[ÖGPP 2011] Kultur, Gesellschaft und Selbsttötung

Selbsttötung als ein Ausdruck der Conditio humana ist ein ubiquitär vorkommendes Phänomen. Die nationalen Suizidraten (N/100.000 Einwohner) unterscheiden sich dagegen erheblich (Abb. 1).1, 2

Die WHO listet Weißrussland mit 35,1/100.000 als Spitzenreiter auf, gefolgt von Südkorea (31,0/100.000), Litauen (30,4/100.000), Russland (30,1/ 100.000) und Ungarn (26,0/100.000). In Europa steht Österreich derzeit mit 12,8/100.000 an 15. Stelle, Griechenland ist Schlusslicht mit 3,0/100.000. Die weltweit niedrigsten Suizidraten finden sich in muslimisch dominierten Ländern.

Im Gegensatz zu früheren Annahmen fanden sich auch bei Jäger und Sammlern und in einfachen Ackerbaugesellschaften Suizidraten zwischen 2 und 8/100.000.2

Diese Verteilungsunterschiede werden zumeist auf den Einfluss biologischer, sozialer und ökonomischer Faktoren zurückgeführt. Einflussreich wurde die bereits 1897 aufgestellte Theorie von Durkheim über den Zusammenhang zwischen Suizid und Anomie.3 Danach führt der Rückgang von religiösen Normen und gesellschaftlichen Werten zu Störungen der sozialen Ordnung. Aufgrund von Gesetz- und Regellosigkeit sei die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleistet. Dieser von Durkheim „Anomie“ genannte Zustand kann bei den davon betroffenen Individuen zu Angst und Unzufriedenheit und in der Folge zu Selbsttötung führen („anomischer Suizid“). Zwar gibt es inzwischen in der Kriminologie Fragebögen zur Erfassung von individuellem Werteverlust, auf mesound makrosozialer Ebene ist man jedoch auf indirekte Hinweise auf Anomie angewiesen. Es galt für die hier vorgestellte Untersuchung soziokulturelle Parameter zu definieren, die Hinweise auf anomische soziale Verhältnisse sein könnten. Schließlich wurden folgende Variablen in Hinblick auf einen eventuellen Einfluss auf die nationalen Suizidraten in Europa geprüft:

  • Gini-Koeffizient,
  • Human Development Index,
  • Demokratieindex,
  • Arbeitslosenrate,
  • Gefangenenrate,
  • Tötungsrate und
  • Religionsferne.

Die Hauptkomponentenanalyse zeigt, dass sich diese Variablen zu zwei Faktoren anordnen (Tab.). Faktor 1 umfasst Items wie die Gefangenen- und die Tötungsrate, die auf gewalttätiges und grenzüberschreitendes Verhalten verweisen sowie Items, die Indikatoren für den Modernisierungsgrad und die politischen Verhältnisse eines Landes sind (Human Development- und Demokratisierungsindex). Das bedeutet, je instabiler und rückständiger eine Gesellschaft ist, desto mehr Kriminalität ist anzutreffen. Faktor 2 umfasst religiöse Wertehaltungen und die Eingliederung in den Arbeitsprozess. In Staaten mit einem hohen Prozent – anteil an Personen, die der Religion fern stehen, finden sich verhältnismäßig niedrige Arbeitslosenraten.

Im nächsten Schritt untersuchten wir die Auswirkungen der einzelnen soziokulturellen Variablen auf die nationalen Suizid – raten (Spearman-Korrelationen).

Gini-Koeffizient

Der Gini-Koeffizient oder auch Gini-Index ist ein statistisches Maß, das vom italienischen Statistiker Corrado Gini zur Darstellung von Ungleichverteilungen entwickelt wurde. Der Koeffizient wird in der Wohlfahrtsökonomie als Kennzahl für die Ungleichverteilung von Einkommen oder Vermögen eingesetzt. Gini-Koeffizienten können beliebige Werte zwischen 0 (das Vermögen eines Staates ist auf alle Bewohner gleichmäßig verteilt) und 100 (das gesamte Vermögen eines Staates gehört einem einzigen Bewohner) annehmen. Je näher der Gini-Koeffizient an 100 ist, desto größer ist die Ungleichheit (z. B. einer Einkommensverteilung).

Es zeigt sich, dass gesellschaftliche Gleichheit und Ungleichheit sowohl in Ost- als auch Mittel- und Westeuropa breit gestreut sind.4 Der Gini-Index lässt sich keinen der beiden von uns errechneten Faktoren zuordnen (Tab.). Es findet sich auch kein linearer Zusammenhang zwischen der Ungleichverteilung finanzieller Ressourcen und den nationalen Suizidraten (Spearman Korrelation: ,008; n. s.) (Abb. 2).

Vor allem im oberen Bereich des Gini- Index sind die Suizidraten breit gestreut: Staaten mit einem Gini-Index von 30–35 können, wie etwa Weißrussland und Litauen, hohe Suizidraten von über 30/100.000 oder, wie Italien und Griechenland, niedrige von 4–6/100.000 aufweisen, ein interpretierbarer Trend lässt sich nicht erkennen.

Human-Development-Index

Der Human-Development-Index (HDI) der Vereinten Nationen ist ein Wohlstandsindikator für Länder.5 Er setzt sich aus drei Parametern zusammen, dem Jahresprokopfeinkommen, der Lebenserwartung bei Geburt und der Alphabetisierungsrate Erwachsener. 2010 war Norwegen mit 0,938 das am höchsten entwickelte Land vor Australien (0,937), Neuseeland (0,907) und den USA (0,902). Österreich liegt mit 0,851 an 25. Stelle. Schlusslichter waren afrikanische Länder wie Niger (0,261), die demokratische Republik Kongo (0,239) und Simbabwe (0,140). Ähnlich wie bei der Verteilung der Ressourcen findet sich in Europa zwischen den nationalen Suizidraten und dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand kein Zusammenhang (Spearman Korrelation: -,211, n. s.) (Abb. 3).

Länder mit relativ niedrigem HDI zeigen breiter gestreute Suizidraten als Staaten mit einem höheren Modernisierungsgrad. So wird für Weißrussland, Russland, Makedonien und Albanien ein HDIWert von etwa 0,8 aufgelistet. Weißrussland und Russland sind durch hohe Suizidraten von über 25/100.000 belastet, die beiden Balkanstaaten hingegen berichteten Suizidraten von unter 10/100.000. Bei Ländern am oberen Ende der Modernisierungsskala wie Spanien, Norwegen oder Island liegen die Suizidraten in einer deutlich engeren Bandbreite.

Demokratieindex

Nach Vanhanen setzt sich der Demokratieindex aus der Partizipation (Anteil der an der letzten Wahl teilnehmenden Wähler an der Gesamtbevölkerung) und dem Wettbewerbsgrad (Stimmenanteil der stärksten Partei bei der letzten Wahl) zusammen. 6, 7 Wie der HDI ist auch der Demokratieindex Teil des Faktor 1 (Tab.). Ähnlich wie beim HDI zeigt sich in Europa kein Zusammenhang zwischen dem Grad der Demokratisierung eines Staates und der nationalen Suizidrate (Spearman Korrelation: ,565; n. s.). Es gilt ähnlich wie für den Modernisierungsgrad, dass höher demokratisierte Länder eine engere Bandbreite der Suizidraten zeigen (Abb. 4).

Gefangenenrate

Die Gefangenenrate gibt an, wie viele Personen auf 100.000 Einwohner in einem Land inhaftiert sind.8 In dieser Statistik liegen die Vereinigten Staaten mit 743/100.000, gefolgt von Russland mit 582/100.000 voran. Im Vergleich dazu beträgt die österreichische Gefangenenrate 103/100.000. Die Höhe der Gefangenenrate beruht einerseits auf der realen Kriminalität in einer Gesellschaft, andererseits auf der Gesetzeslage und deren praktischer Umsetzung. In Europa findet sich ein statistisch hochsignifikanter Zusammenhang zwischen der Gefangenenrate und der nationalen Suizidrate (Spearman: ,439**) (Abb. 5).

Besonders deutlich lässt sich dies in den vormals kommunistischen Ländern Russland, Weißrussland, Ukraine und den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen erkennen.

Tötungsrate

Während die Gefangenenrate eine Aussage über die Gesamtkriminalität einer Gesellschaft trifft, gibt uns die Tötungsrate über die Häufigkeit von schweren, gegen andere Personen gerichteten aggressiven Akten Auskunft. Dementsprechend groß ist die Differenz der beiden Maßzahlen. Die durchschnittliche Tötungsrate – synonym vorsätzliche Mordrate – wird wie die Gefangenenrate und die Suizidrate in N/100.000 angegeben. El Salvador war 2009 mit 71/100.000 das Land mit der weltweit höchsten Tötungsrate, gefolgt von anderen lateinamerikanischen Staaten wie Honduras (67/100.000), Jamaika (60/100.000) und Guatemala (52/100.000). In Europa weist Litauen zurzeit die höchste, im internationalen Vergleich allerdings verhältnismäßig niedrige Tötungsrate von 7,0/100.000 auf.9 Im Vergleich dazu wird für Österreich eine Rate von 0,55/100.000 angegeben.

Hohe Tötungsraten werden ebenfalls als Indikator für instabile soziale Verhältnisse und einen anomischen Werteverlust angesehen. Tatsächlich findet sich in Europa, ähnlich wie bei der Gefangenenrate, ein statistisch hoch signifikanter Zusammenhang zwischen Tötungs- und Suizidraten (Spearman: 490**) (Abb. 6). Es handelt sich auch um dieselben, bereits erwähnten Staaten, die sowohl hohe Gefangenen- als auch Tötungs- und Suizidraten aufweisen.

Arbeitslosenrate

Die Arbeitslosenrate und der Prozentanteil an religionsfernen Menschen bilden die zentralen Bestandteile des Faktors 2 (Tab.). Arbeitslosigkeit führt häufig zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft. Die Frage, ob eine Arbeitslosigkeit mit einer erhöhten Suizidwahrscheinlichkeit verbunden ist, wird in der Literatur kontrovers diskutiert.10 Die hier verwendeten Daten wurden ebenso wie die Angaben zur Religionsferne dem jährlich erscheinenden Fischer Welt – almanach entnommen.11 Die durchschnittlichen Arbeitslosenraten liegen zwischen 1 % und 13 %, Ausreißer sind Balkanstaaten wie Serbien mit 19 % und Makedonien sowie Bosnien mit über 30 %. Die Suizidraten korrelieren nicht mit den Arbeitslosenraten (Spearman: -,097; n. s.) (Abb. 7).

Religionsferne

Distanz zur Religion kann sich in zwei Formen manifestieren: Während der Atheismus eine gegen Religionen ausgerichtete Position bezieht, zeichnen sich die unreligiösen Menschen durch eine indifferent-gleichgültige Position zum Problem der Transzendenz aus. Mit etwa 820 Millionen Menschen bildet diese Gruppe nach dem Christentum, dem Islam und dem Hinduismus inzwischen die viertgrößte weltanschauliche Richtung. Europäische Staaten mit einem hohen Anteil an religionsfernen Personen sind Tschechien (59 %), Niederlande (42 %), Estland und Russland mit jeweils 32 %. Bei der überwiegenden Mehrheit der Länder beträgt der Anteil weniger als 5 %, Österreich liegt in dieser Statistik bei etwa 12 %. Es findet sich bei den europäischen Staaten kein Zusammenhang zwischen Religionsferne und nationaler Suizidrate (Spearman: ,268 n. s.) (Abb. 8).

Diskussion

Verschiedenste biologische und sozioökonomische Ursachen wurden diskutiert, um die deutliche Streuung der nationalen Suizidraten zu erklären.12 In der hier vorliegenden Arbeit gingen wir dem Einfluss der gesellschaftlichen Anomie nach. Kollektiver Werteverlust ist allerdings nur indirekt fassbar. Im ersten Schritt mussten wir daher Parameter definieren, aus denen sich das Vorliegen anomischer Verhältnisse ableiten lässt. Dabei gingen wir von der Hypothese des Soziologen und Religionswissenschaftler Emil Durkheim aus, der postulierte, dass gesellschaftlicher oder individueller Werteverlust häufig suizidale Verhaltensweisen nach sich zieht.

Wir entschieden uns, die Berechnungen ausschließlich für Europa durchzuführen. Aus allgemein zugänglichen statistischen Daten wählten wir 7 Variable – gesellschaftliche Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Modernisierungsgrad, Demokratisierung, Religionsferne, Gefangenen- und Tötungsraten – aus, die auf kollektive anomische Zustände hinweisen. Aus diesen Variablen ergeben sich zwei Faktoren, die verschiedene Aspekte gesellschaftlicher Anomie repräsentieren (Tab.).

Korrelationsanalysen zeigen, dass von den 7 Variablen lediglich zwei, nämlich die Gefangenen- und Tötungsraten, dies allerdings statistisch hochsignifikant, mit den nationalen Suizidraten in Europa assoziiert sind (Abb. 5, 6). Beide können als direkter Ausdruck für eine gewalttätige, aggressionsgeladene gesellschaftliche Atmosphäre und als proximale Merkmale der Anomie gelten.

Modernisierungsgrad, Arbeitslosenrate und gesellschaftliche Ungleichheit beschreiben eher die sozioökonomische Basis, Demokratisierung und Position zum Glauben eher den Wertehintergrund einer Gesellschaft und sind daher weiter distal anzusiedeln. In einem weiteren Analyseschritt wäre es lohnend, pfadanalytisch nach Verbindungen zwischen den distalen und den proximalen Variablen des Faktor 1 zu suchen.

Es wäre allerdings auch möglich, dass die sich in hohen Suizid-, Gefangenen- und Tötungsraten manifestierende Aggressivität nicht Ausdruck gesellschaftlicher Anomie ist. Die finno-ugrische Hypothese etwa geht davon aus, dass die hohen Suizidraten in Litauen, Finnland und Ungarn auf genetische Faktoren zurückzuführen sind.13 Weitere Untersuchungen zur Aufklärung der komplexen Interaktion soziokultureller, ökonomischer und biologischer Faktoren für die Genese der unterschiedlichen nationalen Suizidraten scheinen daher dringend erforderlich.

resümeeDurkheim postulierte bereits Ende des 19. Jahrhunderts, dass Werteverlust zu erhöhtem Suizidrisiko führen kann (anomischer Suizid). Unsere Untersuchung der europäischen Suizid – raten zeigt, dass Wertehaltungen und sozio – ökonomische Situationen die Höhe der Suizid – raten nicht direkt beeinflussen. Hingegen scheint die Suizidrate Produkt oder Ausdruck der Aggressionsbereitschaft einer Gesellschaft zu sein. Ob und in welcher Weise Verbindungen zwischen den proximalen und distalen Merkmalen der Anomie bestehen, sollen zukünftige Untersuchungen zeigen.

1 http://www.who.int/mental_health/prevention/suicide_rates/en/ index.html

2 Lester D, Suicide and culture. WCPRR 2008; 3:51-68

3 Durkheim E, Der Selbstmord. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997

4 http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_ Einkommensverteilung

5 http://hdr.undp.org/en/reports/global/

6 Vanhanen T, Democratization: a comparative analysis of 170 countries. Routledge, London 2003

7 Vanhanen T, Measures of Democracy 1810-2008 [computer file]. FSD1289, version 4.0 (2009-12-14). Tampere: Finnish Social Science Data Archive [distributor], 2009

8 http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_incarceration_rate

9 http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_intentional_ homicide_rate

10 Platt S, Unemployment and suicidal behaviour: a review of the literature. Soc Sci Med 1984; 9 93-115

11 Redaktion Weltalmanach: Der Fischer Weltalmanach 2010. Zahlen Daten Fakten. Fischer, Frankfurt am Main 2009

12 Ritter K, Stompe T, Suizid, Religion und Kultur. In: Stompe T, Ritter K, Psychische Krankheit und Kultur. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, 2011, in Druck

13 Voracek M, Loibl LM, Kandrychyn S, Testing the Finno-Ugrian suicide hypothesis: replication and refinement with regional suicide data from eastern Europe. Percept Mot Skills 2007; 104:985-994