Fallbericht Rückenschmerz – Der Schmerz, der in die Beine strahlt


Schmerzen, die von der Kreuz-Becken-Region in ein oder beide Beine ausstrahlen, zählen zu den häufigen Beschwerdebildern, über die Patienten in der orthopädischen Praxis klagen. Es sind jedoch mehrere Ursachen zu berücksichtigen, woher derartige Schmerzen herrühren können. Anamnese, klinische Untersuchung und bei bestehenden Risikohinweisen („red flags“) bildgebende Verfahren und Labor sollen die adäquate Therapie von Lumbalsyndromen begründen. In manchen Fällen hilft erst die Testinfiltration, die Schmerzquelle zu eruieren.



Kasuistik: Ein 67-jähriger Patient suchte die Ordination auf und klagte über Schmerzen, die gemäß seinen Angaben von der Lumbalregion ausgingen und über gluteal in den ventrolateralen Oberschenkel bis zum proximalen Drittel des Unterschenkels ausstrahlten. Die Beschwerden bestanden seit 8 Monaten und waren rezidivierend. Ein spezielles Ereignis wie ein Trauma zur erstmaligen Schmerzauslösung konnte nicht angegeben werden. Die Schmerzen waren belastungsabhängig und die Gehstrecke auf 1.000 m beschränkt. Die bisherige Behandlung erfolgte mit NSAIDs, blieb aber ohne ausreichenden Erfolg. Auch Heilmassagen und Übungsbehandlungen vermochten die Schmerzen nicht anhaltend zu bessern. Es bestand zusätzlich seit einigen Monaten ein nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus. Aufgrund von beidseitigen sockenförmigen Dysästhesien im Bereich der Füße wurde eine Untersuchung der Nervenleitgeschwindigkeit veranlasst, welche für eine Polyneuropathie sprach.

Die klinische Untersuchung ergab keine wesentliche Fehlhaltung und einen Finger-Boden-Abstand von 15 cm. Der Lasègue-Test war beidseits negativ, der Pseudo-Lasègue bei 70°, der Patellarsehnenreflex beidseits seitengleich lebhaft und der Achillessehnenreflex beidseits nicht auslösbar. Es bestand eine leichte Quadrizepsschwäche links (Kraftgrad V minus), keine sicheren Sensibilitätsstörungen im Bereich der Ober- und Unterschenkel, eine Hüftgelenksrotation rechts von 30-0-40 und links von 10-0-30, keine Funktionseinschränkung der Kreuz-Darmbein-Gelenke, eine Hypermobilitätstendenz L4/5 und Hypomobilität L3/4 sowie C2 bis 4 und vereinzelte BWS-Segmente.

Die derzeitige Medikation bestand in Diclofenac 100 mg retard unter Magenschutz mit Protonen­pumpenhemmern sowie 50 mg Myo­las­tan® abends.
Eine mitgebrachte Magnetresonanztomografie der Lendenwirbelsäule zeigte L4/5 paramedian links einen sequestrierten Bandscheibenprolaps und in diesem Segment auch Intervertebralgelenkarthrosen, welche eine beginnende Einengung der Neuroforamen verursachte (Abb. 1); Intervertebralgelenkarthrosen auch im Segment L5/S1. Im Segment L3/4 eine flache konzentrische Bandscheibenprotrusion und normal weite Neuroforamen.

 

 

Weitere Vorgangsweise nach Zusammenschau der bisherigen Untersuchungsergebnisse und Befunde: Sehr massiv stellte sich in der MRT der Prolaps L4/5 dar, wenngleich die neurologische Untersuchung auf keine klare radikuläre Läsion L5 hinwies. Eine transforaminal epidurale Infiltration L4/5 links führte zu einer deutlichen Besserung bzw. einem Schwinden der Schmerz­ausstrahlung gluteal sowie lateraler Ober-/Unterschenkel (Abb. 2). Als zusätzliche Behandlungen erhielt der Patient intensive physikalische Maßnahmen und besonders Heilgymnastik als Einzelbehandlung und in der Gruppe.

 

 

Verlauf: Die Besserung der ischialgiformen Schmerzen hielt nach der interventionellen Behandlung an, doch der Patient klagte weiter über Kreuzschmerzen und nun auch über ausgeprägte Leistenschmerzen. Im Beckenübersichtsröntgen fanden sich Zeichen für eine mittelgradige Coxarthrose links mehr als rechts (Abb. 3). Erst nach Einbeziehung des linken Hüftgelenks in den Behandlungsplan (Infiltrationen, Physiotherapie) konnte insgesamt zunächst eine Besserung und dann Beschwerdefreiheit erreicht werden.

 

 

 

 


RESÜMEE: Es gibt mehrere Gründe für Schmerzen, die von der Kreuz-Becken-Region in die Beine ausstrahlen. Selbst die Läsion einer Nervenwurzel muss nicht immer die volle Defizitsymptomatik hinsichtlich Motorik, Sensibilität und Reflexen erfüllen. Sie kann nicht nur durch einen Raumkonflikt zwischen einer Nervenwurzel und Bandscheibe, sondern auch durch eine knöcherne Foramenstenose im Rahmen einer Spondylarthrose oder auch z. B. einer Synovialzyste (vom kleinen Wirbelgelenk ausgehend) verursacht werden. Eine Schmerzausstrahlung verursachen aber auch diverse Gelenke, nämlich die Hüftgelenke, die Kreuz-Darmbein-Gelenke und die kleinen Wirbelgelenke der kaudalen LWS-Abschnitte. Bei von der Lumboglutealregion in das Bein ausstrahlenden Schmerzen sollte man weiters auch an ein Piriformis-Syndrom oder an Adhäsionen nach einer Wirbelsäulenoperation denken (FBSS). Jedenfalls sind die funktionellen Zusammenhänge der gesamten Lenden-Becken-Hüftregion beachtenswert. Bei komplexen, auf ambulante Maßnahmen therapieresistenten Schmerzbilder führen oft erst kurzfristige Kontrollmöglichkeiten zum Ziel. Auch das Einbeziehen der Reaktionen auf durchgeführte Therapien in den weiteren Behandlungsplan (Testinfiltrationen) kann sehr hilfreich sein.
Die vorliegende Kasuistik verdeutlicht zusätzlich, dass auch eine Mischung von Ursachen vorliegen kann und dass nicht immer die am meisten ins Auge springende Pathomorphologie die alleinige Hauptschmerzursache darstellt. Denn immer wieder zeigt sich, dass die Korrelation zwischen Klinik und Befund der Bildgebung gering sein kann.