HIV-Patienten sind keine COVID-19-Risikogruppe

Herr Dr. Schalk, wie geht es Ihrer Erfahrung nach HIV-Patienten knapp 40 Jahre nach Entdeckung des Virus, wie steht es um ihre Gesundheit und Lebensqualität?

Dr. Horst Schalk: Dank moderner Therapien sind HIV-Patienten heute gut behandelbar und haben eine angemessene Lebensqualität. Das gilt auch für ein fortgeschrittenes Stadium.

Sie sprechen ein häufiges Problem an. Viele HIV-Infektionen werden erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung erkannt. Wie hoch ist der Anteil der Spätdiagnosen?

Der Großteil der Patienten – ich würde sagen: zwei Drittel bis drei Viertel – wird zeitgerecht diagnostiziert, um sie gut behandeln zu können. Problematisch wird es bei Menschen, die eine späte Diagnose erhalten.
Hier ist die große Herausforderung, diese wieder auf ein adäquates Immunniveau zu bringen.

Ab welchem CD4-Helferzellen-Wert wird es schwierig?

Wir definieren dazu zwei Marken. Liegt der Wert unter 350 Zellen/µl, so müssen wir diesen Patienten sehr genau beobachten. Schlecht steht es um den Patienten, wenn der Wert unter 200 Zellen/µl liegt – hier besteht die Gefahr, dass AIDS ausbricht.
Es gibt allerdings eine weitere Komponente, die eine Rolle spielt: das immunologische Gedächtnis. Waren die CD4-Helferzellen beispielsweise im Laufe der Infektion zu irgendeinem Zeitpunkt sehr niedrig, ist die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Tumoren höher.

Kommt es im Rahmen der COVID-19-Pandemie zu einer eingeschränkten Versorgung von HIV-Patienten?

Nein. Probleme gab es nur in der ersten Phase des harten Lockdowns im Frühling. Hier wurden Routinetestes bei gut behandelten Patienten verschoben. Bis Juli war das aber nachgeholt. Das größere Problem in der Versorgung sehe ich unabhängig von der Pandemie in den Spitalsambulanzen. Da gibt es wenig Engagement für HIV-Patienten. In unserer Ordination haben wir viele Patienten, die zu uns nach Wien hereinpendeln, weil es keine entsprechenden Ambulanzen gibt oder weil diese so klein sind, dass die Anonymität fehlt. Bei der Betreuung haben HIV-Patienten außerhalb von Wien in Österreich keine große Auswahl. Es bleiben die Immunambulanzen in den Landeshauptstädten, wobei dies für Vorarlberg nur eingeschränkt gilt und es in St. Pölten und Eisenstadt keine solche Ambulanz gibt.

Gibt es besondere Empfehlung für HIV-Patienten im Rahmen der Pandemie?

Es gelten dieselben Hygieneregeln und Empfehlungen wie für alle Menschen. Was wir heuer besonders empfehlen, ist eine Impfung gegen Influenza und Pneumokokken. HIV-Patienten sind nicht anfälliger für eine COVID-19-Infektion, und im Falle einer Infektion verläuft diese auch nicht schwerer.

Das bedeutet, HIV-Patienten sind keine COVID-19-Risikogruppe?

Genau. Es kommt vielmehr auf den Virusgeber an und auf die Virenlast, die er übergibt. Die Gefahr ist somit für HIV-positive wie für HIV-negative Menschen gleich.

Gibt es etwas, das Sie aufgrund Ihrer Erfahrung mit HIV-Patienten anderen niedergelassenen Medizinern mitteilen möchten?

Erstens: Haben Sie keine Scheu vor HIV-Tests! Da wäre auch mein Vorschlag ans Gesundheitsministerium, die Tests in die Vorsorgeuntersuchung zu integrieren. Ich wünsche mir außerdem, dass mehr Ärzte HIV-Patienten betreuen. Dank der modernen Medizin ist die Behandlung heute nicht mehr so kompliziert wie einst. Eine normale HIV-Therapie auszustellen ist nicht schwieriger, als eine Bronchitis zu behandeln.

Wie sieht die Therapie der Zukunft aus?

Im nächsten Jahr rechne ich damit, dass es einen Fortschritt bei der Injektionstherapie geben wird. Der Patient kommt dann nur noch alle 8 Wochen und erhält eine Spritze. Es wird auch daran gearbeitet, dass es eine subkutane Therapie gibt, die sich der Patient selbst verabreicht. In 2 bis 3 Jahren wird es wahrscheinlich schon so weit sein.

Vielen Dank für das Interview!