Medizin der Zukunft: Mehr Möglichkeiten dank KI

„Wir können mit KI mehr Daten erfassen, verbinden und auswerten und dadurch Beobachtungen anders verwenden. Das ermöglicht uns Vorhersagen, die bisher nicht machbar waren. Gerade die diagnostischen Bereiche Radiologie und Histologie werden sich dadurch sehr verändern. Aber auch bei der Entwicklung neuer Therapien wird KI eine Rolle spielen“, ist Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Georg Langs, Professor für Machine Learning in ­Medical Imaging an der Medizinischen Universität Wien sowie Leiter des Computational Imaging Research Labs, überzeugt. Dr. Christian Maté, Arzt, Autor und Berater mit Schwerpunkt Digitale Medizin und KI im Gesundheitsbereich und einer der Köpfe hinter der Medieninitiative „Digitale Medizin“ (siehe Digital Doctor: Die menschliche Konstante einer Medizin im Wandel), betont speziell aus ärztlicher Sicht: „Systeme zum Clinical Decision Support werden die frühe ­Diagnose seltener Erkrankungen verbessern und es den Ärzt:innen auch wesentlich leichter machen, ihre Behandlungsempfehlungen an der jeweils aktuellen Evidenz auszurichten.“

KI in der Medizin – der Status quo

Langs sieht mehrere Einsatzbereiche für künstliche Intelligenz in der Medizin, so z.B. Forschung, Bilddatenanalyse oder Steuerung von Behandlungen durch die Verbindung von Bild- und molekularbiologischen Daten. „In diesen Bereichen dient KI einerseits der Beschleunigung, andererseits der Qualitätssteigerung“, erläutert er. So können z.B. in der Bildgebung (CT, MRT) mit Deep-Learning-Rekonstruktion bei reduzierter Scanzeit sehr gute Bilder erstellt werden – durch kürzere Scans werden laut Langs Aufnahmen möglich, die vorher in der Routine nicht machbar waren. „Zudem wird KI zunehmend auch im Workflow-Management eingesetzt, z.B. in großen Teams von Radiolog:innen, indem die KI nach einer initialen Analyse die Bilder an die bzw. den jeweils passende:n Expertin/Experten weiterleitet, damit diese:r auch bei komplexen Diagnosen sofort befunden und die nächsten Schritte einleiten kann. Dazu gehört auch, dass die KI Fälle, die dringende Schritte notwendig machen, identifiziert und markiert, was dem Wohl der Patient:innen zugutekommt. In der Prävention und Verlaufskontrolle kann KI eingesetzt werden, um die Dynamik von Veränderungen schon früher zu erkennen und für Vorhersagen nutzbar zu machen“, erklärt Langs.

Maté betont ebenfalls den bereits jetzt hohen Stellenwert der KI in der Dia­gnostik: „Was den Status quo zugelassener Anwendungen betrifft, so hat KI bisher vor allem die Diagnostik besser, also präziser, gemacht. Aktuell hat die FDA knapp über 500 Anwendungen aus dem Bereich Machine Learning zugelassen und ein Großteil beschäftigt sich mit der bildgebenden Diagnostik, der histopathologischen Befundung und der Auswertung von EKG-Daten.“ Gerade in der Radiologie sieht Maté daher spannende Zeiten heraufziehen, wenn „die Umwandlung von visuellen Befunden in quantitative Informationen, sogenannte Radiomics, in die Routine geht. Solche Daten können dann mit klinischen Ergebnissen wie Outcome und Therapieansprechen verknüpft werden und damit der personalisierten Medizin einen neuen Schub geben“.

KI-basierte Vorhersagemodelle

Für Langs ist KI bei der Bildgebung bereits im Praxisalltag der Ärzt:innen angekommen, während KI-basierte Vorhersagemodelle sich aktuell „auf dem Sprung in die Praxis“ befinden. Mit diesen Vorhersagemodellen, berichtet er, können Krankheitsverläufe für einzelne Patient:innen vorhergesagt werden. „Dabei werden die individuellen Daten eines bzw. einer Betroffenen mit anderen Patientendaten verglichen, daraus wird der Verlauf abgeleitet und die mögliche Wirkung einer bestimmten Therapie pro­gnostiziert. Diese Vorhersagemodelle werden beispielsweise in der Onkologie oder bei Lungenerkrankungen eine Rolle spielen, indem sie Muster mit Vorhersagekraft identifizieren“, ist Langs überzeugt. In den aktuellen Studien wird daran gearbeitet, mit KI vorherzusagen, welche Patientenzielgruppen auf eine Therapie ansprechen, wer also mögliche Responder oder Non-Responder sind.

Studieneffizienz steigern, ­Gesundheitspersonal entlasten

Laut Maté sind zu erwartende Trends in den nächsten Jahre unter anderem die Effizienzsteigerung bei klinischen Studien, etwa bei der Auswahl geeigneter Patient:innen, sowie die administrative Entlastung des Gesundheitspersonals durch automatisiertes visuelles Auslesen bzw. akustisches Aufzeichnen, Synthetisieren und Speichern von Informationen, aus denen dann wiederum automatisiert Texte wie z.B. Patientenbriefe erstellt werden können. Längerfristig kann er sich durchaus vorstellen, dass KI dazu beiträgt, dass aus der Reparatur- und Zielwerte-Medizin eine Steuerungs- und Datenmuster-Medizin wird. Eher skeptisch ist Maté hinsichtlich der Übernahme von praktischen Versorgungsaufgaben durch KI-Systeme, etwa, dass ein virtueller Assistent die Erstanam­nese macht: „Meine Skepsis rührt nicht daher, dass dieser virtuelle Assistent weniger präzise als eine menschliche Erstanlaufstelle wäre, sondern weil es in der Medizin ganz zentral auch um die Übernahme von Verantwortung und um den Aufbau von Beziehung geht.“

Entwicklung neuer Therapien

„Eine entscheidende Rolle wird KI zudem in Zukunft bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe und neuer Therapien spielen. KI kann bereits jetzt Vorschläge für Moleküle als Basis für neue Wirkstoffe machen“, gibt Langs Einblick. Er sieht die Herausforderung in der KI-Forschung in diesem Bereich darin, dass KI Beobachtungen in Modelle der biologischen Mechanismen überführen können muss, um damit die Entwicklung neuer ­Behandlungen zu unterstützen oder neue Patientenpopulationen für bestehende Behandlungen zu eruieren.

Letztentscheider bleibt der Mensch!

Was bedeutet es nun für Ärzt:innen und Patient:innen, wenn KI vermehrt Einzug in die Medizin hält? „Das kommt in erster Linie darauf an, welche Rolle die KI jeweils spielt“, meint Maté und erklärt dies an einem ­Modell des Massachusetts Institute of Technology (MIT), das zwischen den Rollen „Werkzeug“, „Assistent“, „Peer“ und „Manager“ unterscheidet: „Derzeit im Einsatz befind­liche ­Anwendungen bewegen sich größtenteils auf den Ebenen Werkzeug und Assistent. In diesen Rollen unterstützen sie etwa ­die ­Radiolog:innen bei der Befundung oder das für das Patientenrekruitment zuständige Studienpersonal bei der Identifikation passender Teilnehmer:innen. Mittelfristig wird allerdings etwa damit gerechnet, dass die Maschinen die radiologische Befundung übernehmen und die Menschen nur mehr die Qualitätskontrolle machen – man spricht dann vom ,Human in the Loop‘.“ Die KI würde damit nach dem MIT-Modell in den Rang eines „Peers“ aufsteigen, was natürlich konkrete Auswirkungen auf das Berufsbild der Radiolog:innen hätte, so Maté weiter.

Langs sieht dies ähnlich: „Dass KI Arbeitsplätze verdrängen wird, ist möglich, dass sie die Arbeit verändern wird, ist sicher – Automatisierung in der Diagnostik wird kommen. Der ganz große Benefit von KI in der Medizin ist aber ein anderer: Wir erreichen durch das Identifizieren neuer Marker und vorhersagekräftiger Muster mehr Qualität in der Diagnose, der ­Therapie und in der Prognose bzw. der Prävention! Und eines darf man zudem auch nicht vergessen: Die Modelle ­machen Vorschläge, aber die Entscheidungen werden von einem Menschen getroffen!“ Aus Sicht der Patient:innen hält Maté eine positive Gesamtentwicklung jedenfalls für wahrscheinlich – mit früheren Diagnosen, wirksameren Therapien und schlankeren Prozessen sowie mit Gesundheitspersonal, das sich – nun freigespielt von administrativen Aufgaben – auf Empathie und Beziehungsmedizin konzentrieren kann. Theoretisch sei natürlich auch denkbar, dass eine KI-Anwendung den kompletten Versorgungsprozess etwa in einem Spital steuert, Aufgaben zuteilt und Abläufe organisiert. „Dann könnte man schon durchaus von einer Rolle als Manager sprechen. Merkmal einer eher dystopischen Entwicklung wäre
in meinen Augen, wenn der Kontakt mit einem Arzt oder einer Ärztin aus Fleisch und Blut zu einem teuren Luxusgut im Versorgungsprozess wird und die Maschinen diesen größtenteils ersetzen. Aber dazu wird es eher nicht kommen“, so Maté.

Keine „Blackbox der Algorithmen“

Für Maté muss die Etablierung von KI-Anwendungen sehr intensiv aus der Datenschutz-Perspektive begleitet werden: „Der derzeit stark gehypten KI-Software ChatGPT des amerikanischen Unternehmens OpenAI werden unter anderem in der Medizin zahlreiche Anwendungen zugetraut. Da der Algorithmus jedoch als Trainingsgrundlage das Internet durchforstet und dabei offenbar auch vor privaten Daten nicht Halt macht, könnte ChatGPT als nicht konform mit der Datenschutz-Grundverordnung eingestuft und in Europa verboten werden.“ Ein weiterer wesentlicher Punkt ist für ihn die Transparenz: „Gerade im Gesundheitsbereich müssen die Schlüsse, die die KI zieht, für die Anwender:innen nachvollziehbar sein. Sonst tauschen wir die Blackbox des menschlichen Körpers gegen die Blackbox der Algorithmen aus.“ In den letzten Jahren, berichtet Maté weiter, war die Aufgabe, eine sogenannte „Explainable AI“, also eine KI, die sich selbst erklärt, zu erschaffen, eine harte Nuss für die Programmierer:innen, „aber die ist mittlerweile geknackt“.

Regularien schaffen

Maté hält einen kritischen Zugang zu einer derart transformativen Technologie für deutlich angebrachter als einen unreflektierten Hype. In seinen Augen ist daher eine medizinbezogene Digitalkompetenz sowohl bei Ärzt:innen als auch bei Patient:innen sehr wichtig. Deshalb braucht es seiner Meinung nach Fortbildungsangebote für Ärzt:innen sowie Aufklärungsplattformen für Patient:innen. „Zudem wird es auch darum gehen, bei Patient:innen und Healthcare Professionals positive Nutzungserlebnisse mit der Technologie zu schaffen. Das ist bei KI natürlich nicht so einfach wie bei anderen digitalen Anwendungen wie z.B. dem e-Rezept, das gerade bei meinen älteren ­Patient:innen regelmäßig für begeisterte Verblüffung sorgt. Aber es ist möglich“, ­unterstreicht Maté.

Auch Langs weiß um die vielen hypothetischen Szenarien, wie KI Schaden anrichten könnte: „Es ist auch durchaus richtig, dass es Gefahren gibt. Diese gilt es zu eruieren und zu minimieren. Die Validierung der Systeme, um sowohl Verlässlichkeit als auch unerwünschte Nebeneffekte wie beispielweise Bias zu erkennen, muss sichergestellt werden.“ Er erinnert daran, dass es, als das Auto erfunden wurde, ebenfalls massive Vorbehalte gab: „Doch es wurden entsprechende Regularien geschaffen und regelmäßig angepasst, um die Sicherheit im Autoverkehr herzustellen und laufend an die ständige Weiterentwicklung anzupassen. Diesen Zugang wünsche ich mir auch bei KI. Denn diese stellt eine starke innovative Kraft dar!“