Berufsbilder der Zukunft – Teil 1: Psychiatrie und Diabetologie

© Amir Taheri

Welche Aufgaben die Ärzt:innen der Zukunft selbst erledigen werden und was alles automatisch erledigt wird, beschäftigt seit geraumer Zeit die Gesundheitswissenschaften quer über alle Kontinente.

Dabei scheint noch alles möglich, außer eines: Ganz abgeschafft werden die Ärzt:innen wohl noch nicht so schnell werden. Sehr wohl aber werden sich die Aufgabenbereiche verschieben. Dabei könnten es diejenigen, die sich diesem Wandlungsprozess verschließen, in Zukunft durchaus schwererhaben, denn der Einsatz digitaler Tools führt jetzt schon in verschiedenen Bereichen der Medizin zu einer höheren Effektivität und Produktivität, und die Ärzt:innen, die effektiver diagnostizieren, therapieren und verwalten, haben auch mehr Zeit für die Patient:innen.

Während manche medizinischen Berufsfelder noch scheinbar ganz unberührt von der Digitalisierung existieren, sind andere schon mittendrin in der neuen Arbeitswelt. Um diese Unterschiede sichtbar zu machen, werden in dieser Serie regelmäßig Expert:innen der einzelnen Fachrichtungen zum Wort kommen, die einen Einblick in ihren täglichen Arbeitsablauf und die schon eingesetzten digitalen Tools geben können.

Arbeitsabläufe neu denken

Die bereits im Einsatz stehenden Tools sind dabei facettenreich und so vielfältig, wie die Medizin selbst.

Fast überall durchgesetzt haben sich Krankenhausinformationssysteme (KIS), die einen zentralen Zugriff auf alle im Krankenhaus verfügbaren Informationen ermöglichen und als Frühbote der Digitalisierung teilweise schon seit Jahrzehnten eingesetzt werden. Die Ordinationsverwaltungssysteme, die Pendants in der Niederlassung, haben sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt und sind so vielfältig, dass auch telemedizinische Leistungen über diese Plattformen abgewickelt werden können.

Telemedizin an sich ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Die Digitalisierung hat jedoch die telemedizinischen Möglichkeiten auf ein neues Level gehoben. Gerade mit der COVID-19-Krise hat dieser Bereich auch in Österreich deutlich am Bedeutung gewonnen.

Zusätzlich liegt die Hoffnung vieler Anwender:innen sicherlich auf digitalen Tools, die den bürokratischen Aufwand des medizinischen Alltags reduzieren können. Beispiele dafür sind Speech-to-Text Programme oder mit LargeLanguageModels vorgeschriebene Arztbriefe und Terminplanungsapps, die mittels KI auf ein neues Niveau gehoben werden können, dieser Bereich hat sein Potenzial sicher noch nicht ausgeschöpft.

Spezielle Applikationen

In nahezu jeder Fachrichtung werden aktuell neue Applikationen und Methoden entwickelt, die ohne Digitalisierung nicht möglich wären.

Dies umfasst eigene Apps, also DiGA (digitale Gesundheitsanwendungen) zur Diagnose oder Therapie, Positionierungssysteme für präzisere Operationen, KI-unterstützte Auswertungen von bildgebenden Verfahren, Plattformen zur Unterstützungen von therapeutischen Entscheidungen, kompakte Mess- und Applikationsgeräte, welche die Patient:innen selbst bedienen können, und ganze OP-Systeme, die durch Robotik unterstützt werden – die Liste an schon aktuell im Einsatz stehenden digitalen Tools ist fast so lange wie die der Anwendungen, die erst in den Startlöchern stehen.

Was steht uns noch bevor?

Wohin die digitale Reise in der Medizin noch geht, kann sicherlich niemand vorhersagen. Die Expert:innen werfen dennoch einen einmal mehr, einmal weniger gewagten Blick in die Glaskugel und zeigen auf, wo die Potenziale der Digitalisierung in ihrer Fachrichtung noch nicht ausgeschöpft sind und wie die Zukunft aussehen könnte.


„Bei Online-Visiten fehlen die zwischenmenschlichen Signale.“

Interview mit Assoz. Prof.in Priv.-Doz.in Dr.in Julia Mader, klinische Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie der Medizinischen Universität Graz


DigitalDoctor: Frau Prof.inMader, die Digitalisierung ist teilweise schon weiter fortgeschritten, als allgemein bekannt ist. Wie hat sich die Diabetologie in den letzten Jahren verändert?
Mader: Die Diabetologie ist ein gutes Beispiel für erfolgreiche Digitalisierung. Aus der Geschichte der Blutzuckermessung kommend sind Menschen mit Diabetes gewohnt, neue Technologien auszuprobieren. Die Vereinfachung des täglichen Lebens durch digitale Hilfsmittel ist früh verlockend gewesen und schon recht weit fortgeschritten.

Vor allem das Leben eines Menschen mit Typ-1-Diabetes ist stark von diesen technologischen und digital miteinander vernetzten Hilfsmitteln geprägt. Die Sensoren zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM-Systeme) werden mit einem Lesegerät oder Smartphone verbunden, durch das die aktuellen Zuckerwerte abgefragt werden können. Diese Systeme können weiters mit Insulinpumpen verbunden werden, die semiautomatisiert den Glukosehaushalt regulieren können, Stichwort Automated-Insulin-Delivery-Systeme (AID-Systeme).

DigitalDoctor: Die dabei erzeugten Daten sind sicher ebenfalls für die behandelnden Ärzt:innen und Diabetesberater:innen interessant.
Mader: Genau, durch die kontinuierliche Messung der Glukosewerte entstehen sehr gut verwertbare CGM-Kurven. Diese sind für eine genauere Therapieplanung und Therapieanpassung ideal geeignet.
Mit den handelsüblichen CGM- oder AID-Systemen können diese Daten direkt mit dem behandelnden Diabetesteam geteilt werden, sodass Visiten und Kontrolltermine durchaus auch telemedizinisch abgehalten werden können. Dazu müssen diese Daten von den Anwender:innen zuerst hochgeladen und freigegeben werden. Erst dann können wir die Glukosekurven und Insulindosierungen einsehen. Leider hat nahezu jede Anbieterfirma ihre eigene Applikation für diese Datenteilung entwickelt, sodass das medizinische Fachpersonal mit vielen verschiedenen Einzellösungen hantieren muss.
Einzelne Softwarelösungen bemühen sich um eine Zusammenführung dieser Daten aus unterschiedlichen Quellen: Glooko® gelingt dies beispielsweise ganz gut. Doch auch hier sind nicht alle in Österreich verwendeten Systeme eingepflegt, da sich manche Herstellerfirmen immer noch gegen eine Integration sperren, obwohl die Daten eigentlich aus rechtlicher Sicht den Menschen mit Diabetes gehören.

DigitalDoctor: Auf welche digitalen Hilfsmittel können Menschen mit anderen Diabetes-Formen zurückgreifen?
Mader: Sofern die Gabe von Insulin notwendig ist, können CGM-Systeme bewilligt und verwendet werden. Mit den Smartpens oder Connected Pens ist ein weiteres digitales Tool im Einsatz, das bei der Protokollierung der verabreichten Insulindosen hilft. Auf die damit erzeugten Daten kann wiederum – unter der Voraussetzung des Consent – von extern zugegriffen werden.
CGM-Systeme werden in Österreich für Menschen, die kein Insulin benötigen, leider noch nicht rückvergütet. Ich denke, dass sich das in der Zukunft ändern wird, da erste Studiengruppen in diesem Kollektiv bereits den Einsatz und die Effekte kontinuierlicher Messungen zeigen. Hier wird auch bald ein Konsensus-Statement veröffentlicht, dass sich mit diesem Thema beschäftigt. Die Entscheidung hinsichtlich Erstattung wird allerdings sicherlich auch eine Kostenfrage sein. Hier beobachten wir in den letzten Jahren die Entwicklung kostengünstiger CGM-Lösungen, die dafür interessant sein könnten.

DigitalDoctor: Wie hat sich Ihre Arbeit durch die Digitalisierung verändert?
Mader: Ich habe vor nicht allzu langer Zeit noch händisch geschriebene Blutzuckerkurven analysiert und lange Therapiepläne durchgearbeitet. Diese Arbeit hat sich grundlegend verändert. Anfangs war die Auswertung der digital erfassten Glukosekurven noch gewöhnungsbedürftig und brauchte etwas mehr Zeit, aber mittlerweile ist es umgekehrt. Wir haben hier die Möglichkeit, einen viel größeren Zeitraum schnell zu überblicken, und bekommen von den Programmen durch hinterlegte Automatisierungen auch Hilfe bei der Analyse dieser Datensätze. Die Interpretation analoger Daten bedingt aktuell einen deutlich größeren zeitlichen Aufwand.
Daneben verwenden wir im stationären Bereich auch ein System, das uns bei diabetologischen Entscheidungen unterstützt und hier an der Medizinischen Universität Graz mitentwickelt wurde. Nach der Ausgliederung in ein eigenes Unternehmen (decide Clinical Soft
ware GmbH, Graz) steht diese GlucoTab® genannte Softwarelösung auch kommerziell zur Verfügung. Es ist speziell für die Steuerung des Diabetesmanagements inklusive Insulintherapie im Krankenhaus gedacht und unterstützt Ärzt:innen und Pflege gleichermaßen. Beispielsweise können bei Konsilanfragen von anderen Abteilungen Diabeteskurven direkt über dieses System angesehen werden und auch Therapien wenn gewünscht direkt umgestellt werden. Langfristig kann GlucoTab® dann ebenfalls in die mobile Pflege und in Pflegeheimen integriert werden. So könnten über dieses Tool schnell wichtige Informationen ausgetauscht und Hilfestellungen gegeben werden.
Ebenfalls schon länger im Krankenhaus im Einsatz sind Blutzuckermesssysteme, die einen direkten Datentransfer in die Labordatenbanken unseres KIS erlauben. Die neueste Generation integriert neben dem Blutzucker verschiedene weitere Daten, die für die Therapiesteuerung interessant sind. Wir kooperieren hier mit der Firma Roche und stellen gerade auf die neue Plattform cobas®pulse um, die neben anderen Anwendungen ein mobiles Blutzuckermanagement via GlucoTab® ermöglicht, ohne den ganzen Visitenwagen dabeizuhaben.


„Im Lehrplan für die Facharztprüfung sind digitale Themen bis jetzt noch nicht abgebildet.“


DigitalDoctor: Gibt es aus Ihrer Sicht einen Unterschied im Fortschritt der Digitalisierung zwischen dem Krankenhaus und der Niederlassung?
Mader: Bei den schon besprochenen speziell für Menschen mit Diabetes entwickelten Tools sehe ich keinen Unterschied, abgesehen von den wiederum speziell für das Krankenhaus oder große Ambulanzen entwickelten Systemen. In der Niederlassung treten jedoch auch viele allgemein endokrinologische Problemstellungen auf, für die es bisher wenige digitale Tools gibt.
Dafür können Softwarelösungen, die einem das tägliche Leben erleichtern, wie beispielsweise Speech-to-Text-Programme, Online-Terminplaner oder Organisationssysteme, viel leichter eingeführt werden. Hier sind wir im Krankenhaus an den zentralen Einkauf und die IT gebunden. Eine eigenständige Entscheidung ist da nur schwer möglich.

DigitalDoctor: In welchen Bereichen Ihrer Fachrichtung sehen Sie noch das größte Potenzial für die Digitalisierung?
Mader: Ich denke, beim Management von Diabetes sind wir sehr gut aufgestellt. Es werden auch schon KI-unterstützte AID-Systeme verwendet, die sich dem normalen Tagesablauf der Anwender:innen anpassen. Hier gibt es Verbesserungspotenzial, gerade was das Glukosemanagement bei sprunghaften Änderungen des Blutzuckers angeht, wie sie bei körperlicher Anstrengung oder akuten Erkrankungen/fieberhaften Infekten auftreten.
Ich sehe viel Potenzial in Applikationen, die sich auf die Therapiemotivation und Begleitungen des Gewichtsmanagements beziehen. Auch weitere Daten wie Blutdruckmonitoring oder Apothekendaten zu abgeholten Medikamenten könnten in Systeme zur Diabetessteuerung integriert werden.
Daneben kann ich mir vorstellen, dass digitale Lösungen zur Erleichterung der Arbeitsabläufe, wie die automatisierte Vorerstellung von Arztbriefen und Interpretation von Mustern und Langzeitverläufen, in den nächsten Jahren vermehrt eingesetzt werden.
Ein weiteres Feld betrifft die telemedizinische Versorgung von entlegeneren Gebieten. Hier könnten von angelerntem Personal oder Hausärzt:innen Untersuchungen übernommen werden, die dann woanders befundet werden, wie es beispielsweise bei der Interpretation von Fundoskopien bei der diabetischen Retinopathie schon versucht wird.

DigitalDoctor: Welche Herausforderungen bei der Aus- und Weiterbildung in der Diabetologie ergeben sich durch die Digitalisierung?
Mader: Wir alle haben uns an die Digitalisierung anpassen müssen und viel Neues dabei gelernt. Händisch geschriebene Krankenhauskurven haben die meisten jungen Kolleg:innen gar nicht mehr kennengelernt. Gerade was digitale Hilfsmittel angeht, sind diese insgesamt flexibler, da die Digitalaffinität in den jüngeren Generationen zunimmt.
Im Lehrplan für die Facharztprüfung sind digitale Themen bis jetzt noch nicht abgebildet. Gerade die Interpretation einer CGM-Kurve sollte hier durchaus berücksichtigt werden.
Dieses Thema wäre auch bei der Ausbildung für Allgemeinmedizin interessant.
Viele Allgemeinmediziner:innen leisten einen wesentlichen Beitrag bei der Behandlung von Menschen mit Diabetes. Dabei merke ich immer wieder, dass Routinetätigkeiten, wie die CGM-Interpretation nicht durchgeführt werden. Hier ist sicher ein Mangel an Aus- und Fortbildungsangebot zu sehen.
Insbesondere seit die Endokrinologie an unserem Klinikum nur mehr ein Wahlfach bei den Rotationen im Rahmen der Facharztausbildung Innere Medizin ist, hat sich diese Situation nicht gebessert.
Ich denke, ein anderer wesentlicher Punkt, der verstärkt berücksichtigt werden sollte, ist das vernetzte Denken über die Fächer hinweg. Speziell durch digitale Anforderungen wird das noch stärker zurückgedrängt, ist aber insgesamt für die ärztliche Arbeit unerlässlich. Dazu kommen Probleme mit immer kürzeren Konzentrationsspannen, die, denke ich, auch viele an sich selbst beobachten können.

DigitalDoctor: Fassen wir einmal die Seite der Menschen mit Diabetes ins Auge. Gibt es für sie Nachteile durch die Digitalisierung, und was kann man dagegen tun?
Mader: Rein hypothetisch könnten sich die Menschen, die diese Fülle an Daten mit uns Ärzt:innen teilen, überwacht oder verfolgt fühlen. Die Zugriffe können aber durch eine selektive Teilung der Daten selbst gesteuert werden.
Die Onlinevisiten haben neben vielen Vorteilen sicher den Nachteil, dass wir die Patient:innen weniger gut kennenlernen, und umgekehrt ist es auch der Fall. Dazu fehlen zwischenmenschliche Signale, die beim direkten menschlichen Kontakt automatisch registriert werden, sodass man den gesamten Zustand der Patient:innen sicher weniger gut einschätzen kann. Bei Erstdiagnose eines Diabetes mellitus im Erwachsenenalter wird immer wieder psychologischer Support benötigt, was online sicher schwerer zu erkennen ist.
Gerade ältere Patient:innen, die keine oder nur mehr wenige Angehörige haben, schätzen besonders den Aspekt des menschlichen Kontakts und der persönlichen Zuwendungen während eines Ambulanztermins.
Für mich sind daher Onlinevisiten eine Ergänzung und keine alleinige Maßnahme.

DigitalDoctor: Was ist dafür der größte Pluspunkt, den Menschen mit Diabetes von der fortschreitenden Digitalisierung erwarten können?
Mader: Die Technologisierung und Digitalisierung der Diabetestherapie haben zu einer höheren Lebensqualität für Menschen mit Diabetes geführt und werden es auch weiterhin tun. Von ärztlicher Seite kann schneller und präziser auf suboptimale Therapiesituationen reagiert werden, ohne dass dafür Termine direkt an einer Spezialambulanz notwendig sind. Menschen mit Diabetes können so rascher und unkomplizierter an für sie relevante Informationen kommen und müssen dafür keine langen Wege auf sich nehmen.


„Viele Leistungen können auch rein digital angeboten werden.“

 

Interview mit Prim. Dr. Florian Buchmayer, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Krankenhaus Barmherzige Brüder Eisenstadt.


DigitalDoctor: Herr Prim. Buchmayer, die Psychiatrie ist ein Fach, das stetem Wandel unterliegt. Welche Effekte der Digitalisierung sehen Sie bereits in Ihrer Abteilung?
Buchmayer: Vordergründig ist da meiner Meinung nach gar nicht so viel sichtbar. Das Augenscheinlichste ist, dass wir nur mehr selten mit Stapeln von Papier herumlaufen. Wir haben ein etabliertes und gut funktionierendes Krankenhausinformationssystem (KIS) und waren eine der ersten Abteilungen auch innerhalb unseres Krankenhausverbundes der Barmherzigen Brüder, die dieses System eingeführt haben. Damit sind wir aber nicht mehr allein, seit einigen Jahren haben alle Abteilungen in Eisenstadt dieses System übernommen.
In unserem Arbeitsalltag haben wir dadurch relevante Befunde direkt zur Hand, die Dokumentation in der Patientenkurve erfolgt ebenfalls komplett elektronisch und auch Laborbefunde, Bildgebung und Krankengeschichte sind dort abrufbar.
Während Corona wurden zusätzlich schnell telemedizinische Angebote geschaffen, die jedoch jetzt wieder mehr in den Hintergrund gedrängt wurden.

DigitalDoctor: Wie sieht der Status quo im niedergelassenen Bereich aus? Welche digitalen Hilfsmittel verwenden Sie dort?
Buchmayer: Ich verwende hier seit vielen Jahren eine mittlerweile sehr ausgereifte Softwarelösung, über die meine komplette Organisation und Dokumentation läuft und die auch telemedizinische Leistungen abwickelt. Das System bietet mir dabei cloudbasiert einen hohen Datenschutzstandard und ermöglicht mir eine sichere und verschlüsselte Kommunikation mit meinen Patient:innen. Bei der Anschaffung des Systems war das ein Novum, und bis alles perfekt funktioniert hat, war auch ein Feedback sehr willkommen. Heute gibt es eine Vielzahl an Anbietern von Ordinationssoftware, die ähnlich umfangreiche Möglichkeiten bieten. Besonders praktisch für mich sind bei meiner Lösung die integrierten telemedizinischen Möglichkeiten. Sowohl ein Nachrichtendienst als auch das Videotelefonieren sind direkt über diese All-in-One-Lösung möglich.

DigitalDoctor: Wie sehr eignet sich die Psychiatrie für telemedizinische Applikationen?
Buchmayer: Gerade in der Niederlassung können den Patient:innen viele Leistungen auch rein digital angeboten werden. Die Psychiatrie und Psychotherapie sind nur selten auf körperliche Untersuchungen oder die physische Präsenz der Patient:innen angewiesen. Daher ergibt sich eine sehr gute Eignung für telemedizinische Anwendungen. Die Patient:innen nehmen das Angebot auch gut an.
Dennoch würde ich nie den gesamten Behandlungsprozess in den virtuellen Raum verlegen. Die zwischenmenschliche Ebene lässt sich digital nur schwer transportieren und vermitteln, dafür braucht es den direkten, persönlichen Kontakt.
Gerade die nonverbale Kommunikation ist im Rahmen therapeutischer Sitzungen ein essenzieller Bestandteil. Eine gemischte Nutzung von Terminen in Präsenz und Online scheint auch in den dazu durchgeführten Studien das optimale Ergebnis zu erzielen – Stichwort Blended Treatment.

DigitalDoctor: Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Anwendung und Entwicklung von digitalen Tools für die Psychiatrie?
Buchmayer: Eine große Herausforderung ist aktuell sicher noch die Finanzierung digitaler Anwendungen. Die telemedizinischen Konsultationen wurden mit der COVID-19-Krise stark forciert, andere Tools sind jedoch nicht so weit verbreitet. Besonders bei den DiGA werden die Ärzte durch die Verordnung derselben und Analyse der dadurch erzeugten Daten einen Mehraufwand haben, der ebenfalls berücksichtigt werden muss.
Schon jetzt erfolgreich verwendet werden kommerzielle Applikationen wie Stimmungskalender oder Stimmungstagebücher, die jedoch von den Patient:innen auf eigene Gefahr genutzt werden müssen. Bei diesen, meist oberflächlich kostenlosen, Apps ist durchwegs mit einem datenschutzrechtlichen Problem zu rechnen.
Allgemein ist eine klare rechtliche Basis für medizinische digitale Plattformen dringend erforderlich. Erst mit Zertifizierungen wird dieser Bereich wirklich an Zuspruch gewinnen können.

DigitalDoctor: Gemeinsam mit Partnern wie der Bertha von Suttner Privatuniversität haben Sie das Projekt MeHealth – Mental E-Health and Telepsychiatry abgeschlossen. Was ergab diese Zukunftsvision?
Buchmayer: Der Ausgangspunkt war die COVID-19-Krise und die Möglichkeit der Versorgung psychiatrischer Patient:innen aus der Distanz. In einem spannenden Prozess haben wir herausgearbeitet, welche Anforderungen eine umfassende Plattform zur integrierten psychiatrischen Versorgung erfüllen muss. Neben telemedizinischen Kommunikationstools, einer Ablagemöglichkeit für Dokumente, Dokumentationstools und multiprofessioneller Anbindung sollte vor allem auf die Datensicherheit geachtet werden. Auch die Patient:innen würden von einer aktiven Teilnahme an dieser Plattform profitieren. Neben einer Zusammenfassung ihrer Krankengeschichte könnten auch psychoedukative Maßnahmen über dieses Tool ausgespielt werden. Nicht zuletzt müssten sie aber auch nicht mehr bei jeder Neuvorstellung dem Gesundheitspersonal die gesamte Lebensgeschichte erzählen. Für viele Patient:innen mit psychischen Erkrankungen ist gerade das sehr belastend.
Im Rahmen des Projektes ist schnell klar geworden, dass die aktuell verfügbaren Plattformen nicht umfassend genug ausgestaltet sind, um diese Anforderungen zu erfüllen.
Auch muss die Infrastruktur bei für den psychiatrischen Bereich relevanten Behörden wie Polizei und Gericht verbessert werden. Heute gibt es immer noch Institutionen, die nur das Fax als sicheres Kommunikationsmittel für Dokumente akzeptieren. Unter diesen Voraussetzungen ist an eine Digitalisierung nicht zu denken. Da muss also noch viel Grundlagenarbeit geleistet werden.
Ich bin jedenfalls gespannt, wie und wann die von uns mit diesem Projekt geleistete Vorarbeit aufgegriffen und umgesetzt werden kann.


„Da die Pychiatrie und Psychotherapie selten auf physische Präsenz angewiesen ist, eignet sie sich sehr gut für telemedizinische Anwendungen.”


DigitalDoctor: Welche Änderungen im Arbeitsalltag haben sich im Rahmen der Digitalisierung ergeben?
Buchmayer: Die Medizin ist insgesamt schneller geworden. Informationen wie Laborbefunde kommen sofort nach Erstellung bei den behandelnden Ärzt:innen an und müssen nicht erst per Post verschickt werden. Aber auch der Dokumentationsaufwand ist sicher größer geworden. Insgesamt hat sich dadurch die Informationsfülle vergrößert. Das Herausfiltern relevanter Informationen ist nun ein nicht zu unterschätzender Teil der Arbeit geworden.

DigitalDoctor: Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Digitalisierung in der fachärztlichen Ausbildung?
Buchmayer: Grundsätzlich darf man nicht vergessen, dass die fachärztliche Ausbildung immer auf Grundlage des aktuell etablierten wissenschaftlichen Standards geschieht. Gerade rasante Entwicklungen wie die Digitalisierung können in so einem System nur schwer abgebildet werden, da die Ausbildung da immer nachhinken wird.
Für die Zukunft wäre es sicher sinnvoll, digitale Themenbereiche in die Ausbildung zu integrieren, und auch zugelassene und etablierte DiGA in das Curriculum aufzunehmen. Aktuell ist es so, dass junge Kolleg:innen sich selbst für digitale Tools interessieren müssen, um damit genauer in Berührung zu kommen.

DigitalDoctor: Welche Nachteile ergeben sich durch die Digitalisierung für psychiatrische Patient:innen?
Buchmayer: Ich denke der gravierendste Nachteil ist das Fehlen der nonverbalen Kommunikation. Das Setting eines in personam geführten Gespräches bietet den Therapeut:innen die Gelegenheit, viel konfrontativere Gesprächsthemen anzuschneiden. Die Patient:innen können bei belastenden Themenbereichen dabei nicht einfach hinter dem Bildschirm verschwinden. Teilweise wird diese direktere Konfrontationsmöglichkeit therapeutisch benötigt und fehlt bei Onlinetherapieeinheiten.
Ganz wichtig ist es auch, von Beginn an Gesprächsregeln festzulegen. Dies ist meist gar nicht notwendig, wenn die Patient:innen direkt vor einem/einer sitzen.
Immer wieder vergessen wird auch, dass die Patient:innen natürlich die notwendige technische Ausstattung benötigen und nicht alle Menschen in Österreich dies selbstverständlich zur Verfügung haben.

DigitalDoctor: Gibt es auch klare Vorteile der Digitalisierung, die sich sonst nur schwer umsetzen ließen?
Buchmayer: Natürlich. Ganz klar ist, dass die Psychiatrie und Psychotherapie flexibler geworden sind. In Krisensituationen können Akutmaßnahmen schnell und unkompliziert online gesetzt werden. Auch die Termingestaltung ist flexibler. Die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen, kann durch gute Onlinepräsenz und -angebote gesenkt werden.
Schlussendlich gewähren uns Videokonsultationen Einblick in die persönlichen Lebensumstände und häusliche Umgebung, die wir sonst nur selten freiwillig von unseren Patient:innen erhalten würden.