Keine halben Sachen

Versorgungssicherheit ist in den letzten zwei Jahren zu einem häufig gebrauchten Schlagwort im Gesundheitswesen geworden. Als typische „Querschnittsmaterie“ umfasst das Thema viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Und genau das macht es schwer, den Begriff und seine Inhalte fassbar zu machen. Ein Umstand, den die AUSTROMED zum Anlass genommen hat, einmal mehr Klarheit zu fordern. Denn bei fehlender konkreter Begriffsbestimmung können auch keine Versorgungsziele oder -strategien erarbeitet werden. Ein Prozess wurde initiiert, um mit Entscheidungsträgern aus Spitälern, den Ländern, der Bundespolitik und Vertretern von Gesundheitsberufen und Patienten die wichtigsten Eckpunkte abzustecken. In einem „Weißbuch Medizinprodukte“ sind die Forderungen und Standpunkte zusammengefasst. Gespräche mit Stakeholdern folgten, sie sind in den Ausgaben 2/2021 und 3/2021 von DAS MEDIZIN­PRODUKT abgebildet. Das Ergebnis der Bemühungen ist seit Kurzem noch deutlicher sichtbar: Eine abgestimmte Definition mit der Österreichischen Gesundheitskasse liegt vor und lautet wie folgt: „Versorgungssicherheit in Bezug auf Medizinprodukte bedeutet die stetige, kurz- wie langfristige, unterbrechungs­freie Versorgung der (österreichischen) Bevölkerung mit ausreichend und qualitativ ihren Einsatzzweck erfüllenden Medizinprodukten.“

Proaktiv handeln

In der akuten Phase der Krise hat das langjährige Erfahrungs- und Systemwissen der Medizinprodukte-Branche dem heimischen Gesundheitssystem große Vorteile gebracht. Insgesamt ist die Branche aber nicht in ausreichendem Maße in eine Versorgungs- und Krisenplanung eingebunden. Das soll sich in Zukunft ändern: „Mit Beginn der Krise in Österreich gab es eine gute Vernetzung der Industrie, der prüfenden Stellen und der ­Politik. Jetzt gilt es, diese Vernetzung zu institutionalisieren, in eine nachhaltige Form zu bringen“, fordern AUSTROMED-Präsident Gerald Gschlössl und AUSTROMED-Geschäftsführer Mag. Philipp Lindinger. „Jetzt sind Strategien und Maßnahmen gefragt, wie der Weg dorthin aussehen kann“, ergänzt KommR Matthias Krenn, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Österreichischen Gesundheitskasse*.
Dieser Weg ist bekanntlich noch weit, denn die Abhängigkeiten von internationalen Lieferketten zu reduzieren, Lager im Land aufzubauen oder passende Notfallprodukte vorzuhalten, benötigt einen guten Plan, Vorlaufzeit und letztendlich Geld. Während die Pandemie noch in vollem Gange ist, kommen diese Überlegungen einer Operation am offenen Herzen gleich. Und dennoch: Das Thema muss besser heute als morgen angegangen werden, denn die nächste Krise kommt bestimmt. „Wir dürfen nicht nur anlassbezogen handeln, sondern müssen proaktiv tätig sein“, sind sich die drei Experten einig.

Verfügbarkeit geht über Produkte hinaus

Qualität gehört bei Medizinprodukten zum Kern von Versorgungssicherheit, denn nur wenn auch hochwertige Produkte zur Verfügung stehen, sind Patienten wirklich gut versorgt. Denn wer bei der Qualität „halbe Sachen“ toleriert, setzt mitunter das Leben von Patienten aufs Spiel. Eine stetige und unterbrechungsfreie Versorgung umfasst alle Stufen der Wertschöpfungskette und nicht nur das Produkt im engeren Sinn. „Ohne Ressourcen wie Personal, Transport oder Verteilung helfen auch die besten Produkte nichts“, weiß Gschlössl. Die AUSTROMED-Mitgliedsunternehmen konzentrieren sich darauf, diesem umfassenden Anspruch auf Versorgungssicherheit gerecht zu werden – im Regelbetrieb und in der Krise.
Damit nicht erst im Ernstfall über die Eckpunkte einer sicheren Versorgung diskutiert wird, fordert die AUSTROMED, dass etwa die Qualität oder die Lagerhaltung im Inland oder zumindest in Europa als Kriterium in Ausschreibungen einfließt. „Die vermutlich schwierigste, aber wichtigste Aufgabe ist es, den Produktionsstandort Österreich zu stärken. Dazu gehört es, Lieferketten abzusichern, strategische Reserven zu schaffen und kompetentes Personal zur Verfügung zu haben. Kurze Wege sind, wie wir gesehen haben, ein zentrales Entscheidungskriterium“, betont auch Krenn.

Schulterschluss gefragt

Die Bevorratung für Krisenzeiten kann nicht allein Sache der Industrie sein. Gemeinsame Anstrengungen aller Stakeholder sind erforderlich, um rechtzeitig und langfristig sicher planen zu können. „Es gibt bereits gute Beispiele von Ausschreibungen, die Lieferzeit und Lieferort als Bewertungskriterium mit einbezogen haben“, weiß Gschlössl und hofft auf weitere Vorstöße in dieser Richtung. „Diese Überlegungen sollte es EU-weit, national, aber bis auf die kommunale Ebene hinunter geben“, sagt Krenn und fordert die Einbindung von Branchenverbänden, Hilfs- und Blaulichtorganisationen, denn: „In der Krise haben alle die gleichen Interessen.“ Krenn sieht die Österreichische Gesundheitskasse dabei in der Rolle als Treiber dieser Idee, aber auch als Stakeholder, der auf Entscheidungsprozesse einwirken kann.
Wenn die Qualität neben der Verfügbarkeit ein Kriterium ist, so haben auch Innovationen den Stellenwert, den sie in der Versorgung haben sollen. „Es geht nicht darum, für die Bevölkerung irgendwelche Medizinprodukte zu beschaffen, sondern jene, die auch eine gesicherte Qualität aufweisen“, sind sich Lindinger und Gschlössl einig.

Gesundheitskrisen sind nicht alles

Neben der Pandemie müssen sich Medizinprodukte-Unternehmen auch auf andere mögliche Gefahren vorbereiten. Das können Naturkatastrophen, aber auch Cyberangriffe und Blackouts sein. Der Schutz kritischer Infra­strukturen muss ebenso in einen Plan zur Versorgungssicherheit Eingang finden wie die Sicherstellung von Lieferketten. „Wir müssen insgesamt als Land und als Versorger mit Produkten und Leistungen für das Leben der Menschen resilienter werden“, wünscht sich Krenn.
Die Datensicherheit ist ein zentrales Thema in diesem Zusammenhang. Viele Medizinprodukte oder High-End-Krankenhaustechnik arbeiten vernetzt – fehlen Daten oder sind nicht zugänglich, kann auch die Versorgung der Patienten nicht mehr aufrechterhalten werden. Um hier Ängste und Unsicherheit in der Bevölkerung abzubauen, gilt es, transparent und umfassend zu informieren. „Das erhöht jedenfalls das Vertrauen und schafft Stabilität und Sicherheit in Krisenzeiten“, so Krenn. Auch hier sollte Österreich keine Insellösungen forcieren, sondern europäische Plattformen schaffen.

* ab 1.1.2022