Compliance aus der Sicht einer Study Nurse

Warum reden wir überhaupt über Compliance (Therapietreue, Einhaltung der empfohlenen Medikationseinnahme) bei den PatientInnen? Es geht hier doch vor allem um erwachsene, selbstverantwortliche Menschen. Wenn sie nicht das tun, was ihnen die Ärztin/der Arzt empfiehlt, ist das allein ihr persönliches Problem – könnte man meinen.
Versuchen wir aber eine gesamtgesellschaftliche Sichtweise. Vergessen wir nicht, dass theoretisch jeder von uns die/der Betroffene sein könnte. Spätes – tens dann hätten wir alle gerne ein funktionierendes Gesundheitssystem samt einer optimalen evidenzbasierten Therapie und diese hängt nun einmal maßgeblich mit der Compliance jeder einzelnen PatientIn zusammen. Wie soll man zu aussagekräftigen wissenschaftlichen Daten kommen, wenn die Hälfte der Medikamente in der Toilette landet? (Auf den nicht zu vernachlässigenden Schaden für die Umwelt, der dabei entsteht, möchte ich hier gar nicht erst eingehen.) Die zweite Frage, die sich möglicherweise stellt, ist: Warum ist das Thema Compliance aus der Sicht einer Study Nurse ein besonderes? Was sind denn deren Aufgaben? Im Vordergrund steht die Aufgabe der Betreuung der PatientInnen, die an klinischen Studien teilnehmen.
Und was ist wiederum so bedeutsam an klinischen Studien? Schon Hippokrates hat gesagt, dass die Erfahrung alleine eine gefährliche Lehrmeisterin ist. Wir alle wissen, wie oft es zu einem Paradigmenwechsel in der Wissenschaft kommt, so auch in der Medizin. Vor noch nicht all zu langer Zeit galt der Aderlass als die Allheilmethode. Heute kommt uns das absurd vor.

Vorurteil bei StudienpatientInnen: „Was nichts kostet, ist nichts wert!“

Was ist aus meiner Sicht notwendig, um die Compliance zu verbessern? Bei einer Study Nurse laufen all die (Behandlungs)fäden zusammen und es ist eine ihrer Aufgaben, diese für PatientInnen so aufzubereiten, dass es zu keiner Verunsicherung kommt und der/die PatientIn sich gut aufgehoben fühlt.
Es ist notwendig

  1. sich bewusst zu sein, dass man nicht NICHT kommunizieren kann. Auch wenn man nicht redet, vermittelt man den PatientInnen sehr viel. Ein Beispiel: Wenn ich ihr/ihm eine wichtige Mitteilung machen muss und gleichzeitig daneben telefoniere, wird die/der PatientIn das merken und sich innerlich entfernen – die Compliance sinkt.
  2. authentisch zu sein in den Worten, den Taten, der Erscheinung und der Ausstrahlung;
  3. den Patienten als Ganzes zu sehen, nicht nur als ein „krankes Organ“. Dazu fällt mir immer die Geschichte vom Indianer ein, der zum ersten Mal mit dem Auto fährt. Nach nur einem Kilometer bittet er den Fahrer stehen zu bleiben. Als ihn dieser fragt, warum, antwortet der Indianer: „Meine Seele ist noch nicht nachgekommen.“
  4. vorurteilsfrei zu sein und das Gleiche beim Patienten zu fördern. Bei den klinischen Studien/Prüfungen haben wir oft das Problem, dass die Medikamente dafür bereitgestellt werden müssen und die PatientInnen glauben, wenn die Behandlung nichts kostet, nicht mal die Rezeptgebühr, dann kann sie nicht gut sein – nach dem Motto „Was nichts kostet, ist nichts wert“. Nur die Aufklärung, warum das so ist, kann einer solchen Einstellung vorbeugen.
  5. viel zu wissen. Denn ohne gute Kenntnisse der Materie wird man nicht authentisch sein können.
  6. dass alle Mitglieder eines Behandlungsteams zusammenarbeiten. Und dann ist es wichtig, die anfangs erreichte Vertrauensbasis laufend zu stärken, den PatientInnen das Gefühl zu geben, dass sie/er wichtig und in ihrer/seiner Gesamtheit und Besonderheit berücksichtigt wird.

Es gibt noch viele andere Gründe, warum es an Compliance mangelt und sie sind nicht alle beim Arzt oder bei der Study Nurse zu suchen. Da spielen viele andere Faktoren eine Rolle, wie das soziale Umfeld, die Persönlichkeitsstruktur und noch einige andere, je nach Individuum.

Ein Schnellrezept zur Compliance-Steigerung gibt es nicht. Die Lösung wäre meiner Meinung nach in einem viel größeren Kontext zu suchen:

  • sektorenübergreifender Informationsaustausch: Industrie, stationärer und ambulanter Bereich, niedergelassener Bereich, Medien, Politik;
  • Schnittstellen- und Case-Management, Etablierung der Kompetenzzentren;
  • Konfliktlösungsstrategien suchen, miteinander reden.

Ein Vorschlag wäre z. B. die Soziologie zu Hilfe zu holen und anhand der verschiedenen Modelle des Gesundheitsverhaltens Modelle zur Compliance-Steigerung zu erarbeiten.

Am Ende möchte ich dennoch in Erinnerung rufen, dass letztendlich alle sowohl für sich selbst als auch im weiteren Sinne für die Familie und die Gesellschaft Eigenverantwortung tragen. Letztlich verdanken wir es unserer Vielfalt, dass wir schließlich so eine schnelle und beeindruckende Entwicklung gemacht haben, denn irgendjemand weiß es schließlich immer noch besser.

Linus Geisler schreibt in seinem Buch „Arzt und Patient – Begegnung im Gespräch“: „Compliance ist ganz wesentlich das Resultat einer erfolgreichen Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn. Das Erzielen einer guten Compliance ist daher eine der Kernaufgaben des ärztlichen Gesprächs.“ Und ich möchte ergänzen: Diese Strategie kann noch verbessert werden, wenn die ÄrztInnen die Unterstützung eines guten Teams haben.

Eine weitere Compliance-Steigerung wäre möglich, würde die ganze Gesellschaft, würden die verschiedenen Player des Gesundheitssystems miteinander arbeiten. Ein Delegieren der Verantwortung nur auf einen Teil des Systems würde letztlich auch nur Teilerfolge verzeichnen können.