Chronische Nierenerkrankung: Epidemiologie und neue Risikofaktoren

In der Diagnostik und Therapie chronischer Nierenerkrankungen (CKD) haben die vergangenen zwei Jahrzehnte keine großen Fortschritte gebracht. Gründe dafür sind vor allem die komplexe molekulare Pathophysiologie und der langsame progrediente Verlauf CKD über Jahre, welcher klinische Interventionsstudien mit harten Endpunkten sehr schwierig macht. Schon vor 100 Jahren postulierte der Pionier der Nephrologie und Hämostaseologie, Thomas Addis (27. Juli 1881 bis 4. Juni 1949): „The problem with studying kidney disease is that no man lives long enough.“
CKD ist oftmals eine Folge von Diabetes und Bluthochdruck. Diese beiden Auslöser sind auch zentraler Fokus von SysKid. Gegenwärtig wird meist das Serumkreatinin als Marker für die Nierenfunktion verwendet, allerdings gelingt es mit diesem Marker nicht, Patienten in frühen Stadien der Nierenerkrankung (CKD Stadium I oder II entsprechend einer exkretorischen Nierenfunktion über 60 %) sicher zu erfassen. Darüber hinaus erlaubt die Bestimmung des Serumkreatinins im Frühstadium keine Abschätzung der Prognose. Derzeit gilt in frühen Stadien vor allem das Ausmaß der Albuminurie, besonders wenn diese über 300 mg/Tag – entsprechend 300 mg/g Kreatinin – liegt, als bester prädiktiver Marker für die Progression. Allerdings sind die Testcharakteristika (positive and negative predictive values) der Albuminurie bezüglich Progressionsrate und harte Endpunkte wie Dialysepflichtigkeit und Tod nicht sehr gut. Daher sollte die Albuminurie durch ein Panel neuer Marker und klinischer Risikofaktoren ergänzt und so die Aussagekraft verbessert werden. Das ist ein Ziel von SysKid.

Epidemiologie

Die beschriebenen Limitationen in der Diagnose der frühen Nierenerkrankung erklären auch, warum es keine guten Daten zur Epidemiologie, speziell zu den Risikofaktoren und der geografischen Verteilung der CKD in Österreich sowie in fast allen anderen europäischen Ländern gibt. In Kooperation mit dem Hauptverband (HV) der Sozialversicherungsträger wird derzeit von SysKid-Wissenschaftern die regionale Verteilung der Prävalenz und der Inzidenz der Nephropathie bei Diabetikern errechnet. Erste Daten sind in der Abbildung zu finden. Diese haben aber noch die Limitation, dass die Diagnose Nephropathie auf Basis der ICD-Kodierungen und der Medikation gestellt wurde.
Nachdem nun alle formellen und datenschutzrechtlichen Auflagen unsererseits erfüllt wurden, werden nun die pseudonymisierten Daten des HV, die keine Labordaten enthalten, mit den Daten der größten Labors in Österreich zusammengeführt, um so die tatsächlich gemessenen Albuminurie- bzw. GFR-Werte zu erhalten. Anschließend werden die Ergebnisse der anhand der Kodierung und Medikation erhobenen Daten mit den gemessenen validiert. Man muss sich bewusst werden, welche großen Datenvolumina hier analysiert werden. Alleine der Umfang des von uns verwendeten Bereichs der HV-Datenbank liegt in der Größenordnung von Terabyte! Die Prävalenz wird in dieser Querschnittanalyse als Anzahl der Patienten mit Diabetes und Nephropathie pro 100 Personenjahre errechnet.
Die Berechnung der Inzidenz, die ja einen Zeitfaktor notwendig macht, erfolgt sowohl nach einem Querschnitts- (cross-sektionellem) als auch einem longitudinalen Ansatz.

  1. Querschnitt: Die Differenz der Prävalenz von altersgleichen Kohorten der Jahre 2006 und 2007 (das sind jene, die uns zur Verfügung stehen). Wenn die Prävalenz der Nephropathie bei 60-jährigen Diabetikern im Jahr 2006 bei 8 % lag und ihm Jahr 2007 bei 8,1 %, beträgt die durch die Subtraktion errechnete Prävalenzzunahme 0,1 Prozentpunkte, was einer Neuerkrankung pro Jahr pro 1.000 Patientenjahre entspricht. Der mögliche Einfluss eines etwaigen Ära-Effekts in diesem Jahr wird noch analysiert werden, er dürfte aber vernachlässigbar klein sein.
  2. Longitudinal: Es werden jene Patienten identifiziert, bei denen erstmals im Jahr 2007 Diabetes mit Nephropathie kodiert wurde, im Jahr davor aber noch nicht.

Mit verschiedenen Sensitivitätsanalysen wird die Präzision und Robustheitsbewertung der errechneten Daten evaluiert (robustness validation). Robust bedeutet im statistischen Sinn ein stabiles Ergebnis, selbst wenn sich die Annahmen zur Population ändern. Auf europäischer Ebene sind ähnliche Projekte in den Niederlanden, Italien und Frankreich angedacht, um sowohl die Epidemiologie als auch die Therapie im EU-Raum vergleichen zu können.

Risikofaktoren

Einige Risikofaktoren für die Entstehung und die Progression der Nierenerkrankungen wie zum Beispiel Diabetes oder arterielle Hypertonie sind sehr gut gesichert, aber keiner der anderen oft angeschuldigten Faktoren – vor allem im Lifestyle-Bereich – wie Salzkonsum, proteinreiche Diät sowie Alkoholkonsum oder der so genannte sedentary lifestyle ist durch Daten belegt. Interventionsstudien wird es zu diesem Thema natürlich nicht geben, allerdings kann man viele dieser außergewöhnlich wichtigen Fragen anhand der Analysen der Daten von großen Kohorten mit detaillierter sequenzieller Erhebung dieser Parameter beantworten.
Dies ist umso wichtiger, als eine Modifikation bzw. Beratung zur Lebensstiländerung fast bei jedem Arzt-Patienten- Gespräch stattfindet. Vor dem Hintergrund der spärlichen Datenlage muss kritisch angemerkt werden, dass die meisten der manchmal sehr einschneidenden Ratschläge zur Lebensstilmodifikation jeglicher quantitativer/valider Grundlage entbehren, meist den persönlichen Vorstellungen zu Lebensstilfragen des Arztes bzw. Autors entsprechen und nicht auf objektiven Analysen beruhen.

Erste überraschende Ergebnisse von SysKid

Ein erklärtes Ziel von SysKid ist die Identifikation und Quantifizierung von Risikofaktoren für die Entstehung bzw. das Fortschreiten einer Nierenerkrankung. Dazu stehen mehrere sehr große randomisierte kontrollierte Studien (RCT) zur Verfügung. Im ersten Schritt wurden die Lifestyle-Parameter einer der größten randomisierte Studien an kardiovaskulären Risikopatienten – ONTARGET – in Hinblick auf das Entstehen und die Progression der Nierenerkrankung bei den etwa 8.000 eingeschlossenen Diabetikern (ca. 38 % der Studienpopulation) evaluiert. Anhand eines äußerst detaillierten Fragebogens waren auch Lebensstilparameter, wie z. B. Essgewohnheiten, Sport, Stress, Emotion, Schlafqualität, sexuelle Aktivität etc. erhoben worden.
Die Ergebnisse sind noch präliminär – wir haben aber sehr interessante Assoziationen, d. h. eigentlich fehlende Assoziationen gefunden.
Nach Adjustierung für die bekannten und auch analysierten (purposeful selection) Risikofaktoren Diabetesdauer, Body Mass Index (BMI), Alter, Blutdruck und RAS-Blocker-Medikation vor Studienbeginn, sind Rauchen bzw. chronisch hoher Alkoholkonsum (> 2 Drinks pro Tag) die höchsten unabhängigen Risikofaktoren für die Entwicklung bzw. Progression einer Mikroalbuminurie oder eines GFR-Verlusts sowie auch für die Gesamtmortalität. Wirklich überraschend ist, dass sich die Salzzufuhr, gemessen an der Urinsalzausscheidung, nicht als Risikofaktor für Nierenerkrankung und Mortalität erwies. Selbst dann nicht, wenn nicht mehr für den Blutdruck adjustiert wird, über den man sich ja bisher eine deletäre Salzwirkung erklärt hat. Ebenso unerwartet war der vermehrte Konsum von tierischen Proteinen mit einer niedrigeren Inzidenz und/oder Progressionsverzögerung der Nierenerkrankung assoziiert.
Weiters ist der Konsum von Früchten sowohl mit einer geringeren Inzidenz und Progression der Nierenerkrankung als auch mit geringerer Mortalität assoziiert. An pflanzlichen Proteinen und grünblättrigen Gewächsen reiche Nahrung scheint mit einem geringeren Risiko für Nierenerkrankungen assoziiert zu sein.