„Agenda Krebs 2030“: Bemerkenswerter Schulterschluss heimischer OnkologInnen

Aktuell ist Österreich bei der Krebsbehandlung noch weitestgehend eine Insel der Seligen. Alle KrebspatientInnen erhalten rasch und niederschwellig eine State-of-the-art-Betreuung. Die Versorgungsstruktur ist dicht und homogen.
Die Expertise der ÄrztInnen gilt als exzellent, und der interdisziplinäre Austausch zwischen den OnkologInnen funktioniert auf informeller Ebene gut. „Doch um diesen Status quo auch in Zukunft aufrechtzuerhalten, müssen zwingend weitreichende strukturelle Maßnahmen gesetzt werden“, warnt Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie (OeGHO), „denn die Herausforderungen der Zukunft sind immens“.

Drastische Zunahme der Patientenzahl um 40–50 %

Die ÖsterreicherInnen werden immer älter, wodurch die Zahl der Neuerkrankungen steigt. Parallel dazu leben die KrebspatientInnen dank einer guten Diagnostik und innovativer Therapien deutlich länger. Damit erhöht sich die Zahl der Menschen mit Krebs bis 2030 voraussichtlich um 40–50 %. Zudem fordern immer komplexere Behandlungen einen höheren Betreuungsbedarf. Als Folge gehen die onkologischen Fachgesellschaften davon aus, dass das Leistungsangebot für Schwerpunktkrankenhäuser bis 2030 verdoppelt werden muss.
„Gleichzeitig explodiert gleichermaßen das Wissen über Krebs“, betont OA Dr. Christian Schauer, Präsident der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie der OEGGG (AGO). „Alle neun Jahre verdoppeln sich die aktuellen Fachinformationen. Das müssen wir onkologisch tätige Ärzte in der täglichen Praxis bewältigen.“ Zusätzlich gelangt laufend eine Fülle an – teils bahnbrechenden – Innovationen und neuen Methoden auf den Markt.

Drohender Mangel an spezialisierten OnkologInnen

„Dem steht ein drohender dramatischer Ärztemangel gegenüber“, bringt Prim. Univ.-Prof. Dr. Sigurd Lax, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie (ÖGPath), die Problematik auf den Punkt. „Wir sehen uns mit einer Überalterung der bestehenden Ärzteschaft und einer bevorstehenden Pensionierungswelle konfrontiert. Gepaart mit Nachwuchsproblemen könnte das schon in wenigen Jahren zu einem dramatischen Mangel an spezialisierten onkologisch tätigen ÄrztInnen führen.“ Bei den Radio-OnkologInnen und den PathologInnen sei diese Situation bereits eingetreten, so Lax. Außerdem mangle es bereits vielerorts an einer modernen OP-Ausstattung, ergänzt Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Horninger, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Urologie und Andrologie (ÖGU). Das gilt auch für die 24-Stunden-interventionelle Radiologie und die moderne Molekular-Pathologie, die an vielen Zentren ebenfalls fehlt.

Markante Verschlechterung der Versorgung

„All diese Faktoren führen in Kombination bereits zeitnahe zu einer Zuspitzung und einer markanten Verschlechterung der Versorgungslage“, fasst Prim. Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Matthias Zitt, Past-Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Chirurgische Onkologie (ACOASSO), zusammen. Um die Betreuung der heimischen KrebspatientInnen quantitativ und qualitativ weiterhin sicherzustellen, haben deshalb sieben onkologisch fokussierte, medizinische Fachgesellschaften einen bemerkenswerten Schulterschluss gebildet:

  • Österreichische Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie (OeGHO)
  • Österreichische Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie (ÖGPath)
  • Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie der OEGGG (AGO)
  • Österreichische Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP)
  • Österreichische Gesellschaft für Radioonkologie, Radiobiologie und Medizinische Radiophysik (ÖGRO)
  • Österreichische Gesellschaft für Chirurgische Onkologie (ACO-ASSO)
  • Österreichische Gesellschaft für Urologie und Andrologie (ÖGU)

Forderungen für eine onkologische Versorgung der Zukunft

Damit für alle ÖsterreicherInnen weiterhin eine gleichermaßen niederschwellig zugängliche, exzellente Versorgung und somit Chancengleichheit gegeben ist, haben diese sieben Gesellschaften zentrale Forderungen für eine onkologische Versorgung der Zukunft formuliert. Demnach braucht es:

  • eine Nachwuchs-Initiative,
  • eine Aus- und Fortbildungs-Offensive,
  • die Entlastung der ÄrztInnen durch administrative und pflegerische SpezialistInnen (Cancer Nurses, DokumentationsassistentInnen),
  • ein öffentliches Commitment zu klinischen Studien und damit einen frühen Innovationstransfer für die PatientInnen
  • sowie einen Ausbau der Netzwerkstruktur und der Digitalisierung der Medizin.

„Auf einzelnen Gebieten werden von Fachgesellschaften oder Krankenhäusern bereits Initiativen gesetzt, so etwa im Bereich der Digitalisierung“, meint Univ.-Prof. Dr. Peter Schenk, Past-Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP). „Doch das ist zu wenig“, ergänzt Prim. Univ.- Doz. Dr. Alexander De Vries, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Radioonkologie, Radiobiologie und Medizinische Radiophysik (ÖGRO). „Wir brauchen eine nationale Lösung. Nur so kann es gelingen, diesen Schritt in die Zukunft zu meistern. Wir verlangen für Österreich ein ‚Nationales Programm der Digitalisierung der intramuralen Krankenhausversorgung‘.“
„Bei all diesen Punkten sehen wir insbesondere die künftige Bundesregierung gefordert“, so Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe. Gemeinsam mit allen VerfasserInnen des Forderungskatalogs appelliert er: „Wir laden die politischen EntscheidungsträgerInnen ein, mit allen Stakeholdern des Gesundheitssystems in Dialog zu treten und die auf dem Tisch liegenden Probleme rasch und konstruktiv zu lösen. Wir stehen dafür jedenfalls zur Verfügung.“

 

 

Stimmen aus der Pressekonferenz

 

 

Leistungsanforderungen steigen

„Die Lebenserwartung steigt, und nachdem Krebs primär eine Erkrankung des höheren Lebensalters ist, steigt auch die Zahl der Krebserkrankungen und wir haben mehr Patienten zu betreuen. Krebs wird zunehmend beherrschbar, die Zahl der Überlebenden wird größer. Damit steigen die Leistungsanforderungen. Wir gehen davon aus, dass wir das Leistungsangebot in unseren Spitälern bis zum Jahr 2030 verdoppeln müssen. Zusätzlich sind wir heute in den diagnostischen und therapeutischen Fächern mit unglaublich mehr Wissen konfrontiert, das wir beherrschen müssen, als noch vor etwa 10 Jahren. Die Explosion des Wissens in der Onkologie erfordert zeitliche und personelle Ressourcen. Innovation bedeutet aber auch eine zunehmend komplexere Diagnostik und Therapie, für die mehr Geld erforderlich ist. Derzeit steuern wir auf einen Ärztemangel zu, was z. T. mit den Rahmenbedingungen zu tun hat. Junge Kollegen weichen auf andere Länder aus. In Fächern wie der Radioonkologie oder der Molekularpathologie ist es punktuell bereits zu einem dramatischen Personalmangel gekommen. Zudem mangelt es oft an der Ausstattung. Diese ist zwar punktuell sehr gut, aber nicht immer gut genug, um mit der Innovation flächendeckend mithalten zu können.“

Prim. Univ.-Prof. Dr. Sigurd Lax (ÖGPath) 

 


Superspezialisierung

„Wir sind heute imstande, die österreichische Bevölkerung sehr gut zu versorgen. Wenn Krebspatienten heute länger leben, weil Innovation zu den Menschen kommt, dann ist das auch eine Erfolgsgeschichte. Die Frage ist, wie es weitergeht. Wie können wir die Bevölkerung in 5, in 10 Jahren versorgen? Es wird dafür viele Fachrichtungen brauchen. Am Tumorboard im Wilhelminenspital sind heute schon an die 30 Player engagiert, die mittelbar und unmittelbar mit der Onkologie assoziiert sind. Wir haben es mit einer Superspezialisierung zu tun, wenn wir an die zig Subdiagnosen von Bronchialkarzinomen, Sarkomen oder Lymphomen denken. Es braucht Experten für eine adäquate Betreuung. Wird der Zugang weiterhin niederschwellig bleiben oder wird der Patient in Zukunft erst einen Canossagang hinter sich bringen müssen, um beste Expertise und Therapie für seine Erkrankung zu finden?“

Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe (OeGHO)


Gesellschaften in die Gesetzgebung einbinden

„Wir haben uns auf Forderungen geeinigt, die wir an die zukünftige Regierung herantragen wollen. Punkt 1 ist, dass die wissenschaftlichen Gesellschaften in die Gesetzgebung eingebunden werden. Gute Beratung ist wichtig. Wir wissen am besten, dass wir eine Nachwuchsinitiative brauchen und wie wir unsere Kollegen motivieren können. Wir wollen eine Aus- und Fortbildungsoffensive starten, in den einzelnen Gesellschaften, aber auch interdisziplinär, um Kollegen zu motivieren, dass sie in den klinischen Berufen bleiben. Zum klinischen Beruf zählt etwa der spannende Aspekt, an Studien teilzunehmen. Wir müssen an den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen auch teilnehmen. Das heißt aber auch, es braucht ein Commitment für klinische Studien in Österreich, ausgestattet mit finanziellen Mitteln. Entscheidend ist weiters, dass wir Personal im administrativen Bereich benötigen. In der Onkologie im Speziellen und speziell auch im Bereich der Pflege. Psychoonkologie muss verpflichtend etabliert sein. Supervision für betreuende Ärzte muss möglich sein. Was wir dringend brauchen, ist Digitalisierung in der Medizin. Dieses Schlagwort ist zwar in aller Munde, in Wahrheit aber haben wir keine digitalisierte Krankheitsdokumentation. Es beginnt zwar punktuell, wir sind aber deutlich im Hintertreffen. Sechs von zehn fertigen Studenten bleiben in Österreich. Einige finden den Weg in die Onkologie: zu harte Arbeit, zu viele Belastungen, vielfach mit schwierigen Situationen konfrontiert. Wir brauchen eine leistungsorientierte Honorierung im Spital, damit Ärzte auch ohne Zusatzordination gut auskommen können. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen für Rufbereitschaften. Und wir brauchen professionelles Personalmanagement. Was das Fach selbst betrifft, müssen wir über den Tellerrand schauen. Es geht im Zeitalter der genetischen Diagnostik und Molekularbiologie heute nicht mehr um organspezifische Tumorentitäten, sondern zunehmend um Therapien, die fächerübergreifend zum Einsatz kommen und ein spezialisiertes Management benötigen.“

OA Dr. Christian Schauer (AGO)