgt eine dermatologische Vorstellung. Hier werden zur Abklärung der klinischen Verdachtsdiagnose weitere Laboruntersuchung beauftragt. Dabei präsentieren sich Borrelia-burgdorferi-IgG-Antikörper im Serum hochpositiv (Borrelia-burgdorferi-IgG, ELISA [Serum]: > 300 U/ml [Ref. < 8,0]; Borrelia-burgdorferi-IgG, Westernblot [Serum]: positiv; Borrelia-burgdorferi-IgM, EIA [Serum]: 0,517 [< 0,400]; Borrelia-burgdorferi-IgM, WB [Serum]: positiv). Entsprechend der indikativen Klinik wird die Diagnose einer Acrodermatitis chronica gestellt.

Acrodermatitis chronica

Die Acrodermatitis chronica atrophicans (ACA) stellt das Stadium III der Lyme-Borreliose dar. Bei ca. 10 % der (unbehandelten) Infektionen kommt es zur Manifestation dieses Krankheitsbildes. Die Acrodermatitis chronica (AC) kann Monate bis Jahrzehnte nach Infektion auftreten und wird in ein ödematöses und atrophes Stadium gegliedert. Während das ödematös-entzündliche Stadium mit einer (meist an den Extremitäten auftretenden) Schwellung einhergeht, präsentiert sich das atroph-involutierte Stadium mit einer lividen, dünnen und haarlosen Haut.

Therapie

Die Therapie der Wahl stellt eine antibiotische Behandlung mit Doxycyclin 100 mg 2-mal tgl. peroral über 21–28 Tage dar. Eine Antibiose mit Doxycyclin wird auch bei unserem Patienten eingeleitet. Bereits drei Wochen nach Therapiebeginn zeigt sich die Schwellung des betroffenen Beins deutlich rückläufig.Die Frage, ob er in den letzten Jahren einen Zeckenstich oder ein Erythema migrans bemerkt hätte, verneint der Patient.

Wissenswertes für die Praxis
  • Für die Vorbeugung einer chronischen Borreliose ist eine frühe Erkennung möglicher Anzeichen einer Borrelieninfektion essenziell.
  • Frühe Symptome treten bereits wenige Tage bis Wochen nach dem Zeckenstich auf. Sie äußern sich typischerweise durch eine sich zentrifugal ausbreitende Hautrötung (Erythema chronicum migrans), welche sich ringförmig um den Zeckenstich formiert. Zusätzlich können Beschwerden wie Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Fieber und Schüttelfrost auftreten.
  • Das Risiko einer Borrelieninfektion nach Zeckenstich beträgt 2–6 %, und bei ca. 10 % der (unbehandelten) Infektionen kommt es zum Auftreten einer ACA.
  • Bei unklaren Hautveränderungen (unter anderem auch lividen Schwellungen) sollte differenzialdiagnostisch auch an eine Spätform der Borreliose gedacht werden!
  • Zecken sollten unmittelbar nach dem Auffinden mit einer spitzen Pinzette entfernt werden, damit wird das Risiko für eine Infektion mit z. B. Borrelien verringert. Die Zecke sollte dabei langsam und mit gleichmäßigem, geradem Zug herausgezogen werden.