Die Fallbesprechung in Praxis und Lehre

Fallarbeit als didaktische Methode

Didaktische Methoden haben einen Wandel durchlaufen. Lernende sollen durch Beobachtung, selbstgesteuertes Lernen und eigenständiges Denken aktiv Wissen generieren1. Professionstheoretische Konzepte gehen davon aus, dass der Fallbezug zu professionellem Pflegehandeln gehört. Lehrende und Führungskräfte sehen sich zunehmend mit der Erwartung konfrontiert, systematisch und methodengeleitet mit Fällen zu arbeiten2. Die Stärkung der pflegerischen Kernkompetenzen und der Problemlösefähigkeit durch Fallarbeit gilt als zentrale Anforderung beruflichen Handelns3.

Die Fallbesprechung in der Praxis

Ausgangspunkt der Fallbesprechung ist eine zu interpretierende Situation und die Darstellung der dabei handelnden Personen4. Die kollegiale Beratung folgt einer ähnlichen Struktur5. Aus dem Problem bzw. aus der Fragestellung ergibt sich, ob eine Fallbesprechung im Pflegeteam (monodisziplinär) oder ergänzt durch Expert*innen (multidisziplinär) durchgeführt wird. Die falleinbringende Person stellt den Fall nachvollziehbar und umfassend dar und steht für Fragen der anderen Beteiligten zur Verfügung. Die/der Moderator*in steuert den Prozess und legt die Regeln fest. Dabei wird eine neutrale Haltung eingenommen4. Der moderierenden Person obliegen v. a. das Zeitmanagement, das Festlegen und Einhalten von Kommunikationsregeln, das Sichtbarmachen und Protokollieren wesentlicher Inhalte und Erkenntnisse, die Einbindung aller teilnehmenden Personen, das Einholen von Feedback und die Strukturierung der Fallbesprechung inkl. Einleitung, Anlass, Zusammenfassung sowie das Formulieren des Ergebnisses6. Landwehr (2002) bezeichnet die Fallbesprechung als „Moderierten Erfahrungsaustausch“ oder „Problemlösezirkel“. Probleme am Arbeitsplatz werden mit dem Ziel eines vertieften Verständnisses der Gründe bearbeitet. Dazu wird nach genau vorgegebenen Schritten nach einer adäquaten Lösung für die Herausforderungen gesucht. Im Ablauf des Problemlösezirkels beschreiben die Teilnehmer*innen einen speziellen Fall, mit dem sie sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes beschäftigt haben. Der Fall wird nach einem festgelegten Schema ausführlich erläutert. Danach stellen die übrigen Teilnehmer*innen ergänzende Rückfragen, eine gemeinsame Ursachenanalyse findet statt. Im Plenum wird nach Lösungsmöglichkeiten gesucht und im Anschluss daran werden die Vorschläge bewertet7. Der Ablauf solcher Fallbesprechungen durchläuft drei Hauptphasen. Zunächst erfolgen die Fallbeschreibung und die Entwicklung eines gemeinsamen Gesamtbildes zum entsprechenden Fall. Danach wird der Fall bearbeitet und ausgewertet und mögliche zielführende Maßnahmen werden vereinbart2.
Am Beginn steht eine Darstellung des Falles. Allen teilnehmenden Personen ist es erlaubt, Verständnisfragen zu stellen und die eigene Perspektive einzubringen. Dadurch sind die Problem-erfassung, die Herausarbeitung von Kernaspekten und das Sichtbarmachen von Bedeutungshintergründen und Handlungslogiken gewährleistet. Im nächsten Schritt werden die Kernthemen diskutiert, interpretiert und aus unterschiedlichen Kontexten und Sichtweisen betrachtet. Die Perspektiven werden einander gegenübergestellt und alternative Varianten besprochen. Durch Kontextbefreiung und Perspektivenwechsel sollen dabei theorie- und evidenzgestützt Probleme definiert und vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse Handlungsoptionen herausgearbeitet werden. Der letzte Schritt dient der Beantwortung einer Fragestellung, der Entwicklung einer Lösung für ein Problem, der Definierung eines Phänomens sowie der Formulierung einer Pflegediagnose mit Zielen, Maßnahmen und Evaluierung. Je nach Zweck der Fallbesprechung werden die Ergebnisse dokumentiert. So kann die Wirksamkeit von Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt überprüft werden4.

Klinische Kompetenz als Voraussetzung

Fallbesprechungen erfordern klinische Kompetenz. Diese begründet sich aus dem wechselseitigen Zusammenspiel von Theorie und komplexer Praxis. Praktisch-hermeneutisches Fallverstehen und theoretisches Begründungswissen sind gefordert, da Handlungen in der Pflege nicht zur Gänze standardisiert werden können. Der wichtigste Punkt dabei ist die Entscheidungsfindung mit den Kennzeichen der Wahlmöglichkeit und Unsicherheit. Entscheidungen sind abhängig von der Komplexität der Aufgaben, Störfaktoren, Emotionen, von der Kompetenz der agierenden Person und von institutionellen Bestimmungen4. Eine klinische Entscheidungsfindung und die Entwicklung einer professionellen Pflegepraxis sind ohne kritische Denkprozesse nicht möglich. Sowohl kognitive als auch spezifische Fähigkeiten sind notwendig, um kritisch denken zu können8. Das Einverständnis im Sinne des Zuschreibens eines Sinnes, das Einordnen eines subjektiv erlebten Phänomens in einen größeren Erfahrungs- bzw. Erkenntniskontext, ist dabei essenziell. Die Pflegeperson fungiert dabei als Bindeglied zwischen der individuellen Bedeutung eines Phänomens und der pflegerischen Relevanz3. Um im Einzelfall adäquat und fachlich korrekt entscheiden zu können, ist einerseits subjektive Betroffenheit, andererseits analytische Distanz notwendig4. Darüber hinaus ist ethisch-moralische Kompetenz für die Entscheidungsfindung in der Fallarbeit unerlässlich. Notwendige Entscheidungen stehen nicht immer im Einklang mit der Wahrung der Autonomie der Betroffenen und sind durch unvollständige Informationen beeinflusst. Der wesentliche Punkt dabei ist die stellvertretende Deutung, d. h., für andere zu urteilen, zu entscheiden und zu handeln. Einflussfaktoren sind das Wissen über das Erleben und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die Unmittelbarkeit der Dienstleistung, die Erfordernisse des Augenblicks und die Tatsache, dass irren menschlich ist3, 9, 10.

Die Fallbesprechung in der Lehre

Theoretische Fallbesprechungen sind auch Teil einer von Majeed (2014) durchgeführten deskriptiven Crossover-Studie, in der die Wirksamkeit von vorlesungsbasierter Lehre und fallorientierter Didaktik verglichen wurde. Dabei schnitt den Testergebnissen nach zwar der vorlesungsbasierte Unterricht besser ab, jedoch gaben die Studierenden dem Einsatz der fallbasierten Lehre, bei der auch Gruppendiskussionen zur Fallbesprechung eingesetzt wurden, eindeutig den Vorzug. Die Studierenden gaben an, dass die fallbasierte Methode ihren Wissensstand erhöhte und sie sich auf das bearbeitete Thema besser vorbereitet sahen11. Yoo & Park (2014) beschäftigten sich mit den Auswirkungen von fallbasierter Didaktik auf die Problemlösekompetenz von diplomierten Pflegepersonen. Dazu wurden Videosequenzen von Fällen in einer Fallbesprechung gemeinsam von Proband*innen, im Beisein und unter Führung eines Coaches, erarbeitet. Die problemorientierte Fallbesprechung erhöhte die Problemlösekompetenz der Partizipient*innen signifikant12.

Einsatz der Fallbesprechung

Der Begriff Fallbesprechung verweist auf die Fallarbeit in der Praxis. Fallbesprechungen sind als Instrument der klinischen Arbeit hervorragend geeignet5. Findet die Fallbesprechung als Lehrmethode Anwendung, bedarf es einer umfassenden und schrittweisen Heranführung an diese Vorgehensweise im Unterricht. Dies legen auch die Prüfungsergebnisse Studierender nahe, deren Testresultate nach Fallbesprechungen im Vergleich zu denen ihrer Kommiliton*innen mit vorlesungsbasiertem Unterricht weniger zufriedenstellend waren11. Noch besser für die Lehre geeignet sind Fallmethode und Einzelfallprojekt, welche Entscheidungs-, Analyse- und Problemlösekompetenzen fördern. Auch der Falldialog, der nicht auf unmittelbaren Erlebnissen der Lernenden beruht und hermeneutische und empathische Kompetenz stärkt, bietet sich dafür an13.

Resümee

Durch Wissen, Routine und Erfahrungen lassen sich viele Pflegesituationen bewältigen, jedoch sind nicht alle Sachverhalte und Umstände allein durch klinische Expertise lösbar. Speziell in der onkologischen Pflege können komplexe Situationen Pflegekräfte häufiger an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten bringen.Fallbesprechungen bieten eine Möglichkeit, pflegerische Interventionen in ihren Strukturen nachzuweisen. Sie können das Erleben von Krankheit und Pflege aufzeigen, das Verstehen einer Pflegesituation bzw. deren weiteren Pflegeverlauf beeinflussen und dabei helfen, ungeklärte Fragen zu bearbeiten. Fallbesprechungen sind elementar, um die Qualität der Pflege weiterzuentwickeln. Dafür sind klare und verbindliche Strukturen obligat. Für den Einsatz in der Lehre sind Fallbesprechungen nur bedingt geeignet, da sie klinische Kompetenz voraussetzen. In der Praxis onkologischer Pflegepersonen können sie helfen, komplexe Situationen in all ihren Facetten sichtbar zu machen und so zum Lösen von Problemen entscheidend beitragen.

 

1 Weber A (2007). Problem-based learning. Ein Handbuch für die Ausbildung auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe. Bern: hep (Bildung, Medien, Kommunikation)
2 Hundenborn G (2007). Fallorientierte Didaktik in der Pflege. Grundlagen und Beispiele für Ausbildung und Prüfung. München: Elsevier
3 Schrems B (2018). Verstehende Pflegediagnostik. Grundlagen zum angemessenen Pflegehandeln. Wien: Facultas
4 Schrems B (2019). Fallarbeit in der Pflege. Wien: Facultas
5 Kocks A, Segmüller T & Zegelin A (2012). Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaften e.V. Sektion BIS – Beraten, Informieren, Schulen. Abgerufen am 25.03.2020
6 Wetter I (2018). Das Pflegefachgespräch. In Heering C, Das Pflegevisiten-Buch (276-295). Bern: Hofgrefe
7 Landwehr N (2002). Der dritte Lernort. In Goetze W et al., Pädagogik. Der dritte Lernort: Bildung für die Praxis, Praxis für die Bildung (37-72). Bern: hep Verlag
8 Müller-Staub M (2017). Kritisches Denken. Sich kein X für ein U vormachen. In Panfil E, Wissenschafliches Arbeiten in der Pflege (73-88). Bern: Huber
9 Dörge C (2009). Dienstleistung: „Professionelle Pflege“ – Lippenbekenntnisse oder Handlungswirklichkeit? Hallesche Beiträge zu den Gesundheits- und Pflegewissenschaften 8, 1-18
10 Weidner F (2004). Professionelle Pflegepraxis und Gesundheitsförderung. Eine empirische Untersuchung über Voraussetzungen und Perspektiven des beruflichen Handelns in der Krankenpflege. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag Wissenschaft
11 Majeed F (2014). Effectiveness of case-based teaching of physiology for nursing students. J Taibah Univ Med Sci 289-292. doi:10.1016/j.jtumed.2013.12.005
12 Yoo M & Park J (2014). Effect of case-based learning on the development of graduate nurses`problem-solving ability. Nurse education today, 47-51. doi:10.1016/j.nedt.2013.02.014
13 Steiner E (2004). Erkenntnisentwicklung durch Arbeiten am Fall. Ein Beitrag zur Theorie fallbezogenen Lehrens und Lernens in Professionsausbildungen mit besonderer Berücksichtigung des Semiotischen Pragatismus von Charles Sanders Peirce. Dissertation. Universität Zürich.