Kennen wir die Pathogenese des Typ-1-Diabetes?

Der Typ-1-Diabetes (T1D) ist eine chronische Autoimmunerkrankung, die durch einen immunvermittelten Verlust der insulinproduzierenden Betazellmasse im endokrinen Pankreas und einen daraus resultierenden Insulinmangel gekennzeichnet ist. Etwas weniger als 10 % aller Diabetesfälle sind auf diese Form zurückzuführen. Aufgrund der oft frühen Manifestation der Erkrankung im Kinder- und Jugendalter und der weltweit wachsenden Inzidenzrate ist das wissenschaftliche Interesse, die Pathogenese der Erkrankung detaillierter zu ergründen, insbesondere, um neuere Therapiestrategien zu entwickeln, enorm. Einige klinische Indizien sprechen für eine aktivere Rolle der Betazelle in der Krankheitsentstehung.1 Dazu gehören das Vorhandensein positiver Autoantikörper ohne Entwicklung eines T1D, Ausbleiben dauerhafter Effekte immunsuppressiver Therapien, interindividuelle Unterschiede im Ausmaß der Insulitis sowie der relativ hohe Anteil verbleibender Betazellen nach Diagnosestellung. Tatsächlich besteht mittlerweile ein breiteres Verständnis vieler pathogenetischer Aspekte. Was einst eindimensional als eine Erkrankung, verursacht durch eine fehlerhafte Reaktion autoreaktiver T-Zellen gegen gesunde Betazellen, betrachtet wurde, gilt heute als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Immunsystem und Stoffwechsel. Dabei spielen verschiedene Faktoren wie genetische Prädisposition, Umweltfaktoren, Auswirkungen viraler Erkrankungen und auch die Zusammensetzung des Mikrobioms eine wesentliche Rolle.2

Autoimmune Reaktion

Chronische Autoimmunerkrankungen zeichnen sich ab, sobald die Immunhomöostase gestört wird. Die körpereigenen Betazellen werden als fremd wahrgenommen, dadurch kommt es zu einer überschießenden Immunreaktion autoreaktiver Lymphozyten, die mit einer zunehmenden Infiltration des endokrinen Pankreas durch Immunzellen, insbesondere CD4+– und CD8+-Lymphozyten, eine Insulitis auslöst. Der fortschreitende entzündliche Prozess verstärkt wiederum die Antigenpräsentation an Lymphozyten sowie deren Aktivierung und bestimmt die Krankheitsprogression.

Diabetesassoziierte Autoantikörper, besonders Antikörper gegen Glutamat-Decarboxylase (GAD), Protein-Tyrosin-Phosphatase-IA-2-Moleküle (IA-2), Inselzellantikörper (ICA), Insulinantikörper (IAA) sowie Antikörper gegen den Zinktransporter 8 (ZnT8) begleiten die Insulitis, jedoch ist ihre Rolle in der Destruktion der Betazellen bisher unklar. Jedenfalls ist eine Serokonversion ein Anzeichen für Autoimmunität, und ihr Nachweis hat einen prädiktiven Wert für die klinische Manifestation von Typ-1-Diabetes.3
Prädisponierende Gene befinden sich laut genomweiten Assoziations­studien hauptsächlich in der HLA-(Humanes-Leukozytenantigen-)Region auf Chromosom 6. Dass Allele des HLA-Komplexes (insbesondere HLA-Klasse-II-Loci HLA-DR3 und HLA-DQ) für bis zu 50 % des genetischen Risikos verantwortlich sind, deutet auf eine selektive Beteiligung dieser Moleküle bei der Pathogenese von T1DM hin. Dies ist auch plausibel, da HLA insbesondere der Klasse II für die Antigenpräsentation an Lymphozyten verantwortlich sind und je nach vorliegenden Varianten bestimmte Peptide bevorzugt präsentieren. Mehrere Non-HLA-Genvarianten (z. B. INS-VNTR PTPN22, IL2RA, CTLA4), welche die Immuntoleranz regulieren, scheinen ebenfalls beteiligt zu sein. Rezent wurden genetische Varianten in Chromatinbereichen beschrieben, die insbesondere für CD4+-Effektor-T-Zellen zugänglich sind. Diese könnten einen kausalen Effekt in der Krankheitsentstehung und daher mögliche therapeutische Targets bieten.1, 4

Die inselzellspezifische Autoreaktion der Immunzellen und deren Vorkommen im peripheren Blut weist auf eine fehlerhafte Differenzierung im Thymus und eine Störung der Toleranzmechanismen hin. In der Aufrechterhaltung immunologischer Toleranz spielen vor allem regulatorische T-(Treg-)Zellen eine entscheidende Rolle, indem sie autoreaktive Immunzellen erkennen und spezifisch ausschalten. Dies geschieht über den Programmed-Death-1-(PD-1-)­Rezeptor, der die Proliferation und Funktion von T- und B-Zellen durch Interaktion mit seinen Liganden PD-L1 oder PD-L2 kontrolliert. In vitro wurde das Auftreten von Autoimmunität und T1D bei Mäusen und Menschen mit einer verminderten Differenzierung naiver CD4+-T-Zellen in Treg-Zellen assoziiert. Molekulargenetisch scheint eine Störung in der DNA-Methylierung des FOXP3-Gens eine Rolle zu spielen, das die Induktion und Stabilität von Treg-Zellen steuert. Genauere Hintergründe insbesondere zu den auslösenden Mechanismen sind jedoch noch ungeklärt. Es wurde rezent eine mögliche Funktion für die micro-RNA miRNA142-3p in der Hemmung der Expression einzelner Proteine, die zu fehlerhaften epigenetischen Veränderungen im FOXP3-Gen der Treg-Zellen führen und damit ihre Stabilität beeinträchtigen, entdeckt.1, 5 Diese und andere Ansätze zum besseren Verständnis der Immuntoleranz können einen Ausgangspunkt für neue Therapiemöglichkeiten darstellen.

Rolle der Betazellen

Über 95 % der Patienten mit einer Krankheitsdauer von < 1 Jahr weisen insulinproduzierende Inseln auf, d. h., es kommt bereits vor vollständigem Betazellverlust zur Diabetesmanifestation.6 Aus Autopsiebefunden von verstorbenen Patienten mit neumanifestiertem T1DM und Ketoazidose wurde ein Anteil von ca. 30 % funktionsfähigen Betazellen ermittelt, womit angenommen werden kann, dass eine schwere immunvermittelte Betazell-Dysfunktion dem tatsächlichen Betazelltod vorausgeht.7, 8
Die Hintergründe, wie es zu einer peripheren Aktivierung des Immunsystems durch das Zielgewebe selbst, dem Pankreas, kommt und damit die Kaskade der Autoimmunreaktionen seinen Ausgang nimmt, sind weiterhin nicht ausreichend geklärt.
In Mausmodellen wurde gezeigt, dass Betazellen Chemokine exprimieren, die an der initialen Aktivierung von Immunzellen beteiligt sind. Der Großteil der Chemokine wird jedoch von den infiltrierenden Immunzellen selbst freigesetzt, die auch mehrere Chemokinrezeptoren exprimieren. Chemokine vermitteln damit eine zelluläre Infiltration und einen entzündlichen Prozess im Rahmen einer Insulitis. Vordergründig scheint das Chemokin CXCL10 eine Rolle in der Anziehung von Effektor-T-Zellen über den entsprechenden Rezeptor CXCR3 zu haben. Experimentelle Arbeiten zielen auf eine gezielte Blockade der CXCL10/CXCR3-Achse nach T-Zell-Depletion über Anti-CD3-Antikörper im Rahmen einer sequenziellen Immunblockade ab – in Mausmodellen konnte hierdurch bei geringen Nebenwirkungen eine dauerhafte Remission erzielt werden.9

Als mögliche Auslöser der Immunkaskade könnten Umweltfaktoren wie Virusinfektionen und Ernährung sowie Veränderungen im Mikrobiom oder metabolischer Stress eine Rolle spielen, die als „second hit“ im gegenseitigen Wechselspiel und/oder in Assoziation mit der genetischen Disposition wirken. Es kann dabei auch zu einer Fluktuation der Betazellmasse vor Manifestation kommen. Tatsächlich ist die Bauchspeicheldrüse von Patienten mit T1D kleiner als die von nichtverwandten Kontrollpersonen, allerdings nicht unterschiedlich im Vergleich zu solchen mit Diabetesrisiko.10 Bisher gibt es keine Daten, die darauf hindeuten, dass die Pankreasgröße mit fortschreitender Krankheit abnimmt, jedoch könnte eine geringere Betazellmasse auch die funktionelle Kapazität der Betazellen einschränken und damit eher eine dysglykämische Situation mit begleitendem metabolischem Stress begünstigen.1 Als ein zusätzlicher proinflammatorischer Trigger könnte eine Virusinfektion die Situation verschärfen. Einige Viren wurden mit der Entstehung des T1D über einen „Molecular mimicry“-Effekt in Verbindung gebracht – insbesondere Enteroviren, aber auch Röteln-, Mumps-, Zytomegalie-, Rotaviren und andere stehen unter Verdacht. Tatsächlich wurde nachgewiesen, dass Betazellen Rezeptoren von Coxsackie- und Adenoviren (CXADR) exprimieren, wodurch eine höhere Anfälligkeit für eine Infektion durch Enteroviren erklärt werden könnte.11 Im Rahmen der TEDDY-(Environmental-Determinants-of-Diabetes-in-the-Young-)Studie bei Kindern mit Risiko für T1D konnte eine enterovirale Infektion durch Coxsackieviren mit Autoimmunität (aber nicht T1DM) korreliert werden.12 Die Leaky-Gut-Hypothese bringt eine vermehrte Durchlässigkeit der intestinalen Barriere für bakterielle Pathogene mit der Entwicklung der Autoimmunität gegen Betazellen in Verbindung. Andererseits werden anderen Bestandteilen der intestinalen Besiedelung auch diabetesschützende Eigenschaften zugeschrieben. Bei der Fermentation unverdaulicher Kohlenhydrate werden z. B. kurzkettige Fettsäuren (SCFA) produziert, die wiederum lokale Entzündungsreaktionen hemmen und eine direkte Wirkung auf die Differenzierung von Treg-Zellen haben könnten.1, 13

Zusammenfassung

Die Erkenntnisse zur Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes haben sich im letzten Jahrzehnt massiv erweitert und eine davor unbekannte Komplexität zu Tage gebracht. Die Rolle der Betazellen in der Provokation der eigenen Destruktion wird immer ersichtlicher und weist darauf hin, dass eine alleinige Immuntherapie möglicherweise keine nachhaltige Therapiestrategie darstellen wird. Diese Erkenntnisse führen zu einem Umdenken in der Entwicklung von Interventionsstrategien, sodass für die Zukunft spannende Ergebnisse zu erwarten sind.


1 Roep BO et al., Nat Rev Endocrinol 2021; 17: 150–61
2 DiMeglio LA et al., Lancet 2018; 391(10138): 2449–62
3 Bloem SJ et al., Diabetologia 2017; 60: 1185–9
4 Robertson CC et al., Nat Genet 2021; 53(7): 962–71
5 Scherm MG et al., Nat Commun 2019; 10: 5697
6 Rodríguez-Calvo T et al., Curr Diab Rep 2018; 18: 124
7 Oram RA et al., Diabetologia 2019; 62: 567–77
8 Eizirik DL et al., Nat Rev Endocrinol 2020; 16(7): 349–62
9 Christen U, Kimmel R, Front Endocrinol (Lausanne) 2020; 11: 591083
10 Campbell-Thompson M et al., JAMA 2012; 308: 2337–9
11 Ifie E et al., Diabetologia 2018; 61: 2344–55
12 Vehik K et al., Nat Med 2019; 25: 1865–72
13 Morrison DJ, Preston T, Gut Microbes 2016; 7: 189–200