Storytelling fürs limbische System

Im Rahmen der medizinischen Lehre stellt die Neurologie eine der größten Herausforderungen dar. Dies gilt für die Unterrichtenden und die Auszubildenden gleichermaßen und führt bei letzteren zu einem Phänomen, das als Neurophobie bezeichnet wird. Eine Gruppe von Forscher:innen der Medizinischen Universität Graz und der FH JOANNEUM versuchten, diesem Problem durch einen neuen innovativen Weg der Wissensvermittlung beizukommen. Der Begriff „Neurophobie“ wurde im Jahr 1994 vom US-amerikanischen Neurologen Ralph F. Józefowicz für ein Phänomen vorgeschlagen, das dieser bei immerhin 50 % der Studierenden vermutete.1 Seither wurden zahlreiche Befragungen zur Einschätzung des Schwierigkeitsgrades der verschiedenen Fächer durchgeführt, die zumeist zu einem ähnlichen Ergebnis kamen:
Die klinische Neurologie und die ihr zugrunde liegenden Disziplinen wie Neuroanatomie und Neurophysiologie werden von einer Mehrheit der Student:innen als äußerst schwierig eingestuft und führen diesbezüglich zumeist das Feld der schwierigen medizinischen Fächer an. Dies geht sogar so weit, dass in den USA ein regelrechter Mangel an Neurolog:innen und Neuropatholog:in-nen besteht.2 Viele Untersuchungen zeigen, dass Dozent:innen sehr gefordert sind, die Inhalte der Neuroanatomie anregend zu vermitteln, ohne die Studierenden zu überfordern.3

3D-Visualisierung als Lösungsansatz

Neben didaktischen Ansätzen zur Lösung dieses Problems wird immer wieder der Einsatz von Technologien zur Unterstützung von Lehr- und Lernprozessen diskutiert. Aber auch im letzten BEME-(Best-Evidence-in-medical-Education-)Review von Newman et al. gibt es bis dato keine eindeutigen Ergebnis-se, die darauf hinweisen, dass u. a. die Verwendung neuer Technologien einen besseren Lernerfolg garantiert als die klassische Lehre.4 Das Forscherteam von Med Uni Graz und FH JOANNEUM geht nun einen neuen innovativen Weg der Wissensvermittlung. Im Projekt ICON (Immersive Co-Creation Hub) der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) setzen sie Virtual-Reality-Brillen von Oculus zur 3D-Visualisierung ein, um neuroanatomisches Wissen im Rahmen eines standardisierten Lernmodells zu vermitteln.

Der Avatar (Ballon mit Brillenmaske – Bild rechts) erschließt den virtuellen Lernraum. Mittels Handcontroller (Bild Mitte und Bild links) kann mit den verschiedenen Landmarks in den 3D-Visualisierungen des Gehirns (MRT- und CT-Bilddatensätze) interagiert werden.

Gamification im Bildungskontext

Eine besondere Herausforderung besteht beim Gehirn neben der Komplexität der Prozesse in der Verknüpfung unterschiedlicher Gehirnareale. Im eigens entwickelten Lernszenario zum Thema „Limbisches System“ werden Elemente der Gamification in einem kollaborativen Lernsetting eingesetzt. Kennzeichen einer Gamification im Bildungskontext sind u. a. eine raffinierte Spielgeschichte mit eigener Story und eigenem Drehbuch sowie das Erfüllen von Aufgaben („Quests“) unter einschränkenden Rahmenbedingungen, etwa durch ein Zeitlimit. Hinzu kommt ein – idealerweise berufsrelevantes – Ziel mit Sichtbarmachung der eigenen Leistungen im Vergleich zu anderen Teilnehmer:innen, etwa durch Ausweisung von Merkmalen wie Status und Ranking. Die soziale Vernetzung und das gemeinsame Lösen von Aufgaben im Sinne der Kollaboration ist ein weiteres entscheidendes Gestaltungselement. Erste Tests bei Studierenden der Gesundheitsberufe an der FH JOANNEUM zeigen, dass diese das Setting jedenfalls als innovativ und die Interaktionsformen als leicht verständlich und intuitiv bewerten. Voraussetzung ist allerdings eine fesselnde Gestaltung der Spielgeschichte, die in der Realisierung sehr aufwendig ist. Unterschiedliche Expert:innen aus verschiedenen Fachdisziplinen müssen auf technischer, mediendidaktischer und fachdidaktischer Ebene ein Szenario kreieren, das die Anwender:innen in ihren Bann zieht.

Auswertung nach Lerntypen

Die entscheidende Forschungsfrage ist jedoch: Kann man aber auch hinsichtlich des Lernerfolges einen Mehrwert dieser Vermittlungsmethode identifizieren? Ist der Einsatz von VR-Technologie tatsächlich ein probates Mittel gegen Neurophobie? Zahlreiche Studien bedienen sich zur Beantwortung dieser Frage eines Kohortenvergleichs („mit und ohne technische Lernunterstützung“). Dies erweist sich insofern als nichtzielführend, da von der Annahme ausgegangen wird, dass verschiedene Lerntypen den konkreten Mehrwert dieser Lernhilfe unterschiedlich bewerten. Mit anderen Worten ist der Vergleich dieser Gruppen über einen allumfassenden Mittelwert nicht aussagekräftig. Der Bereich „Learning Analytics“ soll hier neue Perspektiven bringen, indem große Datenmengen über Lernende über den gesamten Studienverlauf gesammelt werden, um ein aussagekräftiges Bild zu bekommen und Interventionen besser einordnen und daraus lernen zu können.5

Fazit: Die Forschungsgruppe aus Graz geht davon aus, dass die Kombination aus Immersion, Gamification und Learning Analytics die Neurophobie massiv zurückdrängen und den kognitiven Load beim Erwerb neuroanatomischen und neurophysiologischen Wissens reduzieren wird.