[ÖGPP 2011] Psychotherapie in der Psychiatrie

Die Bedeutung der Psychotherapie als therapeutische Disziplin hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Anwendung von psychotherapeutischen Methoden ist jedoch bei der immer weniger vorhandenen Zeit und personellen Ressourcen eine große Herausforderung. Die Integration von Psychotherapie in die Psychiatrie stellt einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungsbedingungen von psychisch Kranken dar.

In den letzten Jahren kam es zu einer rapiden Zunahme an Erkenntnissen über die Ursachen und Therapie von psychischen Störungen. Unter Berücksichtigung eines vermehrten Wissens über die Ursachen von psychischen Störungen dient ein ganzheitliches Krankheitskonzept (Interaktionen von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren in der Entwicklung von psychischen Störungen) als wesentlicher Ausgangspunkt für die Planung von psychotherapeutischen Interventionen.

Störungsspezifische Psychotherapie

In den letzten Jahren wurden vermehrt spezielle störungsspezifische Therapiemethoden zur Behandlung von psychischen Erkrankungen unter Berücksichtigung der Kriterien einer evidenzbasierten Medizin entwickelt, ausgehend von der Annahme, dass spezifische psychische Störungen, entsprechend den Definitionen von Krankheitsbildern in den internationalen Klassifikationssystemen, spezielle Interventionsstrategien erfordern. Es wurde zunehmend kritisch diskutiert, dass psychische Erkrankungen wie depressive Störungen, Angsterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen auf sehr unterschiedlichen Ursachen beruhen, jedoch meist mit ähnlichen Ansätzen, entsprechend der Ausbildung in einer Psychotherapieschule, behandelt werden1. Für viele Psychotherapieverfahren besteht ein ungenügender empirischer Wirkungsnachweis, eine mangelnde wissenschaftliche Absicherung der zugrunde liegenden theoretischen Konzepte sowie ein unangemessener Universalitätsanspruch mit ungenügenden Forschungsbestrebungen. Oft besteht kein Bezug zwischen psychotherapeutischen Interventionen und den spezifischen Anforderungen des konkreten Krankheitsbildes. Es steht mehr die Phänomenologie sowie die Wirksamkeit in der Praxis im Vordergrund, der Effizienznachweis erfolgt in Form von naturalistischen Studien.

Hingegen konzentriert sich die störungsspezifische Psychotherapie auf diagnostische Einheiten, unterstützt die Qualitätssicherung von Psychotherapie und deren Wirksamkeit und ist durch Effektivitätsstudien im Sinne der „Evidence Based Medicine“ abgesichert. Derzeit ist eine gute Wirksamkeit bei einer zunehmenden Anzahl von störungsspezifischen d. h. diagnosespezifischen Therapien nachgewiesen. Dabei zeigt sich bei bis zu 65 % der behandelten Patienten eine deutliche Besserung. Im Vergleich zu schulenspezifischer Psychotherapie richtet sich die störungsspezifische Psychotherapie auf die Entwicklung abgestimmter Therapieelemente, welche sich auf die Symptomatik, auf ätiologische Modelle und Wirkmodelle der psychiatrischen Störung beziehen.

Kombination von Pharmakotherapie und Psychotherapie

Derzeit bestehen erfolgreiche Behandlungskonzepte häufig aus einer phasenspezifischen Kombination von Pharmakotherapie und störungsspezifischer Psychotherapie2. So zeigte sich in einer aktuellen Studie bei Major Depression ein im Vergleich zu einer reinen Pharmakotherapie schnelleres Therapieansprechen nach 5 Wochen Therapie durch eine kombinierte interpersonelle Psychotherapie und Pharmakotherapie3. Interpersonelle Psychotherapie fokussiert auf die Bereiche pathologische Trauerreaktion, interpersonelle Konflikte, Rollenwechsel und interpersonelle Defizite, denen am Beginn einer Depression eine wesentliche Rolle zugeschrieben wird. Neuere Metaanalysen zeigen jedoch auch eine Effektivität sowohl der kognitiven Ver – haltenstherapie4 als auch der psychodynamischen Therapie bei Major Depression5.

Als psychotherapeutische Verfahren bei Schizophrenie haben sich nach den Kriterien der Evidence Based Medicine (EBM) die Psychoedukation, die kognitiv- behaviorale Verhaltenstherapie und die Familientherapie als wirkungsvoll erwiesen. In einer randomisierten, kontrollierten Studie wurde gefunden, dass eine Add-on kognitive Verhaltenstherapie (CBT) bei therapieresistenter Symptomatik über 9 Monate (19 Sitzungen) in Bezug auf Positiv- und Negativsymptomatik und depressiver Symptomatik signifikant einer unspezifischen Routinebehandlung (befriending) überlegen ist. In einer aktuellen 5-Jahres-Follow-up- Studie konnte ein signifikant größerer Effekt unter CBT im Vergleich zur unspezifischen Behandlung im Gesamtschweregrad der Symptomatik und dem Ausmaß der Negativsymptomatik nachgewiesen werden6. Auch der frühe Einsatz von CBT in der akuten Krankheitsphase scheint einen andauernden Effekt auf die Symptomreduktion im Krankheitsverlauf zu haben.

Störungsorientierte Psychotherapie

Störungsorientierte Psychotherapie beinhaltet sowohl allgemeine Wirkfaktoren und Wirkprinzipien als auch die Psychotherapie von spezifischen Störungsbildern. Das vermehrte Wissen über Ursachen von psychischen Störungen und die Ergebnisse zu allgemeinen und spezifischen Wirkmechanismen der empirischen Psychotherapieforschung führten zu dem Bestreben, integrative psychotherapeutische Sicht- und Verfahrensweisen zu etablieren. Der Begriff störungsorientierte Psychotherapie7 macht deutlich, dass unter Berücksichtigung von State-of-the-Art-Wissen bisherige Erkenntnisse mit empirischer Evidenz aus den Bereichen allgemeiner und störungsspezifischer Psychotherapie zusammengeführt werden sollen. Bei diesem Ansatz sollen auch klinisches Erfahrungswissen und die Grenzen empirischer Evidenz mitreflektiert werden.

Ein wesentlicher Aspekt der störungsorientierten Psychotherapie umfasst die allgemeinen Wirkfaktoren einer Psychotherapie8, die motivationale Klärung, die Ressourcenaktivierung, die Problemaktualisierung und Problembewältigung. Gemeinsame therapeutische Faktoren, die für unterschiedliche therapeutische Schulen als wesentlich erachtet werden, sind die Therapeutenvariablen, die therapeutische Beziehung, Patientenmerk – male, Erwartungshaltung sowie die Grunddimensionen Unterstützung, Lernen und Aktion. Obwohl in jüngster Zeit besonders die Interventionstechniken im Mittelpunkt der Forschung stehen, wurde bereits von Orlinsky et al.9 festgestellt, dass die therapeutische Beziehung ein besonderer Prädiktor für den Therapieerfolg einer Psychotherapie ist.

Störungsorientierte Ansätze, die heute zur Anwendung kommen, haben sich teilweise innerhalb der Verhaltenstherapie in Form von evidenzbasierten Therapiemanualen entwickelt, teilweise wurden sie neu generiert. Im Vergleich mit anderen psychotherapeutischen Techniken zeigten sich vor allem die Inter personelle Therapie der Depression (IPT), behaviorale Expositionstechniken in der Behandlung der Phobien, Ansätze für akute posttraumatische Störungen und Expositionstechniken in der Behandlung von Zwangserkrankungen als besonders erfolgreich (Tab.).

Eine Optimierung in der Behandlung seelischer Erkrankungen erfolgt vor allem durch die strukturierte Kombination von verschiedenen Therapieelementen, die sich gezielt auf die spezifische Symptomatik beziehen. Dabei handelt es sich nicht um ein eklektisches Vorgehen, in dem Therapiebausteine beliebig kombiniert werden, sondern um speziell für eine psychiatrische Erkrankung entwickeltes psychotherapeutisches Vorgehen, das sich als wirksam erwiesen hat11. In jüngster Zeit werden vermehrt auch Manuale zu störungsspezifischen Ansätze entwickelt, die auf den Psychotherapiemethoden der psychodynamisch orientierten Therapie basieren. Ein Beispiel für einen multidimensionalen Therapieansatzes im Sinne einer evidenzbasierten Psychotherapie stellt das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) zur Behandlung von chronischer Depression dar. Dieses psychoanalytisch orientierte, schulenübergreifende Konzept inkludiert eine Beziehungsanalyse zu wichtigen Bezugspersonen, eine Situationsanalyse der gegenwärtigen Beziehungserwartungen sowie interpersonelle Diskriminationsübungen, Fertigkeitentraining und Hilfestellungen zur Modifikation inadäquater Verhaltensweisen12.

Die mentalisierungsbasierte Therapie ist eine weitere multimodale, psychodynamisch integrative Therapie. Diese Psychotherapieform wurde primär von Bateman und Fonagy als Mentalization Based Treatment (MBT) zur Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen13 entwickelt, wird jedoch inzwischen auch in anderen Indikationen angewandt wie z. B. bei Angststörungen und depressiven Störungen. Mentalisierung ist die Fähigkeit, sich mentale Zustände als organisierende Kräfte im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen. Die Mentalisierungsfähigkeit entwickelt sich im 1. bis 5. Lebensjahr, allgemeinem Mentalisierungsversagen liegen dysfunktionale interpersonelle Beziehungsmuster zugrunde und stellen einen Ansatzpunkt zur therapeutischen Interventionen dar.

Neurobiologie der Psychotherapie Die Psychotherapieforschung bezieht derzeit neben psychologischen auch biologische Modelle mit ein. Neue Ansätze der Neurobiologie zu psychischen Störungsbildern, der Empathie, der sozialen Resonanzfähigkeit und der neuronalen Konstruktion des Selbst werden vermehrt untersucht. Für eine Reihe von psychiatrischen Erkrankungen wurden strukturelle und funktionelle neuronale Auffälligkeiten in bestimmten Hirnarealen gefunden. Neuronale Netzwerkmodelle können dazu beitragen, einige schwer behandelbare Krankheitsbilder besser zu verstehen und psychotherapeutisch spezifischer zu behandeln. In der Psychotherapie wird jedoch nicht nur der biologische Zustand, sondern auch die Biographie, die sozialen Beziehungen und das subjektive Erleben berücksichtigt. Interpersonelle Neurobiologie integriert Wissen aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaften mit solchen aus der Bindungsforschung. Erste Studien weisen auf ein neurobiologisches Korrelat der sozialen Resonanzfähigkeit hin, es wird ein Areal im dorsomedialen präfrontalen Kortex angenommen.

Klinische Verbesserungen durch Verhaltenstherapie bei Angst- und Zwangsstörungen zeigen sich in Aktivierungsabnahmen in der Amygdala. In Studien zum Effekt von kognitiver Verhaltens – therapie und interpersoneller Therapie bei depressiven Störungen fanden sich Veränderungen in kortikal-subkortikalen Hirnarealen. Neurobiologische Korrelate eines Therapieerfolges durch Psycho – therapie äußern sich häufig in einer Stärkung der präfrontalen Hemmung sowie Reduktion der Amygdalaüberaktivierung. In bildgebenden Untersuchungen zur vergleichenden Wirkung von Psychopharmakotherapie und Psychotherapie zeigten sich unterschiedliche Hirnareale aktiviert, es fanden sich nur geringe Überlappungen in spezifischen Hirnarealen. So zeigt sich durch die Gabe von Antidepressiva eine Verringerung der Amygdala-Hyperaktivität bei depressiven Patienten, die kognitive Therapie hingegen stärkt die Funktion im präfrontalen Kortex14. Eine aktuelle Studie zeigt bei Patienten mit OCD eine frontostriatale Aktivierungsveränderung nach kognitivbehavioraler Therapie. Eine Abnahme der Zwangssymptomatik geht einher mit einer Aktivierungszunahme im rechten Pallidum15. Erste neurobiologische Effekte im Sinne von Veränderungen von dysfunktionalen Aktivierungsmustern im Gehirn zeigten sich bei einem ersterkrankten Patienten mit Schizophrenie nach einer Kombinationstherapie von atypischen Antipsychotika mit kognitiver Verhaltenstherapie (Abb.).

Die neuen Entwicklungen in der neurobiologischen Forschung beeinflussen das therapeutische Verstehen und Denken, aber auch die Strukturen, in denen Psychotherapie durchgeführt wird.

Kriterien der Ausbildung zur Fachärztin/zum Facharzt

In der Ausbildung traten mit 1. Jänner 2011 Änderungen der Verordnung der Österreichischen Ärztekammer in Bezug auf psychotherapeutische Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in Kraft. Laut Rasterzeugnis der Ärztekammer ist eine Einführung in Theorie und praktische Umsetzung der 4 wichtigsten psychotherapeutischen Traditionen (psychoanalytische, verhaltenstherapeutische, systemische und humanistische Tradition) vorgesehen16.

In einem zweiten Schritt erfolgt dann eine zusätzliche vertiefte Ausbildung, die begleitet von Supervision und Selbsterfahrung direkte Erfahrungen im Arbeitsfeld ermöglicht. Der Schwerpunkt der Ausbildung richtet sich auf Erlernen von psychotherapeutischen Interventionstechniken bei psychiatrischen Erkrankungen. Spezielle Fähigkeiten in der Behandlung von chronisch erkrankten Patienten sowie akut stationären Patienten sollen die Ausbildung ergänzen. Der Umgang mit schwierigen Patienten mit Komorbidität, eingeschränkten Copingstrategien, krankheitsbedingten eingeschränkten kognitiven Funktionsstörungen und mangelnder Änderungsmotivation sollen erlernt werden. Weiters spielen Fragen der Auswirkung von Pharmakotherapie eine wesentliche Rolle.

Zukünftige Entwicklungsperspektiven

Psychotherapie in der Psychiatrie beinhaltet die Behandlung von psychischen Störungen auf der Grundlage empirischen Wissens, integriert Pharmakotherapie, Soziotherapie und Psychotherapie; es kommen störungsorientierte schulenübergreifende Therapiekonzepte zur Anwendung, die gleichzeitig auch individuelle Bedürfnisse und Copingstrategien inkludieren. Die Psychotherapie hat eine hervorragende Entwicklungsperspektive, wenn sie sich im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen Neuentwicklungen und Wirksamkeitsnachweisen, professioneller Anwendung und ressourcenorientierter Finanzierung ständig weiterentwickelt Besondere Herausforderungen für die Zukunft werden die Entwicklung weiterer Therapieformen für schwer gestörte Patienten, die Untersuchung der Zusammenhänge von Neurobiologie und Psychotherapie und die Implementierung von Psychotherapie in gestufte, integrierte Versorgungskonzepte darstellen.

1 Lotz-Rambaldi, Hohagen F, Erfolgreiche Einbindung. Entwicklung der Psychotherapie im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie. Neurotransmitter 2009;

2:6-12 2 Sachs G, Katschnig H, Kombinierte Pharmako- und Psychotherapie. In: Riederer PF, Laux G (Hg): Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie. Springer, Wien, New York 2010

3 Zobel I et al., Long-term effect of combined interpersonal psychotherapy and pharmacotherapy in a randomized trial of depressed patients. Acta Psychiatr Scand 2011; 123(4) 276 – 82

4 Lynch D et al., Cognitive behavioural therapy for major psychiatric disorder: does it really work? A meta-analytical review of well-controlled trials. Psychol Med. 2010; 40(1):9-24

5 Jakobson et al., The Effect of Interpersonal Psychotherapy and other Psychodynamic Therapies versus „Treatment as Usual“ in Patients with Major Depressive Disorder. PLoS One; 2011; 6(6)

6 Turkington D et al., A randomized controlled trial of cognitive-behavior therapy for persistent symptoms in schizophrenia: a five-year follow-up. Schizophr Res 2008;98(1-3):1-7

7 Herpertz SC, Casper F, Mundt Ch, Störungsorientierte Psychotherapie. Urban & Fischer 2008

8 Grawe K, Neuropsychotherapie. Hogrefe 2004

9 Orlinsky DE et al., Quality of the therapeutic relationship: do common factors in psychotherapy correspond with common characteristics of psychotherapists? SPR Collaborative Research Network. Psychother Psychosom Med Psychol 1996; 46(3-4):102-10

10 Sachs G, Thau K, Störungsorientierte Psychotherapie. Psychiatrie und Psychotherapie 2010

11 Arolt V, Kersting A, Psychotherapie in der Psychiatrie. Springer Berlin Heidelberg 2010

12 Schramm E, Caspar F, Berger M, A specific therapy for chronic depression. McCullough’s Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy. Nervenarzt 2006; 77(3):355-70

13 Bateman A, Fonagy P, Mentalization based treatment for borderline personality disorder. World Psychiatry 2010; 9(1):11-5

14 DeRubeis RJ, Siegle GJ, Hollon SD, Cognitive therapy versus medication for depression: treatment outcomes and neural mechanisms. Nat Rev Neurosci 2008; 9(10):788-96

15 Freyer T et al., Frontostriatal activation in patients with obsessivecompulsive disorder before and after cognitive behavioral therapy. Psychol Med. 2011; 41(1):207-16

16 Löffler-Stastka H et al., „Basiscurriculum in psychotherapeutischer Medizin“: Psychotherapeutische Ausbildung in der Psychiatrie – ein Beginn. Psychiatrie und Psychotherapie 2011; 7:20-26