Therapeutische Inertia in allen Facetten

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als ich vor einigen Monaten erfahren habe, dass mir Herr Prof. Dr. Guntram Schernthaner die fachliche Schirmherrschaft über das DIABETES FORUM-Focusheft von DIABETES FORUM zum Thema „Therapeutic Inertia“ übertragen hat, fühlte ich mich anfangs sehr geehrt, kurz darauf war ich aber etwas verwirrt und planlos: Was ist wohl genau mit diesem Thema für die diabetologische Praxis und PatientInnenbetreuung in Österreich gemeint?
Geistig bin ich dann jene Themengebiete im Alltag der klinischen Betreuung von Menschen mit Diabetes mellitus durchgegangen, in denen ich nach etwa 35-jähriger Berufserfahrung den größten Nachhol- bzw. Aufholbedarf für die nächsten Jahre sehe.
Gestartet wird diese Diskussion aber mit der „Nonstop-Revolution“ der medikamentösen Diabetestherapie. Die letzten sechs Jahre haben seit Publikation der EMPA-REG-Studie mit dem SGLT2-Inhibitor Empagliflozin und der kurz darauf folgenden LEADER-Studie mit dem GLP-1-Rezeptoragonisten Liraglutid eine Reihe von erfolgreichen klinischen Endpunktstudien gebracht, die neben kardio­renalem Benefit im Einzelfall auch eine Senkung der kardiovaskulären und sogar Gesamtmortalität von Menschen mit Typ-2-Diabetes zeigen konnten, wenn diese Substanzen „on top of standard“ eingesetzt wurden. Dies hat zwischenzeitlich zu einem Paradigmenwechsel in der Leitlinienlandschaft geführt, wo nunmehr die bestehenden Komorbiditäten bzw. klinischen Risikokonstellationen bezüglich der Präparateauswahl eine größere Rolle spielen als Ausgangs-HbA1c und BMI.
Im Beitrag von Prof. Schernthaner wird die noch zögerliche Marktdurchdringung dieser Substanzen im internationalen Kontext diskutiert, wobei die Preissituation dieser innovativen Präparate eine maßgeblich hemmende Rolle spielt, vor allem in weniger begüterten Ländern, aber auch in den USA.
Sogar in Österreich ist es regelkonform gemäß des Erstattungskataloges nicht möglich, medikamentös entsprechend der derzeit aktuellen Leitlinien zu therapieren. So wird auf bestehende Ko­morbiditäten und auch Risikokonstellationen im Regeltext kein Bezug genommen, aber dafür auf unterschiedliche HbA1c-Grenzwerte bzw. BMI-Erfordernisse, die überschritten werden müssen.
Auch wird eine Kombination dieser beiden Therapieklassen nur im Rahmen einer Einzelfallgenehmigung erstattet.
Neue Indikationserweiterungen bezüglich der Behandlung von Herzinsuffizienz und Nephropathie –auch bei PatientInnen ohne Diabetes mellitus – sind derzeit noch nicht in der Regelerstattung inkludiert, diesbezügliche Verhandlungen laufen. „Therapeutic Inertia“ wird konkret aus kardiologischer und nephrologischer Sicht von unseren Experten Prof. Dr. Drexel und Prof. Dr. Säemann kommentiert.
Die medikamentöse Therapie stellt meines Ermessens nach aber nur einen kleinen Teil der vorhandenen Problemfelder in der klinischen Diabetologie dar. So freut es mich besonders, dass Prim. Dorner den Wandel der Lebensstilfaktoren in Österreich in den letzten Jahren kommentiert, Prim. Dr. Pongratz den aktuellen Status unseres Disease-Management-Programmes für Menschen mit T2D „Therapie Aktiv“ präsentiert, OA Priv.-Doz. Dr. Köhler die Problematik des „diabetischen Fußes interdisziplinär“ diskutiert und Prof. Dr. Hofer das Thema der Betreuung von Jugendlichen mit T1D auch im Rahmen der Transition bespricht.
Prof. Dr. Kiefer stellt die an Anzahl der Betroffenen wachsende morbide Adipositas in Österreich als therapiebedürftige Erkrankung und nicht als kosmetisches Problem dar, was wiederum Implika­tionen im Rahmen der multifaktoriellen Therapie auch mit pharmazeutischen Optionen aufwirft. Schließlich bringt uns OÄ Dr. Aydınkoç-Tuzcu das Thema „Diabetes und Ramadan“ näher, das uns in der klinischen Praxis in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt.
Als ich die finalen Entwürfe für das vorliegende Schwerpunktheft in Händen hielt, habe ich mich wirklich gefreut, dass aus meinen ursprünglichen „Abenteuern im Kopf“ ein hoffentlich auch für Sie interessantes und praxisrelevantes Heft geworden ist.
Bedanken möchte ich mich in diesem Zusammenhang nochmals besonders bei den beitragenden Autorinnen und Autoren, welche die gestellten Themenvorschläge in kurzer Zeit so kompetent in die vorliegenden Artikel umgesetzt haben, ebenso bei Frau Nägele im MedMedia-Verlag, welche die zeitgerechte Produktion des Heftes zur ÖDG-Herbsttagung 2021 ermöglicht hat.

In diesem Sinne verbleibe ich mit kollegialen Grüßen