Notfallmedizin: Organ-Organ-Interaktionen

Eine akute und chronische Niereninsuffizienz kann neben den bekannten kardiovaskulären Komplikationen zu einem breiten Spektrum an unterschiedlich stark ausgeprägten neurologischen Beeinträchtigungen führen, eine Achse, die im klinischen Alltag häufig unterschätzt wird und neben den akut lebensbedrohlichen Komplikationen zu starken Beeinträchtigungen der Lebensqualität von Patienten mit akuter oder chronischer Niereninsuffizienz führen kann.

Das urämische Enzephalopathie-­Syndrom

Die urämische Enzephalopathie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, die durch eine fortgeschrittene Niereninsuffizienz und eine Akkumulation der harnpflichtigen Substanzen hervorgerufen wird. Innerhalb von Stunden und Tagen entwickelt sich ein Symptomenkomplex, der von Müdigkeit, Apathie, emotionaler Instabilität, Schlafstörungen, Vergesslichkeit über eine neuroendokrine Dysregulation, ­Störungen der Wahrnehmung, Agitation bis hin zum Delirium, wahnhaften Zuständen, Halluzinationen, Tremor, Asterixis (Flapping tremor), Myoklonien, generalisierten Krampfanfällen und Koma reicht. Die Symptome können sich rasch entwickeln, ihre Intensität und Ausprägung ist von Patient zu Patient verschieden und häufig vom Alter und den Komorbiditäten abhängig. Die Defizite sind oft dezent und lassen sich nur in differenzierten Intelligenztests nachweisen. Veränderungen der somatosensorischen und evozierten Potenziale sind häufig, im EEG zeigen sich mit fortschreitender Erkrankung eine generalisierte Verlangsamung mit einer Häufung von Theta- und Deltawellen, zunehmend langsame sowie vorwiegend frontal lokalisierte triphasische Wellen und Spike-Wave-Komplexe.

Epileptische Anfälle

Bei einem Drittel aller Patienten mit einer urämischen Enzephalopathie treten unterschiedliche Formen von epileptischen Krampfanfällen auf – von Myoklonien bis hin zum generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall. Als Ursachen ­werden metabolische und Elektrolytstörungen sowie Subdural- und intrakranielle Blutungen hervorgerufen durch Gerinnungsstörungen und hypertone Episoden vermutet. Besondere Vorsicht ist hier bei einer Verabreichung von β-Lactam-Antibiotika, Cephalosporinen, Carbapenemen und Fluorochinolonen geboten, die einerseits selbst Krampfanfälle triggern, andererseits durch die Urämie und einen gestörten Transportmechanismus zwischen Blut und Hirn bis zur intrazerebralen Neurotoxizität akkumulieren können.

Bewegungsstörungen

Asterixis oder der „Flapping tremor“ ist die häufigste und bekannteste Bewegungsstörung bei Patienten mit metabolischen Enzephalopathien. Sie ist durch einen raschen kortikalen ­Tonusverlust charakterisiert und kann bei fortgeschrittenem Leberversagen, aber auch bei der Urämie auftreten. Ein Thiaminmangel, eine erhöhte Empfindlichkeit der Basalganglien auf eine Hypoxie, urämische Toxine und metabolische Störungen äußern sich in einer Chorea, Dysarthrie, verlangsamten Bewegungen, Rigidität, Gang- und Haltungsstörungen, Tremor, Fallneigung und Myoklonien. Die morphologischen Veränderungen lassen sich im CT durch eine bilaterale verminderte Dichte im Bereich der Basalganglien und im MRT durch hyperintense Läsionen in den T2-gewichteten Sequenzen darstellen. In der Positronen-Emissions-Tomografie zeigt sich häufig eine Reduktion im Glukose-Metabolismus in den bilateralen Basalganglien, im Frontalkortex und in der Sehrinde.

Zerebrale Ischämien

Chronische Nierenerkrankungen erhöhen das kardiovaskuläre Risiko und damit das Risiko für einen Schlaganfall oder eine transitorisch ischämische Attacke (TIA) um bis das bis zu 20-Fache. Das Schlaganfallrisiko steigt bereits bei dezenten Einschränkungen der Kreatinin-Clearance, so hat sich gezeigt, dass bereits eine Abnahme der glomerulären Filtrationsrate (GFR) von < 60 ml/min/1.73m2 mit einer Erhöhung des Risikos für zerebral ischämische Ereignisse von über 50 % assoziiert ist. Die Häufigkeit des Auftretens stiller Lacunarinfarkte ist direkt mit einem Absinken der GFR korreliert. Als Ursachen für das erhöhte kardiovaskuläre Risiko werden die renale Anämie, erhöhter oxidativer Stress, Elektrolytstörungen, eine erhöhte Homocysteinkonzentration, Entzündungsvorgänge, eine gestörte Endothelfunktion und der Verlust von Antithrombin III genannt, der beim nephrotischen Syndrom besonders ausgeprägt ist. Auf der anderen Seite kommt es durch eine Plättchendysfunktion und gestörte Plättchen-Endothel-Interaktion bei Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz auch zu einer deutlich erhöhten Inzidenz von Intrazerebral-, Subdural- und Subarachnoidalblutungen.

Schlafstörungen

Studien berichten, dass über 80 % aller Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz unter verschiedenen Formen von Schlaflosigkeit, einem obstruktiven Schlafapnoesyndrom (OSAS), Restless Legs Syndrom und Tagesmüdigkeit leiden. Die Ursachen dürften einerseits in einer renalen Anämie, Hyperkalziämie und Hypoalbuminämie liegen, man vermutet außerdem direkte Auswirkungen von metabolischen Störungen und Veränderungen bei der Synthese von Neurotransmittern. Auch Lifestyle- und psychologische Faktoren wie Stress und Depressionen sowie Dialyse-Schemen, die den zirkadianen Rhythmus beeinträchtigen, können zu Schlafstörungen beitragen. Abgesehen von einer Beeinträchtigung der Lebensqualität haben sich Schlafstörungen und hier im Besonderen das OSAS als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen herausgestellt und sollten bei der Therapie bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz nicht vernachlässigt werden.

Beeinträchtigungen des peripheren ­Nervensystems

Die Polyneuropathien treten bei über 60 % der Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und besonders ausgeprägt bei Patienten mit einer diabetischen Nephropathie auf. Die genaue Ursache ist nicht geklärt, man vermutet, dass eine Akkumulation bestimmter Metaboliten direkt neurotoxisch wirkt und Elektrolytveränderungen insbesondere eine chronische Hyperkaliämie zu Störungen im Ruhe- und Aktionspotenzial und in weiterer Folge zu strukturellen Schäden an den peripheren Nerven führt. Therapieoptionen umfassen eine strikte Kaliumkontrolle und, wenn notwendig, kaliumarme Diät und medikamentöse Korrektur, die Gabe von Erythropoeitin, Biotin und verschiedenen ­B-Vitaminen. Trizyklische Antidepressiva und Antikonvulsiva können zu einer Verbesserung der Symptomatik führen. Eine Nierentransplantation kann, solange keine axonalen Schäden vorliegen, innerhalb weniger Tage zu einer vollständigen Rückbildung der motorischen und sensorischen Störungen führen.

Myopathien

Ungefähr 50 % aller Dialysepatienten leiden vermutlich an Myopathien. Sie treten ab einer glomerulären Filtrationsrate von < 25 ml/min auf und nehmen mit sinkender Nierenfunktion an Intensität zu. Myopathien äußern sich in verschiedenen Formen der Muskelschwäche und Muskelschwund und betreffen manchmal auch den Herzmuskel. Toxische Metabolite, eine Störung des Vitamin-D- und Parathormon-Haushalts, Insulinresistenz, Proteinmangel, die chronische Anämie und Störungen im mitochondralen Sauerstoffaustausch werden als Ursache vermutet. Regelmäßige aerobe Bewegung, die gezielte Therapie eines sekundären Hyperparathyreoidismus, diätische Maßnahmen und Korrektur einer chronischen Anämie werden empfohlen. Eine Nierentransplantation verbessert die Beschwerden meist innerhalb von wenigen Monaten.
Neurologische Beeinträchtigungen bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz sind häufig und fügen der Therapie einer ohnehin komplexen Erkrankung eine weitere Ebene hinzu. In vielen Fällen ist die Zusammenarbeit zwischen Nephrologen und Neurologen notwendig, um das Fortschreiten der Neuropathien zu verhindern und die Lebensqualität von Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz zu verbessern.