Kann die Medizin von der Luftfahrt lernen?

„Mehr Technik einzusetzen heißt nicht automatisch, mehr Sicherheit für Patienten zu schaffen“, konstatierte Univ.Prof. Dr. Daniel Scheidegger, Vorsteher des Departments Anästhesie und operative Intensivmedizin, Universitätsspital Basel in seiner KeyNote im Rahmen des diesjährigen Krankenhausmanagementkongresses. Auch in der Luftfahrt wurde lange geglaubt, dass eine absolute Sicherheit durch den vermehrten Einsatz von technischen Hilfsmitteln erreicht werden kann. Mit jedem Bericht, der mit der Aussage „Pilotenfehler“ endete, haben sich diese Bemühungen weiter verstärkt. Dabei wurde zu wenig berücksichtigt, wie Menschen in Stresssituationen mit den vielen vorhandenen HightechGeräten interagieren. „Aus der Luftfahrt kennen wir das Problem: So gab es etwa in der Concorde 40 unterschiedliche akustische Warnsignale, allein drei Piloten waren notwendig, um das technisch anspruchsvolle Cockpit im Griff zu haben. Viele der Alarmtöne hörte die Crew im Ernstfall zum ersten Mal und musste erst ‚nachlesen‘, was zu tun war. Eine Situation, die in einem medizinischen Notfall nicht denkbar wäre“, stellt Scheidegger fest. Und doch gibt es in der Luftfahrt im Durchschnitt zwischen null und 22 Tote pro Jahr. Ein Vergleich mit der Medizin mag hinken – da hier per se Kranke behandelt werden. „Doch gehen wir von den ‚Gesunden‘ aus, wie etwa schwangeren Frauen, die ‚nur‘ zu einer Geburt ins Krankenhaus kommen, und gäbe es eine ähnliche Frequenz wie im Flugverkehr, so läge die Medizin im Vergleich bei 4.200 Toten pro Jahr. Daraus müssen wir schließen, dass in puncto Sicherheit noch einiges an Aufholbedarf möglich ist, um an das Niveau der Luftfahrt heranzukommen“, ist der Schweizer Experte überzeugt.
Auch wenn konkrete Zahlen fehlen, so gibt es doch Hinweise, dass Verwechslungen – von Medikamenten, Patienten oder Gliedmaßen – zu den häufi gsten Fehlern in der Medizin zählen. Gefordert sind hier nicht nur die Mediziner oder die Pfl ege, sondern auch die Hersteller und Lieferanten. „Verwechslungen von Arzneimitteln könnten sehr einfach reduziert werden, wenn die Hersteller ihre Verpackungen entsprechend designen. Durch die Zunahme der Produktvielfalt und natürlich auch durch Stress und Hektik kann es viel leichter zu Verwechslungen kommen, wenn sich Namen, Farben, Logos, Packungen oder Kennzeichnungen ähneln“, weiß Scheidegger. Dass der Griff zum falschen Produkt fatale Folgen haben kann, braucht kaum näher erläutert werden.

Teamperformance stärken

Jede Crew im Flieger wird darauf trainiert, in Extremsituationen richtig zu reagieren. Wesentlich ist dabei der Aspekt des „gemeinsamen“ Trainings, denn: „Wenn Einzelkämpfer agieren, dann wird im Notfall auch kein eingespieltes Miteinander möglich sein. Es nützt nichts, wenn der Handgriff beim Einzelnen sitzt, aber das Zusammenspiel mit Kollegen im OP nicht funktioniert. Auch ein Flugzeug wird vom Piloten gesteuert, aber ohne den Support durch die Crew würden sich keine Türen verriegeln oder Passagiere anschnallen. Ebenso ist es im OP. Hier kann ein noch so guter Arzt nicht alleine für sich agieren“, vergleicht Scheidegger die Berufsgruppen und plädiert für die teamorientierte medizinische Simulation. Teamleistungen stehen im Vordergrund, da der Einzelne aufgrund der hohen Spezialisierung gar nicht in der Lage ist, alle erforderlichen Leistungen – etwa während einer Operation – alleine zu erbringen. Gerade unter dem Aspekt „mehr Effizienz und weniger Kosten“ wird das menschliche Verhalten im Team ausschlaggebend für die Sicherheit im System. Bereits in den 90er-Jahren haben Fluggesellschaften, wie etwa die Swissair, in die teamorientierte Schulung investiert. Waren es ursprünglich nur die Mitglieder im Cockpit, war schnell klar, dass alle Mitarbeiter „an Bord“ geholt werden mussten. Mehrere zentrale Aspekte für Teamschulungen haben sich dabei herausgestellt: Sie müssen verhaltensorientiert, interdisziplinär und hierarchieübergreifend sein und die Praxis vor die Theorie stellen.
Derartige Trainings stehen auch für die Medizin zur Verfügung, werden aber noch viel zu selten auch ausreichend „interdisziplinär“ genutzt. So wurde etwa im Oktober 2009 am Landesklinikum Hochegg in enger Kooperation mit dem Landesklinikum Wiener Neustadt und dem NÖ Gesundheits- und Sozialfonds das NÖ Zentrum für Medizinische Simulation und Patientensicherheit eingerichtet. Das Zentrum widmet sich in erster Linie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Einfluss von „human factors“ auf die Sicherheit in der Patientenbehandlung. In interdisziplinären und interprofessionellen Teams mit Ärzten und Pflegepersonen wird richtiges Verhalten in kritischen Situationen trainiert.

Was Piloten noch beachten …

Piloten und ihre Crew machen nicht nur regelmäßiges „skills training“, sie akzeptieren auch fixe Arbeitszeiten und arbeiten dann nicht, wenn sie „unfit to fly“ sind. „Für viele Ärzte ist das undenkbar und wir wissen selbst, wie oft wir müde, gestresst sind und nach langen Diensten noch mit Patienten arbeiten“, so der Schweizer Experte. Dass diese Diskussion weit über das medizinische Fachwissen hinaus in Fragen der Krankenhausorganisation und Standespolitik hineinspielt, macht die Dimension des Themas deutlich.
Piloten kennen ihre Arbeitsabläufe sehr genau, dennoch ist es unabdingbar, vor dem Start mithilfe von Checklisten zu prüfen, ob auch wirklich kein Punkt vergessen wurde. Reiner Zeitverlust? Mitnichten, denn die Methode ist kostengünstig, extrem wirkungsvoll und braucht – richtig eingesetzt – kaum mehr als einige Minuten Zeit. Checklisten bieten dazu einerseits die Chance auf einen Informationsfluss, andererseits können damit auch hierarchiebedingte Kommunikationsbarrieren überwunden werden, die es im Ernstfall so schwierig machen, sachlich, rasch und ohne Missverständnisse zu handeln. In vielen OPs hat sich strukturiertes Abarbeiten anhand von Checklisten, oder auch „Team Time Out“ genannt, vor und nach der Durchführung eines Eingriffs bereits etabliert. Keine wie auch immer geartete Checkliste kann alle denkbaren Gefahren vorweg eliminieren, aber sie schaltet jene Unzulänglichkeiten aus, die als selbstverständlich hingenommen werden oder durch „einfaches Vergessen“ in stressigen Situationen auftreten können – stimmt die Blutgruppe, ist es der richtige Patient für den richtigen Eingriff, wurden Allergien und Infektionen abgeklärt?

Wo bleiben „sterile OP-Regeln“?

So sehr eine reibungslose Kommunikation im Team wünschenswert ist, so ablenkend kann sie etwa während einer OP-Vorbereitung sein. Zum Vergleich wieder die Situation im Flieger: „Als ‚sterile cockpit rule‘ ist während dem Starten und dem Landen ausschließlich ‚arbeitsbezogene‘ Konversation erlaubt. Und im OP? Manche Kollegen kennt man kaum beim Namen, neben Handy, Pager und Privatgesprächen läuft das Radio und werden Urlaubspläne diskutiert …“, gibt Scheidegger abschließend zu bedenken.