Corona als Adhärenzproblem

Ursprünglich wurden in dem Gebäude in der Neustiftgasse im 7. Wiener Gemeindebezirk Lampenschirme und andere Produkte aus Drähten hergestellt und angeboten. Ende der 1990er-Jahre stand die Drahtwarenhandlung dann mehrere Jahre leer. „Dann stieß ein Schul- und Studienfreunde-Trio bei der Suche nach einem geeigneten Standort zur Firmengründung darauf. Mit dem Gedanken an die Erfüllung eines gemeinsamen Jugendtraums, dazu zusätzlich ein Restaurant betreiben zu können, wurde das beklagenswerte Gemäuer rundum renoviert und saniert und ein Jahr später eröffnet“, heißt es auf der Website der „Drahtwarenhandlung“. Heute werde dort „gekocht, geschnitten, gedreht, animiert und designt, Daten werden visualisiert, entwickelt, simuliert und analysiert, es wird programmiert, experimentiert, philosophiert und Kaffee getrunken“. Betreiber des Lokals sind Niki Popper, Michael Landsiedl und Thomas Peterseil. Zusammen mit einem anderen in der Neustiftgasse angesiedelten Unternehmen – dem TU-Spin-off dwh GmbH – unterstützen sie derzeit die Gesundheitspolitik.
Genauer gesagt: die Einschätzung der aktuellen Corona-Situation. Das Team analysiert, berechnet, modelliert und simuliert gemeinsam mit anderen Forschungsgruppen große Datenmengen, um so die Grundlagen für Entscheidungen zu liefern. Auch wenn Popper und sein Team erst seit dem Frühjahr einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind – die Frage der Simulation komplexer Inhalte beschäftigt sie schon lange. Die mediale Aufmerksamkeit sei durchaus eine Herausforderung, die auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisweilen anstrengend finden, berichtet Popper im Interview: „Etwa wenn man Mails bekommt, dass man an den Folgen der Einschränkungen schuld sei.“

Auswirkungen von Gesundheits­interventionen berechnen

Seit der Gründung der dwh GmbH vor mehr als zehn Jahren liegt einer der Schwerpunkte auf dem Gesundheitsbereich. Die Lösungen reichen von der Impfstoffevaluie­rung über Kosteneffektivitätsanalysen von Medikamenten bis zur Bedarfsplanung von Leistungen und Ressourcen in Krankenhäusern. „Wenn man die Auswirkungen von Gesundheitsinterventionen berechnet, hat man immer mit Zahlen zu tun – mit vielen Zahlen“, erzählt Popper. Das sei nicht neu. Es werde jeden Tag in vielen Bereichen des Gesundheitswesens entschieden, was bezahlt wird und was nicht und welche Maßnahmen grundsätzlich gesetzt werden. „Wir leben in einer Welt, in der Krebstherapien sechsstellige Kosten hervorrufen und Psychotherapie für Kinder ein paar Hundert Euro. Die Entscheidungsträger legen laufend fest, was bezahlt wird und was nicht, wer was bekommt.“ Ein anderes Beispiel? „Krankenhäuser bestehen wie Flughäfen oder Bürogebäude nicht nur aus Räumen und Anlagen, sondern auch aus Personenströmen sowie Energie- und Materialflüssen.“

Nicht alle wollen Transparenz

Das ist einer der Gründe, warum Popper und sein Team bis zum Frühjahr auch nur Insidern bekannt waren. „Wir schauen jetzt alle auf die Welt und sagen: ‚Es kann ja nicht sein, dass man nicht weiß, wie viele Spitalsbetten verfügbar sind.‘ Wir sind heute gewohnt, dass alles digitalisiert und auf Knopfdruck zu haben ist.“ Die Welt funktioniere aber anders, sagt Popper: „Irgendwo ist ein Spital und jemand vor Ort weiß, was er zu tun hat und wie viele Betten er hat. Menschen sind gewohnt, mit ihren Ressourcen umzugehen.“ Im Normalfall wolle aber niemand sagen, wie viele Betten oder andere Ressourcen er hat. Es könnte ja jemand kommen und diese umverteilen, einsparen, ausbauen oder anders nutzen wollen. „Es gibt hinreichend viele Menschen, die nicht immer wollen, dass die Dinge transparent sind. Wir kennen das aus vielen Bereichen des Gesundheitswesens.“ Es gebe viele Forschungsgruppen, die sich mit Outcome Research beschäftigen. Simulationen seien dabei hilfreich. In der Praxis genutzt würden sie aber meist nur, wenn die Betroffenen daraus auch einen Nutzen ziehen. Erfreulicher-weise passiert aber im Forschungsbereich sehr viel – speziell durch Kooperationen.
„Wir haben beispielsweise ein Tool entwickelt, wie man an Universitäten Raumressourcen optimal nutzen kann, sodass man weniger Energie und Ressourcen braucht. Das will aber im Normalfall keiner, weil aufgrund der Strukturen niemand Anreize dafür hat, Ressourcen optimal einzusetzen. Das ist kein Fehlverhalten von Menschen, sondern eine Fehlfunktion in der Systemdynamik.“ Die Bundesimmobiliengesellschaft will etwa möglichst viel Fläche vermieten, Institute wollen möglichst viele Fenster und Büros haben. Professoren wollen den Vorlesungsraum möglichst nahe bei ihrem Büro haben und Studierende wollen andere Annehmlichkeiten. „So ist es im Gesundheitswesen meistens auch: Man müsste sich überlegen, wo für alle Beteiligten der Vorteil liegt, wenn man Ressourcen schlauer verwendet“, schildert Popper.
Deshalb versucht das Team, die Vorteile sichtbarer zu machen. „Daten bilden Muster. Daraus erkennen wir, wo es Abweichungen gibt und wo Regelmäßigkeiten, wo Musterunterbrechungen auftreten und wo Gleichklang herrscht. Dazu nutzen wir aktuellstes Wissen der künstlichen Intelligenz und neueste Methoden der Modellierung und Simulation.“ In der dwh arbeitet ein erfahrenes Team von Experten aus den Gebieten Simulation, Artificial Intelligence, Mathematik und Data Science. Dazu kooperiert man mit Partnern aus dem universitären und dem universitätsnahen Bereich sowie mit regierungsnahen Organisationen. Popper ist etwa Koordinator des interfakultären Zentrums „Computational Complex Systems“ der TU Wien und hat dort das Master College für angewandte Modellierung, Simulation und Entscheidungsfindung mitentwickelt. Er hat rund 150 Artikel und Vorträge in Fachzeitschriften und bei internationalen Konferenzen veröffentlicht sowie zahlreiche Forschungsprojekte initiiert und koordiniert. Zudem ist er Vorsitzender der Forschungsplattform DEXHELPP. Diese wurde als COMET Initiative 2014 gegründet (gefördert durch die FFG und die Gemeinde Wien), in der Universitäten, KMUs und Gesundheitssystem zusammen- arbeiten und die sich mit der effizienten und sicheren Nutzung von Daten für die Entscheidungsfindung in Gesundheitssystemen beschäftigt.

Neue Generation digitaler Tools

In einer internationalen Forschungspartnerschaft entwickelt man derzeit etwa mit dänischen Experten eine neue Generation digitaler Tools für das Gesundheitswesen, die auf kontextsensitiven, algorithmusgetriebenen Plattformen basieren. Das von der EU kofinanzierte Projekt zielt darauf ab, Patienten mit Rheuma dabei zu helfen, ihre chronische Autoimmunerkrankung selbstständig managen zu können, und die Zusammenarbeit zwischen Patienten und Gesundheitspersonal weiter zu verbessern. Durch eine kontinuierliche, kostenschonende und zeitnahe Unterstützung der Patienten soll deren Lebensqualität verbessert und eine personalisierte Behandlung ermöglicht werden. Dabei werden mit Kollegen der MUW Wien und aus Deutschland wiederum auch die Effekte und der Erfolg gemessen und analysiert.

Szenarienrechnungen im ­Gesundheitsbereich

Mit dem Gesundheitsverbund Wien und der NÖ Landesgesundheitsagentur arbeitet die dwh ebenfalls zusammen und berät diese mit Szenarienrechnungen im Hinblick auf Normal- und Intensivbetten-Belagszahlen und die COVID-19-Krise. Das hat letztlich auch dazu geführt, dass man seit März 2020 Mitglied des von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) koordinierten COVID-19-Prognosekonsortiums ist, in dem Prognosen für Fallzahlen und Spitalskapazitäten erstellt werden.
Der Ansatz, die Ausbreitung von Krankheiten mithilfe von Mathematik einschätzen und letztlich verhindern zu können, ist an sich nicht neu. Der Schweizer Mathematiker und Physiker Daniel Bernoulli veröffentlichte bereits 1760 ein mathematisches Modell zur Ausbreitung der Pocken, um zu zeigen, dass eine Pockenschutzimpfung die Sterberate deutlich senken würde. Seuchen begleiten die Menschen seit Jahrhunderten. In der modernen Welt dauert es aber nicht mehr Jahre, bis sich eine Seuche auf der Welt verbreitet. COVID-19 hat gezeigt, dass sie innerhalb von Tagen überall sein kann. Als die ersten Fälle in China gemeldet wurden, war das Virus, wie man heute weiß, bereits in anderen Teilen der Welt angekommen.

Kein typischer Nerd

Popper hat sich immer schon dafür interessiert, wie Systeme funktionieren. Und er vermittelt sein Wissen nicht nur aktiv der Öffentlichkeit, sondern kann es als Firmengründer auch anwenden. Studiert hat er technische Mathematik – eine der wohl herausforderndsten Studienrichtungen. Von etwa 200 Studienanfängern steigen im ersten Semester 30% aus – pro Jahr schließen nur 60 Studierende ab. Popper war ab 1999 als Daten- und Wissenschaftsjournalist beim ORF tätig. Als Bindeglied zwischen TV-Nachrichtensendungen und der Grafikabteilung visualisierte er beispielsweise Ereignisse in 3-D-Modellen. Schließlich schlug er den Weg in die Selbstständigkeit ein, mit TV-Produktionstätigkeiten für Sendungen wie „Nano“ oder „Newton“. Eine eigene Firma, die drahtwarenhandlung – Landsiedl Popper OG, hat sich auf Filmproduktionen und Animationen für Kunden wie ORF, ZDF, 3sat, aber auch Unternehmen spezialisiert. Das Ziel: komplexe Sachverhalte zu vereinheitlichen und dennoch korrekt wiederzugeben.
Ein sprichwörtlicher Nerd ist Popper aber nicht, studierte er doch aus Interesse auch Philosophie – mit Schwerpunkten auf ­Wittgenstein sowie Platon, Hobbes und Locke und der Frage, wie Staatssysteme funktionieren – und Jazztheorie. Beide allerdings „erfolglos“ ohne Abschluss, wie er betont. Saxofon spielt der Vater von zwei Kindern nur noch selten. Aber er kocht ­gerne – mit dem Geschäftspartner, dem ­Mechatroniker Michael Landsiedl, im eigenen Lokal durchaus auch um die Wette. Zudem lädt man unter dem Titel „Bei Vino Veritas“ regelmäßig zu populärwissenschaftlichen Abenden, bei denen sie komplexe Themen meist mit mathematischem Hintergrund einfach und humorvoll erklären. All das natürlich nur, wenn COVID-19 nicht im Wege steht – aktuell sind diese Aktivitäten auf Eis gelegt. „Aber hoffentlich nicht mehr lange“, wie Popper meint.

Corona-Pandemie: Diskurs ­sinnvoll, aber auch verunsichernd

Die Schwierigkeiten, die Corona-Pandemie zu managen, liegen für Popper in der Struktur des Gesundheitswesens an sich und in den Entwicklungen der vergangenen Jahre. Es gehe um die Frage, wie Daten im System erhoben werden, und um Adhärenz: „Wie schaffen wir es in so einer komplizierten Situation, dass Menschen, die möglicherweise gar nicht betroffen sind, sich an Maßnahmen beteiligen?“ Adhärenz beschäftige die Stakeholder im System andauernd und sei einer der wichtigen Faktoren, warum viele Therapien nicht funktionieren. „Wir kennen aus vielen Analysen von Therapien, dass Menschen, die selbst betroffen sind, nach einer gewissen Zeit nicht mehr bereit sind, Medikamente zu nehmen oder Übungen zu machen. Wenn etwa die Rückenschmerzen vorbei sind, lassen Übungen nach. Oder denken Sie an die Nebenwirkungen von Medikamenten, die oft der Grund dafür sind, dass Arzneimittel abgesetzt werden“, erläutert Popper. All das sei nicht ein Problem der Menschen, sondern des Gesundheitssystems, das noch keinen Weg gefunden hat, die Notwendigkeit der Maßnahmen sinnvoll zu vermitteln. „Wir sollten also rauskommen aus der Debatte: ‚Die sind schuld und machen Party‘.“
Das sei allerdings ein Thema für „schlauere Menschen, die über Ressourcen reden“, gibt sich Popper bescheiden. Er versuche zu erklären, wie sich bestimmte Interventionen auswirken. Dass sich bei der Frage der Ressourcen, aber auch der Einschätzung der Pandemie auch Experten nicht einig sind, sei normal. „Wir erleben derzeit eine Vielfalt an Expertenstimmen. Dieser Diskurs macht Sinn, verunsichert die Menschen aber auch. Wir müssen lernen auszuhalten, dass es verschiedene Stimmen gibt.“ Nachsatz: „Und man muss aufpassen, dass man sich da selbst nicht zu wichtig nimmt. Man muss schauen, dass jeder Schuster bei seinen Leisten bleibt.“