Editorial 02/21

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

ich freue mich, Ihnen die Sommerausgabe von neurologisch präsentieren zu dürfen!
Gleich zu Beginn ist es mir ein besonderes Anliegen, vier bedeutsame Ereignisse publik zu machen:

Zuvorderst möchte ich namens der ÖGN unserem Ehrenmitglied Univ.-Prof. Dr. Kurt Jellinger auf diesem Wege zu seinem im Mai zelebrierten 90. Geburtstag die allerherzlichsten Glückwünsche übermitteln!

Prof. Jellinger hat sich durch seine profunde Ausbildung in Neuropathologie (bei Univ.-Prof. Dr. Franz Seitelberger) und Neurologie (bei Univ.-Prof. Dr. Hans Hoff) zu einem „Leuchtturm“ der Neurowissenschaften in Österreich entwickelt. Das zeigt sich nicht nur in seinen mehr als 1.000 nachhaltig einflussreichen wissenschaftlichen Arbeiten, sondern vor allem in seinem genuin translationalen Streben nach Erkenntnisgewinn durch neuropathologische Untersuchungen für klinischen Fragestellungen und vice versa. Die Systematik und Leidenschaft seines Wirkens, gepaart mit einem enzyklopädischen neuropathophilen Wissen, begeistert über Jahrzehnte hinweg Generationen von Neuropatholog*innen und Neurolog*innen in und außerhalb Österreichs – bis zum heutigen Tag – und beeinflusste sie nachhaltig in der Entwicklung ihrer klinischen und experimentellen neurowissenschaftlichen Karrieren.

In Überschlagung der bedeutsamen Ereignisse wurde einem weiteren Pionier in neurologischer Klinik, Wissenschaft und Lehre eine sehr berechtigte große Ehre zuteil: Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, emeritierter Vorstand der Univ.-Klinik für Neurologie der Medizinischen Universität Graz, einst Präsident der ÖGN und der European Academy of Neurology, wurde das Auenbrugger Ehrenkreuz, die höchste Auszeichnung der Medizinischen Universität Graz, in einem glanzvollen akademischen Festakt im Juni verliehen. Die zu diesem Anlass gehaltene, sehr persönliche Laudatio von Univ.-Prof. Reinhold Schmidt ist in dieser Ausgabe wiedergegeben und, wenn ich das so vereinnahmend sagen darf, spiegelt unsere persönliche Anteilnahme und Freude an dieser hohen Würdigung eines großen Kollegen und Freundes von Herzen wider!

Ganz aktuell gilt es auch den bedeutsamen Erfolg von Prim. Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Peter Lackner zu würdigen: Im Juli konnte er, gemeinsam mit seinem sehr engagierten Team, die Abteilung für Neurologie an der Klinik Floridsdorf in Wien eröffnen! Sisyphos und Tantalos waren ihm Wegbegleiter in seinem nachhaltigen Bemühen der letzten Jahre, die neurologische Abteilung an diesem Standort zu verwirklichen. Daher könnten unsere Glückwünsche zu diesem Erfolg für ihn, sein Team, die Wiener und österreichische Neurologie nicht überschwänglicher sein! Diese Neueröffnung einer neurologischen Abteilung ist ein weiterer Meilenstein in der Versorgung von Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen in Österreich! Last, but not least feiert die ÖGN heuer das Jubiläum ihres 20-jährigen Bestehens. Dieser Umstand ist nicht nur der Akkumulation von Jahren seit dem Gründungssymposium im Februar 2001 geschuldet, sondern vor allem der Wahrnehmung und Würdigung der rasanten und unglaublichen Fortschritte unseres Faches über die letzten 20 Jahre. Die Entscheidung zur Eigenständigkeit als ÖGN war – wie so manche Trennungen – nicht trivial, aber – wie sich über die nachfolgenden Jahre eindrucksvoll bewies – von eminenter Bedeutung hinsichtlich der systematischen Fokussierung auf die inhaltlichen, edukativen und fachpolitischen Kernaufgaben der Neurologie. Die ÖGN ist heute eine starke und geachtete Fachgesellschaft, dank ihrer großen Anzahl neurologisch leidenschaftlicher Mitglieder, dank mehrerer Generationen von ehrenamtlich und ebenso leidenschaftlich tätigen Vorstandsmitgliedern sowie dank der exzellenten Kooperation mit den der ÖGN assoziierten Gesellschaften im gemeinsamen Ansinnen der „one voice for neurology“. neurologisch widmet dem 20-jährigen Bestehen der ÖGN eine Artikelserie. Diese beginnt in der Ihnen vorliegenden Ausgabe mit einem Bericht von Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli, dem letzten Vorsitzenden der Sektion Neurologie der vormaligen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie, zur Entstehungsgeschichte der ÖGN, gefolgt von den Erinnerungen des ersten Präsidenten der ÖGN, Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold. In den nachfolgenden Ausgaben von neurologisch setzt sich die Serie mit Artikeln zu „Sternstunden der Neurologie“ fort. Hierfür wurden alle ehemaligen ÖGN-Präsident*innen, alle ÖGN-Arbeitsgemeinschaften und alle ÖGN-assoziierten Gesellschaften eingeladen, die neurologischen Highlights der letzten 20 Jahre aus dem Blickwinkel ihres spezifischen Interessen- und Wirkbereichs zusammenzufassen.
Der diesmalige Schwerpunkt der Ausgabe beschäftigt sich mit der Vorstellung der Europäischen Referenznetzwerke zu „Rare Neurological Diseases“ und „EpiCARE“. Die beiden Editoren, Univ.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Sylvia Bösch und Univ.-Prof. Dr. Eugen Trinka, haben als Pioniere und Proponenten der Referenznetzwerke in Österreich ausgezeichnete Beiträge namhafter Expert*innen zusammengestellt. Den Anfang des Themenschwerpunktes macht Univ.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Sylvia Bösch mit der Vorstellung der Prinzipien eines Referenznetzwerkes und implizit der komplexen Organisation und umfassenden Aktivitäten des Zentrums für seltene Bewegungsstörungen an der Univ.-Klinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Dieser Übersicht folgt ein Update zur Klinik und Genetik bei Dystonien. Es wird dabei deutlich hervorgehoben, dass sich die Diagnose Dystonie von einer früher rein klinischen Beschreibung der Phänomenologie zu einer Klassifikation entwickelte, basierend auf der Identifikation pathogenetisch und klinisch relevanter Gene. Für die Routine sehr hilfreich sind die Handlungsempfehlungen hinsichtlich des aufwändigen und daher umso gezielter zu indizierenden Whole Genome Sequencing im individuellen Verdachtsfall. Das nächste Autor*innenteam (Dr. Elisabetta Indelicato, Dr. Sarah Runer, Priv.-Doz. Dr. Matthias Baumann und Dr. Wolfgang Nachbauer) erklärt das phänotypische Spektrum von CACNA1A-Mutationen, die zu den häufigsten Ursachen von genetisch bedingten paroxysmalen Bewegungsstörungen gehören. CACNA1A-Mutationen betreffen spannungsabhängige Kalziumkanäle vom P/Q-Typ; beispielgebende Erkrankungen sind die familiäre hemiplegische Migräne Typ 1, die sogenannte „epileptische Enzephalopathie“ und die nichtepileptischen paroxysmalen Ereignisse des Kindesalters. Der Beitrag von Dr. Andreas Eigentler und Dr. Wolfgang Nachbauer beschäftigt sich dann mit der sehr heterogenen Gruppe spät beginnender Ataxien im Erwachsenenalter, die sporadisch (z. B. Multisystematrophie vom zerebellären Typ), erworben (z. B. toxische, metabolische oder paraneoplastische Ursachen) oder hereditär (z. B. bei spinozerebellärer Ataxie Typ 6, CANVAS oder Fragiles-X-assoziiertem Tremor-Ataxie-Syndrom) auftreten können. Ausführlich wird im nächsten Artikel EpiCARE, das Europäische Referenznetzwerk für seltene und komplexe Epilepsien, durch Univ.-Prof. Dr. Eugen Trinka in seinen Grundsätzen dargestellt. Anhand der etablierten Kooperation zwischen den EpiCARE-Zentren an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (Salzburg; mit der Univ.-Klinik für Neurologie als Epizentrum) und dem Spezialbereich für erweiterte neuropädiatrische Epilepsiediagnostik der Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der Medizinischen Universität Wien werden die enorme Vernetzung und kooperativen Aktivitäten aller beteiligten Wirkbereiche eindrücklich aufgezeigt und dazu besonders hervorgehoben, dass die/der betroffene Patient*in im Zentrum der holistischen Herangehensweise für die Diagnostik und Betreuung steht. Darüber hinaus wird auch – ganz im eigentlichen Sinne eines Netzwerks – betont, dass EpiCARE seine Expertise nicht nur im Rahmen persönlicher, sondern auch virtueller Konsultationen anbietet, um die heimatortnahe Versorgung durch Neurolog*innen weiterhin für Betroffene zu gewährleisten. Im nächsten Beitrag widmen sich Dr. Birgit Pimpel und Univ.-Prof. Dr. Martha Feucht den umfassenden klinischen Tätigkeiten und damit verbundenen differenzialdiagnostischen, aber auch organisatorischen Herausforderungen anhand des pädiatrischen Epilepsiezentrums der Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der Medizinischen Universität Wien. Am Beispiel der tuberösen Sklerose wird sehr klar dargestellt, wie das Bündeln von Ressourcen zum Erfolg bei der erweiterten Diagnostik und Behandlung betroffener Patient*innen erheblich beiträgt. Nachdem es kaum einen Bereich in der Neurologie gibt, in dem sogenannte „seltene Erkrankungen“ eine größere Rolle spielen als bei Epilepsien bzw. Erkrankungen mit dem Leitsymptom epileptischer Anfälle, befassen sich auch die nachfolgenden drei Artikel mit dieser Gruppe seltener Erkrankungen. Dr. Alexandra Rohracher, Dr. Matthias Mauritz, Dr. Martin Krenn und Univ.-Prof. Dr. Fritz Zimprich fassen die genetisch bedingten Epilepsiesyndrome (bzw. jene seltenen Syndrome, die Epilepsie als Leitsymptom zeigen) zusammen. Das Augenmerk der Leser*innen möchte ich hier auf eine Abbildung lenken, welche die Heterogenität und Komplexität genetischer Epilepsiesyn­drome sehr anschaulich illustriert. Für uns Neurolog*innen, die sich stets an Fallberichten delektieren, sind auch drei beispielhafte Kasuistiken angeführt. Mit metabolisch bedingten Epilepsien, im Speziellen sogenannten „mitochondrialen Epilepsien“, befassen sich im Folgeartikel Dr. Caroline Neuray und PD Dr. Celina von Stülpnagel. Die beiden Autorinnen schreiben ausführlich über die Pathogenese und Diagnostik von epileptischen Anfällen im Rahmen mitochondrialer Erkrankungen, unterscheiden hierbei zwischen syndromalen und nichtsyndromalen Manifestationen und detaillieren das Leigh-Syndrom, das Alpers-Huttenlocher-Syndrom, MELAS und MERRF. Nach den metabolisch bedingten folgen nun die immunmediierten Epilepsien. Dr. Fabio Rossini und Univ.-Prof. Dr. Romana Höftberger machen gleich eingangs klar, dass es eine Unterscheidung zwischen epileptischen Anfällen bei multisymptomatischer Autoimmunenzephalitis und tatsächlich immunmediierten Epilepsien gibt. Die Entwicklung und routinemäßige Verfügbarkeit von Methoden zur entsprechenden Antikörperdiagnostik führte über die letzten Jahre zu einer Zunahme der Diagnosen und des Spektrums von Autoimmunenzephalitiden. Im Detail werden klinische, diagnostische und therapeutische Aspekte von Autoimmunenzephalitiden mit Antikörpern gegen Oberflächen- (u. a. NMDAR, AMPAR, GABABR, LGl1, CASPR2, GlyR) bzw. intrazellulären Antigenen (u. a. Hu, Ri, GAD65, Amphiphysin) beschrieben. Abgeschlossen wird dieser Themenschwerpunkt mit einer – ganz im Sinne der oben genannten Patient*innenzentriertheit – Beschreibung der Tätigkeit und Ziele des Epilepsie Dachverbandes Österreich (EDÖ) durch Mag. Michael Alexa, Präsident des EDÖ, und Liselotte Kastl-Soldan, Leiterin der EDÖ-Geschäftsstelle.

Jenseits des beschriebenen Themenschwerpunktes können Sie sich über ein Qualitätssicherungsprojekt aus dem Österreichischen Schlaganfallregister informieren. Priv.-Doz. Dr. Julia Ferrari und Univ.-Prof. Dr. Michael Knoflach berichten zu dem Projekt „Vorhofflimmern bei kryptogenem Schlaganfall oder embolischem Schlaganfall unklarer Genese“, welches in Kooperation mit der Österreichischen Schlaganfallgesellschaft, der Österreichischen Kardiologischen Gesellschaft und der Gesundheit Österreich GmbH durchgeführt wird. Mit dem Thema Schlaganfall befasst sich auch die Zusammenfassung eines jüngst publizierten Artikels von Univ.-Prof. Dr. Thomas Gattringer und Univ.-Prof. Dr. Christian Enzinger zur Schlaganfallversorgung in der Steiermark während und nach der ersten COVID-19-Pandemiewelle.

Aktuelle und praxisrelevante Informationen bieten wie immer die interessanten Beiträge aus den einzelnen Arbeitsgruppen zu speziellen neurologischen Erkrankungen, beispielsweise neue Erkenntnisse zu Risikokonstellationen für die Alzheimer-Erkrankung, Lewy-Körperchen-Demenz, Palliativmedizin und COVID-19, Restless-Legs-Syndrom bei Multipler Sklerose, Migräne bei Über-50-Jährigen, Bayes’sche Interferenz und das prädiktive Gehirn als Modell für die Neuropsychosomatik.

Die vorliegende Ausgabe von neurologisch zeugt wieder einmal von der faszinierenden und wachsenden Vielfalt neurologischer Erkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter. Ich hoffe, dass Sie, geschätzte Leser*innen, trotz (oder wegen) Ihres wohlverdienten Urlaubs Zeit zum intensiven Lesen oder einfach nur zum Schmökern (nicht nur in der neuesten Ausgabe von neurologisch) finden werden!

Herzliche Grüße

Ihr