Aus Sicht der Technik

„Digitalisierung beeinflusst Prozesse im Gesundheitswesen und ganze Geschäftsmodelle grundlegend. Neue Technologien wie KI werden dazu beitragen, Präzisionsmedizin auszubauen, die Gesundheitsversorgung neu zu gestalten und die Patientenerfahrung zu verbessern“, erklärt Dr. Joachim Bogner, Geschäftsführer von Siemens Healthi­neers in Österreich. Generell werden diese Entwicklungen weitreichende Folgen für die Medizin haben, ist Bogner überzeugt: „Künstliche Intelligenz und ­maschinelles Lernen werden die Me­dizin in allen Disziplinen verändern. KI unterstützt bereits heute die Fernüberwachung von Patient:innen, vereinfacht die Bildgebung, hilft Radiolog:innen, fundierte klinische Entscheidungen zu treffen, und erleichtert Therapieentscheidungen.“KommRin Mag.a Michaela Latzelsberger, Geschäftsführerin Philips Austria GmbH, sieht dies genauso: „Künstliche Intelligenz kann im Gesundheitswesen dabei helfen, große Datenmengen in handlungsrelevante Informationen zu übersetzen. Beispielsweise kann KI durch optimierte Workflows und Abläufe die Versorgung verbessern. Eine KI-gestützte, automatisierte Bildauswertung trägt weiters dazu bei, klinische Entscheidungen und Befundungen zu unterstützen. Auch sind Informationen zur Ressourcensteuerung wie der Personalplanung nutzbar.“

Beispiele aus der Praxis

… von Philips: Bildnachverarbeitungslösungen wie das IntelliSpace-Portal von Philips beinhalten Algorithmen, um den Workflow schneller und vor ­allem zielgerichteter zu steuern. Tele­intensivmedizinische Lösungen wie Philips ICCC (IntelliSpace Consultative Critical Care) sind für eine klinische Entscheidungsunterstützung nutzbar. Algorithmen erkennen anhand definierter Parameter eine Verschlechterung des Patientenzustands frühzeitig.

„Vor allem in der Bildauswertung der klassischen Radiologie ist KI bereits oft im Einsatz. Wichtig ist bei der Entscheidungsunterstützung, dass sie nahtlos in die Arbeitsprozesse eingebunden ist“, betont Latzelsberger.

So ist es beispielsweise im Philips VuePACS umgesetzt: Findet der Algorithmus eine Auffälligkeit, wird diese durch ein Icon in der Arbeitsliste angezeigt, sodass der Fall priorisiert durch den oder die Befunder:in bearbeitet werden kann. „In der KI-getriggerten Ressourcensteuerung können frühzeitig Engpässe erkannt werden. In diesem Bereich besteht aber aktuell noch die Herausforderung, dass Daten aus verschiedenen Quellen zusammengeführt werden müssen. Liegen jedoch entsprechende Daten vor, kann eine KI zum Beispiel erkennen, wann sich eine Grippewelle anbahnt, und ­entsprechende Handlungsmaßnahmen können frühzeitig und proaktiv eingeleitet werden“, so Latzelsberger.

… von Siemens Healthineers: Der „digitale Assistent“ von Siemens Healthi­neers ist eine auf künstlicher Intelligenz basierende Software für bildgebende Systeme wie CT, MR und digitales Röntgen. „Die zugrunde liegenden Algorithmen wurden in Wissenschaftsteams bei Siemens Healthineers anhand von umfangreichen klinischen Datensätzen trainiert. Der digitale Assistent kann beispielsweise auf CT-Aufnahmen des Brustkorbs Strukturen voneinander unterscheiden, einzeln herausstellen und etwaige Auffälligkeiten kennzeichnen und messen. Dies gilt in diesem Fall für die Organe Herz, Lunge, Aorta sowie Wirbelkörper“, erläutert Bogner. Die Software-Plattform bietet aber auch Lösungen zur Entscheidungsunterstützung für die multimodale Bildgebung wie MR des Gehirns und der Prostata sowie digitales Lungenröntgen. „Durch den Einsatz dieser Software können die Produktivität und die Qualität in der radiologischen Diagnostik gleichzeitig verbessert werden, was besonders bei zeitaufwendigen, grundlegenden und sich stets wiederholenden Aufgaben hilfreich ist. Der intelligente Assistent zeigt automatisch krankheitsrelevante Veränderungen auf und unterstützt bei einer zügigeren, präziseren und umfangreicheren Diagnosestellung. Die Ergebnisse werden automatisch in einem Report aufbereitet“, so Bogner.

Durch die Integration von KI in den Labordaten-Workflow konnten Routine-Laborergebnisse mit anderen relevanten Patienteninformationen wie Alter, Geschlecht usw. kombiniert werden, um sie in krankheitsspezifischen Vorhersagemodellen zu nutzen, berichtet der Siemens-Healthineers-Geschäftsführer weiter. Die Kombination dieser Informationen ermöglicht es Laboren, krankheitsspezifische Patientenwahrscheinlichkeitswerte zu generieren, um Ärzt:innen auf Problembereiche und/oder potenzielle Patientenrisiken oder -diagnosen aufmerksam zu machen. Bogner: „In Zusammenarbeit mit verschiedenen Gesundheitseinrichtungen nutzt Siemens Healthineers aktiv maschinelles Lernen bei der Entwicklung KI-gestützter klinischer Entscheidungshilfen, die in den bestehenden Workflow integriert werden können.“ (Beispiele siehe Kasten)

Trend: Digitaler Zwilling

„Ein großer Trend im Bereich KI in der Medizin ist die Technologie des ‚digitalen Zwillings‘. Digitale Zwillinge sind virtuelle Abbilder realer Produkte oder Prozesse, die heute schon in der Fertigungsindus­trie eingesetzt werden. Entwicklungsschritte werden an virtuellen Abbildern geprüft, wodurch für Veränderungen am Produkt keine materiellen Ressourcen eingesetzt werden müssen“, gibt Bogner Einblick in die Praxis. Um einen digitalen Zwilling eines Menschen zu schaffen, müssen neuronale Netzwerke an Millionen von Daten trainiert werden.

Ein möglicher Einsatzbereich von „digitalen Zwillingen“ ist die personalisierte Medizin. „Die personalisierte Medizin verfolgt die Idee, einen Doppelgänger eines bzw. einer spezifischen Patient:in aus einem Pool von Gesundheitsdaten zu erzeugen, diesen stets mit jedem neu aufgenommenen klinischen Bild und jedem neu gemessenen Laborwert zu aktualisieren, damit an ihm Auswirkungen durch z.B. Änderung des Lebensstils oder der Medikamentengabe vorhergesagt werden können. Es soll simuliert werden können, wie bestimmte Therapien wirken und ob sie sinnvoll sind. Dabei führt der Weg hin zu einer individualisierten Medizin, die eine maßgeschneiderte Diagnose und Therapie ermöglicht“, so Bogner. Hierfür ist noch einiges an Forschungsarbeit notwendig, allerdings: „Digitalen Zwillingen einzelner Organe sind wir technologisch schon näher.“ Organmodelle simulieren die Struktur und Funktionsweise eines Organs oder eines Organsystems. „Anhand dieser Modelle können sämtliche pathologischen Prozesse aufgezeigt werden, die im Rahmen einer auftretenden Erkrankung beobachtet werden. Forschungen laufen bereits an Leber- und an Herzmodellen“, erklärt Bogner.

Daten für Forschung besser zugänglich machen

Eine große Herausforderung im Zusammenhang mit dem Einsatz von KI in der Medizin sieht Latzelsberger beim ­Thema Datenschutz. Grundlage für das allgemeine Datenschutzrecht in Österreich ist die Datenschutz-Grundverordnung (EU) 2016/679 (DSG). Diese gestattet nur unter bestimmten Bedingungen die Verwendung von (elektronischen) Gesundheitsdaten, und zwar „zum Zweck der Gesundheitsvorsorge oder Gesundheitsbehandlung, der medizinischen Diagnostik und für die Verwaltung von Gesundheitsdiensten“. „Aus diesem Grund wird beispielsweise in Deutschland bereits ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz angestrebt. Ziel ist es, vorliegende Daten besser für Forschung zugänglich zu machen. Wichtig ist dabei natürlich, dass immer die Patient:innen entscheiden, welche Daten wofür genutzt werden können“, betont Latzelsberger.

Datensilos aufbrechen

Bogner sieht die Zusammenführung von Daten als eine wichtige Voraussetzung für den Einsatz von künstlicher Intelligenz, jedoch: „Die einzelnen Gesundheitsversorger-Unternehmen haben ihre jeweils eigenen IT-Systeme und be­halten ihre Daten bei sich. Dabei ­würden digitale Sammlungen aller relevanter Gesundheitsdaten einzelner Individuen den Abgleich mit den Gesundheitsdaten einer geeigneten Vergleichsgruppe anderer Menschen ermöglichen, um so Prognosen zum Gesundheitszustand oder Verlauf einer Krankheit zu treffen.“ Zudem sind in seinen Augen dringend Investitionen in die IT-Infrastruktur für den datenschutzkonformen Datenaustausch und Datentransfer erforderlich, um eine optimale KI-basierte medizinische Umgebung schaffen zu können.

KI soll das Leben besser machen!

Für die Philips-Austria-Geschäftsführerin ist auch die Interoperabilität alle Systemhersteller ein wichtiger Aspekt, da Daten – wie bereits erwähnt – aus verschiedenen Systemen (ambulant wie stationär) zusammengeführt werden müssen: „Das ist einerseits eine technische Herausforderung. Aber auch wenn die Daten zusammengeführt sind, ist es entscheidend, dass sie jeweils ‚dasselbe‘ bedeuten, also semantisch interoperabel sind. Hier ist das Aufsetzen einheitlicher Standards essenziell.“ Ein übergreifendes Ziel sollte laut Latzelsberger sein, lernende Systeme basierend auf großen und relevanten Datensätzen zu schaffen. Sie fordert daher eine Kombination von kurzfristigen Aktivitäten und langfristigen Initiativen: „Auf politischer Ebene sollten die Bedingungen für Datenzusammenführung und -auswertung weiterhin vereinfacht und vereinheitlicht werden und Standards verpflichtend gesetzt werden.“ Genauso wichtig ist es ihrer Meinung nach, weiterhin KI-Projekte dort voranzutreiben, wo es im heutigen Rahmen bereits umfangreich möglich ist. Latzelsberger: „Philips bietet bereits in vielen Segmenten Lösungen an, die KI enthalten. Wir kombinieren künstliche Intelligenz mit anderen Technologien und orientieren uns dabei an klinischen Fragestellungen. Letztlich soll KI die Menschen unterstützen, die sie verwenden. Sie soll sich dem Kontext anpassen und nahtlos in die täglichen Abläufe und Prozesse integrieren. Künstliche Intelligenz wurde nicht zum Selbstzweck entwickelt, sondern ist ein Mittel, das Leben besser zu machen.“